Samstag, 18. November 2023

Altgermanische Katasterisationen


Während der altenglische Éarendel bereits zu der Engel glänzendster, zum sicher-wahren Strahl der Sonne geworden ist, schildert die altnordische Aurvandillr-Mythe den Augenblick der Katasterisation eines mythischen Helden, greift damit zu einem wahrhaft universellen mythologischen Motiv. Die altnordische Variante ist lediglich als Mythenabbrevation überliefert, ein Fragment, dem Kontext und Erklärung fehlen. Auch der Versuch, benachbarte Texte und Traditionen zu befragen und so die Lücken zu schließen, verstrickt tief in mythisches Dunkel. Schließlich bleiben mehr Fragen offen als Antworten möglich werden: Der Mythos wahrt sein Geheimnis vor dem analytisch-rationalen Zugriff wissenschaftlicher Neugier.

In der altnordischen Mythologie steht mit der þjazi-Mythe ein direkter Parallelmythos der Aurvandillr-Katasterisation zur Verfügung: Die Snorra-Edda (in Skaldsk.1) erzählt von der Verstirnung der Augen dieses Riesen durch Óðinn, die als Kompensation für dessen Ermordung des Riesen Tochter Skaði gewährt wird. Aurvandillr, den þórr aus Jötunheimr mitbringt, könnte ein anderer Riese gewesen sein, orientiert man sich allein an dem Indiz, dass die Riesin Gróa seine Frau ist. Doch ist dies mythologisch korrekt gedacht? Wahrscheinlich nicht. Besonders augenfällig ist die strukturelle Ähnlichkeit beider Verstirnungen, sodass sich die Frage aufdrängt, ob nicht etwa þórr-Anhänger ihren Gott Óðinn gegenüber aufwerten wollten (oder umgekehrt), und diesen in Fragen Katasterisation durch die Aurvandillr-Episode ebenbürtig machen wollten. Betrachtet man den als Rededuell konzipierten Männervergleich (an. mannjafnaðr), den der Autor der Hárbarðsljóð (Hrbl) zwischen þórr und Óðinn schildert, oder etwa die Episode in der Gautreks saga, in der þórr und Óðinn dem Urzeit-Helden Starkaðr, im zunehmend eskalierenden Wettstreit, sein Schicksal zumessen, ist eine solche auf die Konkurrenz zweier Götter zielende Vermutung nicht ganz abwegig. Der Autor der Hrbl weist die þjazi-Katasterisation ebenfalls þórr zu (Hrbl.19), wobei noch offen ist, ob die relativ junge Quelle hier irrt, oder ob Verstirnungen ursprünglich nicht ohnehin þórrs Aufgabe waren, die Óðinn, wie so vieles andere auch, ursupierte. Heinz Klingenberg weist auf zwei Möglichkeiten hin, wie dieser Streit zwischen Óðinn und þórr entschieden werden könnte:

Sollten wir mythologische Dubletten oder Neuerungen Snorris in Rechnung stellen? Oder begegnen wir übertriebener Prahlerei Thors in gattungstypischer Verzerrung bis zur Unwahrheit?1

Klingenberg entscheidet sich dafür, unter Bezugnahme auf Lokasenna (Ls.50-51), wo auch Loki prahlt, an der Tötung und Verstirnung þjazis maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, þórrs zweiten Großtatbericht þjazi-Tötung (Hrbl.19) als Vortäuschung im Männerwettstreit anzusehen, die seinen ersten Großtatbericht Hrungnir-Tötung (Hrbl.15) weiter steigern soll: Thor überzieht in neuer Dominanzsetzung maßlos.
Jan de Vries bemerkt, kaum überzeugend, eine kultische Verehrung einzelner Sternbilder bei den Germanen sei nirgends bezeugt. Die Frage aber, warum in der norrönen Mythologie die beiden genannten Persönlichkeiten denn sonst als Gestirne an den Himmel versetzt wurden, vermeidet er.2 Schon Jacob Grimm urteilte in seiner Deutschen Mythologie:

Vielseitig greifen die erscheinungen des himmels in den heidnischen glauben ein: nicht nur ist die Wohnung der Götter und der ihnen näher stehenden geister im himmel, und sie vermengen sich mit den sternen, sondern auch irdische wesen, nach ihrer auflösung, werden dahin erhoben, ausgezeichnete Helden (Aurvandillr; HWJ) und riesen (þjazi; H.W.J.) leuchten als gestirne.

Dies doch wohl nur um an die beiden zu erinnern, was dann allerdings einer Verehrung gleichkommt. Katasterisationen sind mythische Motive, die einst als wichtig erachtet wurden. So prahlt Þórr in Hrbl.16: Das ist das mächtigste Mal meiner Taten; das jedermann seitdem sieht, und meint damit die Verstirnung der þjazi-Augen, die er sich anmaßt. Von Earendil, dem Seefahrer auf den Ozeanen des Himmels wissen wir, dass er den Menschen ein Leitstern wurde, der auch die Edain nach Númenor führte (vgl. Akallabêth). Diese beiden eher zufällig tradierten Mythenreste, die von an den Himmel versetzten Körperteilen als Sternbilder berichten, berechtigen anzunehmen, räumt de Vries dann doch noch ein, daß es mehr Sagen dieser Art gegeben hat, als wir aus den Quellen erfahren.3

Neuerdings scheinen archäologische Befunde astronomische Praxis und Interessen der Germanen zu belegen. Erst jüngst titelte Der Spiegel: Der Sternenkult der Ur-Germanen. Die Entdeckung einer versunkenen Hochkultur, und konfrontierte seine Leser mit der These, die Ur-Germanen (Wer ist das?), hätten sich astronomisch betätigt.4 Gestützt ist diese These auf die 3600 Jahre alte Himmelscheibe von Nebra, die im Juli 1999 auf dem Mittelberg im Tal der Unstrut gefunden wurde. Die Scheibe besteht aus einer frühgeschichtlichen Bronzelegierung, auf der die Milchstraße, eine Sonnenbarke, eine partielle Mondfinsternis, gewiss aber 32 Sterne (unter anderen die Plejaden) identifiziert werden konnten. Die Experten scheinen sich vorläufig einig zu sein, dass die Abbildungen auf dem Diskus astronomische Verhältnisse abbilden. De Vries müsste seine Bemerkung bezüglich eines Sternenkults der Germanen heute sicher anders formulieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei diesem spektakulären Fund um das älteste Abbild des Kosmos. Eine germanische Astronomie wurde bereits in der älteren Literatur diskutiert,5 insbesondere bei Otto Sigfrid Reuter, der sich allerdings nicht von den Fesseln einer jahreszeitlichen Interpretation des Aurvandillr-Mythos lösen konnte. Er stand noch ganz unter dem bestimmenden Einfluss der romantischen Autorität Ludwig Uhlands, der postulierte, þórr habe mit Aurvandillr das Frühlingszeichen in seinem Korb transportiert. Reuter stand so unter dem Zwang, eine Konstellation zu finden, die das Frühjahr verkündet, sodass er sich dafür entschied, dass Corona Borealis (Nördliche Krone)7 Aurvandils tá sei. Es ist aber bis heute nicht bekannt, welcher Stern oder welches Sternbild Aurvandils tá wirklich sein könnte. Der Zeh soll den ganzen Orion repräsentieren. Was Orion und Aurvandillr verbindet sind allein das Phänomen der Verstirnung, das beide Helden charakterisiert. Aber auch die Umstände der Katasterisaton des Orion sind nicht ganz geklärt, die entweder auf seine Verfolgung der Plejaden zurückgeht oder auf die Beleidigung der Göttin Artemis, die ihn von einen Skorpion töten ließ. Orion wird dann, je nach Version, zusammen mit den Plejaden oder dem Skorpion an den Himmel versetzt. [7] Interessant ist aber das Motiv seiner von Oinopion herausgerissenen Augen (das þjazi-Schicksal), von denen aber nicht bekannt ist, wohin sie gelangten. Orion erhält sein Augenlicht durch den Strahl der im östlichen Meere aufgehenden Sonne zurück, der er sich zuwendet. Otto Sigfrid Reuter weicht von dieser Vorgabe ab und hält Aurvandils tá und Corona Borealis für identisch. De Santillana und von Dechend kritisieren diesen Vorschlag Reuters als wilde Vermutung. Richard H. Allens Vorschlag, ihn mit beta Orionis (Rigel) zu identifizieren halten Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend allerdings der Diskussion wert.8

Auf der Suche nach Hamlets Mühle fragen De Santillana und von Dechend auch nach dem Sternbild das Aurvandils tá sein könnte und stellen dabei auch die Frage nach der Herkunft der geheimnisvollen Persönlichkeit Horvandillus. Dieser Horvandillus, der altnordische Aurvandillr, auch wenn Paul Hermann dies anzweifelt, beschäftigt als Vater Hamlets (an. Amloði; bei Saxo lat. Amlethus) de Santilliana und von Dechant in einem Appendix zu ihrer Untersuchung.9 In ihren Überlegungen bieten sie provisorische Antworten hinsichtlich der astralen Komponente seiner Mythologie an. In kulturvergleichender Perspektive beantworten sie die Frage, welchen der zahlreichen Sterne des Firmaments die altnordischen Astrologen (Astronomen) einst Aurvandils tá genannt haben könnten.10 Was Saxo Grammaticus im Dritten Buch seiner Dänischen Geschichte nur kurz skizziert, gibt Jacob Grimm im Zusammenhang mit den Namen Orendel / Erentel in seiner Deutschen Mythologie ausführlicher wieder.11 Grimm zitiert auch die Cynewulf-Stelle (Eala Earendel engla beorhtast) mit der er Earendel mit Maria oder Christus als earendel jubar identifiziert.12 Diese Gleichsetzung Earendels mit jubar (ein strahlendes Licht, Glanz), darin sind sich die Experten einig, verweist wiederum auf Venus als den Morgenstern (und damit natürlich auch auf Maria oder Christus) wobei, darauf muss erneut hingewiesen werden, jeder heliakisch aufgehende Stern als Morgenstern wahrgenommen werden kann (beispielsweise auch Merkur oder Mars).13 In christlicher Lesart verkündet Earendil dann irgendeinen Advent, der sich ohne weiteres auf ein altgermanisches Pendant beziehen kann.
Die Argumentation von De Santillana und von Dechend weicht nun von der Venus-Diktion ab, womit die Frage nach Horvandillus-Aurvandillr eine interessante Wende nimmt. Die beiden Autoren erinnern an eine Episode der Odyssee, die von der Ankunft des Helden in Ithaka erzählt:

Als nun der hellste Stern emporstieg, der als der erste
Kommt und das Licht ankündigt, der frühgeborenen Eos,
Kam das meerdurchfahrende Schiff nah hin an die Insel
.14

Zwar könnte auch bei dieser Szene an die Venus gedacht werden, aber de Santillana und von Dechend stellen den hellsten aller Fixsterne, Sirius, zur Diskussion. Die Begründung ihrer Wahl verbindet dann scheinbar Unverbindbares und bringt weiteres Licht in das Geheimnis um Aurvandillr und die Bedeutung seines Namens. Im Zusammenhang mit Grimms earendel jubar und dem Fixstern Sirius wird nun die schon angedeutete Identifizierung von Aurvandillr und Eigill spannend, die Rydbergs Teutonic Mythology vorschlägt, die lohnend ausführlich zitiert werden kann:

This also gives us an explanation of the position of the star-hero Orvandil, the great archer, in the mythological epic. We can understand why he is engaged to the dis of growth Groa, as it is his duty to defend Midgard against the destructions of frost; and why he fights on the Elivagar and in Jotunheim against the same enemies as Thor; and why the mythology has made him and the lord of thunder friends who visit each other. With the tenderness of a father, and with the devotion of a fellow-warrior, the mighty son of Odin bears on his shoulders the weary and cold star-hero over the foggy Elivagar, filled with magic terrors, to place him safe by his own hearth south of this sea after he has honoured him with a token which shall for ever shine on the heavens as a monument of Orvandil's exploits and Thor's friendship for him. In the meantime Groa, Orvandil's wife, stays in Thor's halls.
[...]
But we discover the same bond of hospitality between Thor and Egil. According to Hymiskviða it is in Egil's house, according to Gylfaginning in the house in which Thjalfi is fostered, where the accident to one of Thor's goats happens. In one of the sources the youth whom Thor takes as a ransom is called simply Egil's child; in the other he is called Thjalfi.
[...]
Thus Thjalfi is the archer Egil's and Groa's foster-son, as is apparent from a bringing together of the sources cited. From other sources we have found that Groa is the archer Orvandil's wife. Orvandil dwells near the Elivagar and Thor is his friend, and visits him on his way to and from Jotunheim. These are the evidences of Orvandil's and Egil's identity which lie nearest at hand.15

In seiner zweiten etymologischen Interpretation des Namens Aurvandillr ging Much von den beiden altnordischen Morphemen aurr (Lichtstreif, Lichtstrahl) und –vandill zu vöndr (Stab) aus. Im Zusammenhang mit der von Grimm vorgeschlagenen Bedeutung des Morphems ör-, Pfeil, die auch Uhland akzeptierte,16 und mit der Rydberg auf Eigill hinweist, bekommt auch jubar neben Glanz eine neue Bedeutung: Pfeil (als Strahl).17 Für de Santillana und von Dechend ist dies der Beleg dafür, in Aurvandills tá Sirius zu sehen,

denn es läßt sich kein Pfeil ausfindig machen, der bezüglich mythischer Bedeutung mit Sirius konkurrieren könnte.18

Zusammen mit den mythischen Belegen aus den indoeuropäischen Kulturen, so de Santillana und von Dechend, kann sich Eraendel, der Engel glänzendster, sehr wohl auf Sirius, den Pfeil-Stern, beziehen. Auch die parallele, oben erläuterte Etymologie von aurr in der Bedeutung von feucht, und ear- von Meer, bestätigt diese Lesart, hängt doch der Lauf des Sirius mit dem Kommen und Gehen des Wassers, als Regen oder Flut, zusammen:19

Im babylonischen Neujahrsritual heißt es entsprechend: „Pfeil-Stern, der die Tiefe des Meeres mißt“; das Avesta tradiert: „Tishtriya, durch den die Wasser zählen“. Und wie Tishtriya, „der Pfeil“, den See Vurukasha im Auge hat, so ist der germanische Egil der Wächter des Hwergelmir, eines Wasserstrudels der mythischen Kosmologie, sowie südlich am Eliwagar, wo „die Götter einen ´Vorposten´, einen ´Saeter´ haben, der von kühnen Wächtern bewohnt wird. Im Thorsdrapa 8 werden sie snotrir vikinger genannt -, die durch Eid gebunden den Göttern dienen. Ihr Anführer ist Egil, der berühmteste Bogenschütze der germanischen Mythologie. Als solcher wird er auch Orwendel, derjenige mit dem Pfeil, genannt.20

Unter Astronomen und Astrologen ist es allgemein üblich, Sternbilder aufgrund morphologischer und mythologischer Assoziationen zu benennen: In den Metamorphosen (VIII) berichtet Ovid, dass Bacchus, als Ariadne von Theseus verlassen wurden, ihre Krone an den Himmel warf und die Steine der Krone sich während des Fluges in die Sterne der Corona Borealis verwandelten. Auch von Dionysos ist überliefert, dass er dies nach Ariadnes Tod getan haben soll. Die australischen Aborigines nennen Corona Borealis Woomera (Bumerang), und die Indianer des Rio Negro (nördliches Brasilien) sehen in dem halbkreisförmigen Sternbild ein Gürteltier. Überhaupt gehören die Mythenreste von Katasterisationen, die sich in allen indoeuropäischen Mythologien finden, insbesondere aber im antiken Griechenland und Indien, zu den dunkelsten und am schwersten zu verstehenden Kapiteln mythologischer Interpretation. Selbst Jan de Vries hängt mit seiner Interpretation unausgesprochen der Uhlandschen Diktion des Frühlingsmythus an, die oben schon in Bezug auf O.S. Reuter erwähnt wurde, wenn er folgende Kriterien der Aurvandillr-Mythe für bedeutsam hält.21 Im Wortlaut heißt es dann bei de Vries:

Denn die Berührung zwischen der ae. und an. Tradition verbietet den ersten Zug als sekundär beiseite zu schieben [der Name Earendel - Glanz oder Morgenstern - für einen Stern; Cynewulf verwendet das Wort für Christus; HWJ]; und der zweite bekommt durch die Übereinstimmung mit einem Motiv des Orionmythus [das Motiv, das Auvandillr über einen Fluss getragen wird; vgl. H.J. Rose und R. von Ranke-Graves; HWJ] erhöhte Bedeutung. Daraus ergibt sich eine einfache, aber weitverbreitete Grundform: ein Mythus, wie ein Gott einen anderen über ein Wasser trägt.22

In Märchen tritt das Motiv des geopferten Fingers oder Zehs immer dann auf, wenn es den Übergang in eine andere Welt ermöglicht, wie beispielsweise in Die sieben Raben der Gebrüder Grimm.
Die Éarendel-Belege aus benachbarten germanischen Kulturen sind zahlreich: Éarendel tritt nicht nur in der altenglischen Literatur als strahlender Engel oder Strahl der Sonne auf. Bei Saxo ist er unter dem latinisierten Pseudonym Horvandillus der Vater des Amlethus (Shakespeares Hamlet);23 in Deutschland ist Orendel der Held eines halb legendarischen Spielmannsliedes, das hauptsächlich den Stoff des Goldenermärchens behandelt, das Langobardische kennt den Eigennamen Auriwandalo, das Fränkisch-bayrische Orentil. Jacob Grimms Deutsche Mythologie erschien in der ersten Auflage 1835, und es liegt nahe, anzunehmen, dass Tolkien, der deutsche Texte lesen konnte, in seinem Interesse für alles Germanische, Grimms epochales Werk gekannt hat.24 Im ersten Band der Deutschen Mythologie nennt Jacob Grimm den könig Orendel oder Erentil den ersten aller Helden, die geboren wurden.25 Über Orendel weiß auch er nur mysteriös klingendes zu berichten:

auf der Meerfahrt leidet er schiffbruch, wird bei dem fischermeister Eisen geborgen, erwirbt den ungenähten rock des herrn und nachher frau breide, aller weiber schönste.26

De Santillana und von Dechend greifen Grimms Information über Orendel auf, die an die Odyssee erinnert, ein Zusammenhang, der oben schon angedeutet wurde:

der Schiffbrüchige hält sich an die Diele, gräbt sich ein Loch, hält sich ein Laub vor; selbst der ungenähte Rock kann Inos Binde, der Fischer dem Sauhirt verglichen werden, die Tempelherrn der Breide wären Penelopes Freier, und oft werden Engel, gleich Zeus Boten, entsendet.27

Vieles erinnert aber auch an deutsche Überlieferung, wovon die griechische Sage nichts weiß: so das Legen des Schwertes zwischen die Neuvermählten (vgl. auch Sigurðarkviða in forna). Und besonders der Eigenname, den laut althochdeutscher Urkunden ein bairischer Graf trug oder ein Dorf im Hohenlohischen (Orendelsal; heute: Orendensall). Die Geschichte von Orwendel kommentiert auch Frederick Powell in seinem Kommentar in Eltons Saxo-Übersetzung. Powells Bemerkungen kulminieren in einer Hypothese, die gleichzeitig, wenn auch oberflächlich, den mysteriösen Stern demaskiert, den Snorri Aurvandils tá genannt hat. De Santillana und von Dechend sind auf diese Stelle gestoßen, deren Relevanz für das Thema es erfordert, sie ausführlich zu zitieren:28

Die Geschichte von Orwendel (das Analogon zu Orion dem Jäger) muss hauptsächlich aus der Prosa-Edda zusammen getragen werden. Er war ein Jäger, groß und tapfer genug, um es mit Riesen aufzunehmen. Er war der Freund von Thor, der Ehemann von Groa, der Vater von Swipdag, der Feind des Riesen Coller und des Ungeheuers Sela. Die Geschichte seiner Geburt und seines Erblindens sind in den germanischen Geschichten offensichtlich verloren gegangen, es sei denn, wir nehmen an, daß der Aderlaß Robin Hoods, den die verräterische Priorin solange an ihm vornahm, bis er nicht mehr sehen konnte, das letzte Überbleibsel der Geschichte vom Tod des großen Bogenschützen ist. Dr. Rydberg betrachtet ihn und seine Verwandtschaft als Dubletten dieser drei Helden: Eigil der Schütze, Wieland der Schmied und Finn der Harfenist; und diese wiederum als Dubletten der drei Ur-Künstler, der Söhne Iwaldis, deren Geschichte in der Prosa-Edda erzählt wird.29 Es waren drei Brüder, Söhne des Finnenkönigs: Einer hieß Slagfiðr, ein anderer Egill, der dritte Völundr. Sie liefen Ski und jagten Wild. Sie kamen nach den Wolfstälern und bauten dort ein Haus.30

Es ist hier nicht der Ort, den Vermutungen und den oft linguistisch unhaltbaren Spekulationen Viktor Rybergs kritisch angemessen Raum zu geben. Dennoch ist seine Übersicht über die germanische Mythologie beeindruckend, seine Imaginationsfähigkeit an den Stellen hilfreich, an denen wissenschaftliche Analyse versagt. Wenn Belegstellen fehlen, öffnet allein intuitiver Nachvollzug Wege, die zu verfolgen lohnend sind. Es muss sich noch zeigen, ob Rydbergs Behauptung, Aurvandillr sei Völunds Bruder Eigill, genügend tragfähig ist, um die Identität des Lichtträgers, des leuchtenden Engels und glänzenden Sterns zu klären und zu erläutern, was es mit dieser mythischen Katasterisation auf sich hat, die einst so wichtig gewesen sein muss, dass sie als Mythenabbrevation bis heute erhalten blieb.

Weiter lesen: Vom Urbild des Seefahrers zum Botenstern

Anmerkungen

1 Heinz Klingenberg, Hárbarðzlióð. Individuelles und überindividuelles Erzählen, in: Hermann Reichert und Günter Zimmermann, Helden und Heldensage, Philologica Germanica, Wien, 1990:151-152.
2 De Vries, AGR 1.359-360.
3 De Vries, AGR 2.140.
4 Der Spiegel, Nr.48, 25.11.2002. Vgl. auch: Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen von Europa vor 3500 Jahren, herausgegeben von Harald Meller, Begleitband zur Sonderausstellung, Landesmuseum für Vorgeschichte Halle, 2005.
5 Otto Sigfrid Reuter, Germanische Himmelskunde. Untersuchungen zur Geschichte des Geistes, München, 1934; Richard Hinkley Allen, Star Names. Their Lore and Meaning (bereits 1899 unter dem Titel Star Names and their Meaning), New York, 1963.
6 Ein halbkreisförmiges Sternbild zwischen Herkules und Boötes.
7 Robert Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbeck, 1999:133ff.
8 De Santillana und von Dechend, Hamlet, 341.
9 De Santillana und von Dechend, Hamlet, Appendix 2, 340ff.
10 Frederick Powell streift die Aurvandill-Mythe kurz in seiner Einleitung der Saxo-Übersetzung von Oliver Elton (1894:cxxiii), wobei er sich auf Viktor Rydbergs Interpretation bezieht, die in Aurvandillr den Bodenschützen Eigill sieht (The First Nine Books of the Danish History of Saxo Grammaticus, Translation by Oliver Elton, With Some Considerartions by Frederick Powell, London, 1894).
11 Grimm, Mythologie, Myth Bd.1.310ff.
12 Dort heißt es bezüglich des altenglischen Earendel: o jubar anglorum spendidissime, super orbem terrarum hominibus misse, radie vere solis, supra stellas lucide, qui omni tempore ex te ipso luces (Grimm, Mythologie, Myth Bd.1.311).
13 Vgl. auch den römischen Gelehrten Varro, der von iuba dicitur stella Lucifer spricht (Reuter, Germanische Himmelskunde, 265, 295ff.). Zu jubar vgl. auch Gollancz, Hamlet, xxxvii.
14 Homer, Odyssee, 13.93-95, Übersetzung Roland Hampe, Stuttgart, 1979:212.
15 Rydberg, Teutonic Mythology, Kap.108: Svipdag´s Father Orvandil. Evidence that He is identical with Volund´s Brother Egil.
16 Grimm, Myth Bd.1.311: sagitta. Uhlands Orendel, der mit dem Pfeil operiert.
18 Die Belegstellen für Sirius sind: Sumer, mul KAK.SI.DI, der Pfeil-Stern; Iran, Tishtriya, die Sterne Argo und Canis Mayor (Sumer, mul BAN); derselbe Pfeil auch im alten China (zielt auf Sirius, den himmlischen Wolf oder Schakal) und alten Ägypten auf den Kopf der Sothis-Kuh – wieder Sirius. In Indien ist Sirius ein Bodenschütze, sein Pfeil bilden Sterne im Gürtel des Orion (De Santillana und von Dechend, Hamlet, 343).
19 Ausführlicher zu Sirius und den Wassern aus der Tiefe siehe De Santillana und von Dechend, Hamlet, 197-198.
20 De Santillana und von Dechend, Hamlet, 344 (die Autoren paraphrasieren Rydberg, Teutonic Mythology, 424ff.; 968ff.).
21 De Vries, AGR 2.137ff.
22 Vgl. de Vries, AGR 1, Anm. 1:137-138.
23 Saxo, Drittes Buch, 85-87 und 137-141. Vgl. auch Hermanns Kommentar zu Horvendillus. Hermann teilt aber wenig Aufklärendes zu dessen Person und mythologischer Funktion mit. Er ist aber der Meinung, dass Horvendillus nichts, außer dem Namen mit Aurvandill oder dem deutschen Orendel gemeinsam hat, fragt allerdings, ob nicht des deutschen Orendel Kühnheit – audacia – an ins frækna des Aurvandill erinnert. Ansonsten schildert Hermann breit und umfänglich die Holmgangr-Episode zwischen Horvendillus und Koller, die den Hauptteil der Mythe ausmacht, und die das Vorspiel für Amlethus (Hamlets) Vaterrache abgibt (Heldensagen, 245-248).
24 Grimm, Mythologie. Auch Randel Helms vermutet, dass Tolkiens bei seinen Forschungen in den Jahren nach 1913 auf die althochdeutschen Geschichten um Orendel und Erentil (ahd. für Éarendel) aufmerksam wurde (Helms, Silmarille, 10)
25 Grimm, Myth, 1.310.
26 Grimm, Myth, 1.310.
27 De Santillana und von Dechend, Hamlet, 340.
28 The First Nine Books of the Danish History of Saxo Grammaticus, trslt. by Oliver Elton, with some considerations by Frederick Powell, London, 1894.
29 Powell zitiert nach: de Santillana und von Dechant, Hamlet, 340-341.
30 Bræður vóru þrír, synir Finnakonungs. Hét einn Slagfiður, annar Egill, þriðji Völundur. Þeir skriðu og veiddu dýr. Þeir kómu í Úlfdali og gerðu sér það hús (Etext: Völundarkviða, Frá Völundi, Prosa-Einleitung).

Weiter lesen: Vom Urbild des Seefahrers zum Botenstern

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