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Montag, 14. Oktober 2024

Willkommen im Weblog Grüne Sonnen


Wenn wir bedenken, dass wir alle
verrückt sind, ist das Leben erklärt.

Mark Twain

Wenn wir lesen, erfreuen wir uns nicht nur an den Worten des Autors, wir kommunizieren mit seinem Verstand (Martin Amis, The War Against Cliché, 2001). Geht es dabei um Phantastische Literatur, um Fantasy, dann nehmen wir an seinen Träumen, Visionen und an seiner Imagination teil. Aber auch an seiner Originalität, seiner Weltsicht und in gewisser Weise auch an seiner Ver-Rücktheit. Wie Tassen, die in einem Schrank aus ihrer Ordnung gerückt werden, so verrücken Autor*innen phantastischer Texte die Perspektive des Lesers auf dessen Realität und Gegenwart. Da Träume und Visionen ins Unendliche reichen, sind die Gründe der Fantasie nur dort unauslotbar.

Erzählungen der Fantasy-Literatur handeln von uns allen. Die Autor*innen phantastischer Texte ergreifen in ihnen die Gelegenheit, das, was eine historische Realität nicht tradiert, zu ergänzen, Mythenabbrevationen auszuformulieren oder für unmöglich Gehaltenes, magisch zu inszenieren und zu erklären. Fantasy-Texte behandeln die andere Seite der Vernunft, spiegeln Themen, die archetypisch, magisch und innerpsychisch verortet sind. Die Welt der Träume, Visionen, Wünsche und Passiones, die Atmosphären des Unheimlichen und Erschreckenden, des Numinosen und Spirituellen. Fantasy-Autoren*innen erzählen in ihren Texten von der anderen Seite des Menschen, die in den Schatten des Rationalismus und Materialismus der Aufklärung und der Tyrannei des Verstandes geraten ist. Sie verhelfen einer sekundären Realität zurück in die Wahrnehmung, indem sie einen Gegenentwurf zu aktuellen persönlichen, sozialen und politischen Themen in einer literarischen Form präsentieren, die aus Unbewusstem schöpft und an Unbewusstes appelliert.

Donnerstag, 10. Oktober 2024

Die Shaod - Koevolution von Leiden und Heilen


Mit der Shaod und den Elantriern thematisiert Brandon Sanderson in seiner Novelle Elantris Fragen nach Göttlichkeit, Erlösung, Leiden und menschlicher Autonomie. Während die Shaod einst als göttliche Transformation angesehen wurde, stellt ihre Korruption zu Beginn des Romans den Glauben an die göttliche Unfehlbarkeit in Frage. Damit eröffnet er eine Diskussion über den Sinn des Leidens und den Weg zur Erlösung. In Elantris stellt er den Glauben an das Göttliche der Kraft von Wissen, Vernunft und menschlicher Handlungsfähigkeit gegenüber, wobei die Wiederherstellung der Stadt Elantris durch Raoden als Symbol für das Potenzial des Menschen gelesen werden kann, Erlösung und Transzendenz zu erlangen.1

Man nannte es die Shaod. Die Verwandlung. Sie ereilte die Menschen willkürlich - gewöhnlich des Nachts, während der geheimnisvollen Stunden, in denen das Leben langsam zur Ruhe kommt. Die Shaod konnte einen Bettler, einen Handwerker, einen Adeligen oder einen Krieger treffen. Wenn sie sich ereignete, endete das Leben des Glücklichen und ein neues begann; er streifte seine alte, profane Existenz ab und zog nach Elantris (E, 9).

Montag, 9. September 2024

Re-read Elantris


Vorbemerkung

Elantris ist eine der Cosmere-Erzählungen, die Brandon Sanderson im Planetensystem Sel angesiedelt hat, in dessen Zentrum der gleichnamige Planet steht.1 Sel ist Heimat to multiple empires that, uniquely, have remained somewhat ignorant of one another. It is a willful kind of ignorance, with each of the three great domains pretending that the others are mere blips on the map, barely worth notice. Zwei Splitter (shards) des ursprünglichen Adonalsiums, Dominion (Herrschaft) und Devotion (Hingabe), haben großen Einfluss auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften auf Sel, und die meisten Traditionen und Religionen lassen sich auf diese beiden Splitter zurückführen. Elantris ist nicht die einzige Cosmere-Erzählung, für deren Geschehen Sel die Bühne ist.2 2012 veröffentlichte Sanderson eine Novelle, The Emperor`s Soul, die ich in einem eigenen Blogbeitrag besprechen werde. In der Anthologie Arcanum Unbound erschien dann 2016 die dritte Cosmere-Erzählung, The Hope of Elantris, für deren Geschehen Sel ebenfalls die Bühne ist. Das Geschehen dieser Kurzgeschichte ereignet sich während des finalen Angriffs von Hrathens Truppen, den Derethi, auf Elantris. Sanderson erzählt, wie ein junges Mädchen durch Hoffnung und Entschlossenheit ihre Gemeinschaft inspiriert, auf Prinz Raodens Eingreifen zu warten, damit dieser mit magischen Kräften den Angriff abwehrt und Elantris rettet: eine Erzählung von Hoffnung und Mut in einer scheinbar aussichtslosen Situation.

Brandon Sandersons Cosmere-Debut

Elantris ist Brandon Sandersons erzählerisches Cosmere-Debut, der Kontinent Arelon die erste fiktionale Welt in diesem Universum. Als Genre betrachtet, gehört Elantris zur High Fantasy, und nach Farah Mendlesohns Rhetorics zur Kategorie der portal quest oder immersive fantasy.3 Elantris ist eine Stadt in Arelon, Kae ein Königreich in einer Sekundärwelt. Insofern ist Elantris als Genre auch eine secundary world fantasy, die in einer vollständig fiktionalen Welt spielt, die eigene Regeln, Kulturen und ein Magiesystem besitzt. Die Stadt Elantris und das Königreich Arelon existieren in einer komplexen, magischen Welt, die von Brandon Sandersons Cosmere-Worldbuilding geprägt ist (immersive fantasy). Sandersons Cosmere ist ein ambitioniertes, übergreifendes Konzept, das seine sekundären Welten, mehrere verschiedenen Planeten mit eigener Kultur und Geschichte verbindet, die alle Teile eines gemeinsamen Universums sind. Jeder dieser Planeten hat ein eigenes Magiesystem (Investitur), das auf den grundlegenden Prinzipien des Cosmere basiert.4

Donnerstag, 5. September 2024

Mein Name ist Kvothe!


Aber gerade ihr solltet doch im Klaren sein, wie schmal der Grat ist,
der die Wahrheit von einer überzeugenden Lüge trennt.
Die historische Wahrheit von einer unterhaltenden Geschichte

Kote in Der Name des Windes.1

Die Konstruktion postmoderner Fantasy in Patrick Rothfuss` Königsmörder-Chronik

Die Königsmörder-Chronik von Patrick Rothfuss ist eine epische Fantasy-Romanreihe, die neuerdings in drei Romanen und zwei Novellen vorliegt: Der Name des Windes (2007; The Name of the Wind) und Die Furcht des Weisen (2011; The Wise Man's Fear). Mittlerweile gibt es vier Spin-offs der Königsmörder-Chronik: die drei Novellen The Lightning Tree (in George R. R. Martin and Gardner Dozois (ed.), Rogues, 2014), Die Musik der Stille (2015; The Slow Regard of Silent Things [2014]) sowie Der Weg der Wünsche (2023; The Narrow Road Between Desires), die das Schicksal der Nebenfiguren Bast oder Auri weiterverfolgen, sowie die Kurzgeschichte How Old Holly Came To Be (in Shawn Speakman, Unfettered 2013).
In den primären Erzähltexten steht Kote-Kvothe im Zentrum, ein legendärer Magier, Musiker und Abenteurer, der seine Lebensgeschichte im Gasthaus am Wegstein einem reisenden Chronisten erzählt. Die Romanstruktur und die Erzählperspektiven bieten interessante Einblicke in die Art und Weise, wie Autoren Phantastischer Literatur ihre Erzähltexte konstruieren. Das erzähltextanalytische Instrumentarium von Franz K. Stanzel und Gérard Genette, das ich in meiner Studie anwenden werde, bildet einen ausgezeichneten Werkzeugkasten für einen Blick hinter die Kulissen einer populären Fantasy-Serie.*

* Vgl.a. Herbert W. Jardner, Die Konstruktion sekundärer Welten, Blogbeitrag Grüne Sonnen, 2023.

Seit den 1950er Jahren wurde es zunehmend üblich, dass erfolgreiche Fantasy-Autoren ein strukturelles, narratives Mittel wieder verwenden, das Erzähler schon im Mittelalter entwickelt hatten – die Technik des Interlacement (entrelacement).2 In die moderne Fantasy-Literatur eingeführt haben diese Technik insbesondere Autoren wie J.R.R. Tolkien für sein epochales Werk The Lord of The Rings sowie in dessen Nachfolge Robert Jordan in The Wheel of Time. Im Gegensatz zu den Erzähltexten der heroischen Fantasy sowie der sword and sorcery, die mehrheitlich einem linear-progressiven Diskurs folgen, auf dem sich Reflektorfiguren (POV) auf einem Zeitstrahl bewegen, orientiert sich die epische high fantasy an der Tradition von Werken mit einer breiteren Perspektive und komplexen, in mehrere parallele Erzählstränge gebündelte Plots. Neuerdings hat G.R.R. Martin in seinem Epos A Song Of Ice And Fire diese literarischen Instrumente im Rahmen seiner realistic oder historical fantasy virtuos vorgeführt, und für sein Interlacement-Konzept jeweils eigene, perfekt korrespondierende Point-of-View-Charaktere entwickelt.3 Diese beiden narrativen Mittel markieren mittlerweile den Unterschied zwischen dem talentierten, kreativen Autor und dem vielgelesenen und publizistisch erfolgreichen Autor.

Patrick Rothfuss schlägt in seinem mehrbändigen Debüt der Königsmörder-Chronik einen anderen Weg ein, den er allerdings nicht als erster ging.4

Dienstag, 3. September 2024

Ein postapokalyptischer Roadtrip


Cormac McCarthy probt in Die Straße das Ende der Menschheit

Am Rande der Nacht liegen die
Ländereien dieses Erzählers, an der
Grenze zur allumfassenden Dunkelheit.

Süddeutsche Zeitung

Vorbemerkung

Cormac McCarthys Roman Die Straße ist ein düsterer, minimalistischer postapokalyptischer Roman expressionistischer Manier, inhaltlich provokativ und erzähltechnisch elaboriert mit einem Mix interessanter narrativer Strategien, sie tief ins Bewusstsein seiner Leser*innen greifen. McCarthys Roman führt ihnen vor, auf welcher Straße die Menschheit unterwegs ist, was mit ihren sozialen Beziehungen und der ökologischen Stabilität ihres Planeten geschehen wird, wenn es ihr nicht gelingt, ihre Habgier nach Macht und Geld sowie ihren maßlosen Konsum zu beherrschen. Ulrich Greiner nennt McCarthy, als sein Roman Die Straße in Deutschland erschien, den merkwürdigsten Einsiedler der amerikanischen Literatur. Sein Werk ist der geistige Wallfahrtsort aller untergangsseligen Fantasten. Sehr suggestiv, in der Tat, sehr unheimlich und ziemlich verdächtig. Monströs nennt er McCarthys Roman, aber nicht monströser als die Realität. Die globale Katastrophe ist seit Erfindung der Atombombe möglich. Beim Lesen seines Selbstgesprächs schleicht sich schließlich doch der Verdacht ein, dass Greiner die Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Planeten und der Lebensgrundlage der Menschheit als Fiktion betrachtet, gleichgültig ob durch eine nukleare oder eine Klimakatastrophe. Vielleicht würde er McCarthys Roman in einer Zeit, in der Menschen verzweifelt genug sind, und sich auf Verkehrskreuzungen und Start- und Landebahnen festkleben, anders bewerten.1

Samstag, 31. August 2024

Das Böse als Erzählfigur der Phantastik: Worldbuilding

Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane Die Trilogie des Nebels und Marina, Teil Zwei


. . . das Schloss, ein kathedralartiges Hirngespinst, Ausgeburt
einer überspannten, gequälten Phantasie . . . glich allmählich
einem in den Stein gehauenen, klaustrophobischen Schlund.

Carlos Ruiz Zafón


Vorbemerkung

Wer von einer Lektüre mehr erwartet als genüsslich spannende Unterhaltung, worin auch ihr eigentlicher Sinn besteht, mehr als bloßen Konsum dessen, was Autor*innen in monatelanger Arbeit in ihrer Fantasie konstruiert und auf hunderten Buchseiten inszeniert haben, findet einen besonderen Zugang zu einer Erzählung. Wer sich aufmacht, tiefer in die narrative Welt der Erzählfiguren einzutauchen, muss sich mit der erzählten Zeit und der erzählten Welt, dem Wordbuilding der Erzählung beschäftigen, die ihn eben erst verzaubert hat. Und besonders muss er die Figuren der erzählten Welt näher kennenlernen, die nicht mit dem Autor oder der Autorin, aus deren Fantasie und Feder die Erzählung floss, identisch sind. Es sind die Erzählfiguren, die dem Worldbuilding einer Geschichte Leben einhauchen. Mit ihnen steht oder fällt jede Erzählung. Um die Orte des Bösen und deren Atmosphäre in der Trilogie des Nebels näher zu bestimmen, beschränke ich mich in meinen Ausführungen auf diese beiden Phänomene, die Zafóns Romanen ihre innere Struktur verleihen:

  • Einerseits sind das die Orte des Geschehens, denen eine spezifische Atmosphäre anhaftet, die sich in der Trilogie als Nicht-Orte manifestieren, wenn das Böse sie besetzt: Spukhäuser, Ruinen, verwilderte oder verlassene, abgelegene unheimliche Lost Places jeglicher Couleur als Rückzugsgebiete des Bösen.
  • Andererseits die Manifestation dieser Atmosphären an den Nicht-Orten der Trilogie, den Antagonisten, die wie reale Personen auftreten, auf die ich im dritten Teil dieser Untersuchung eingehen werde.

Donnerstag, 22. August 2024

Das Böse als Erzählfigur der Phantastik: Einleitung

Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane Die Trilogie des Nebels und Marina, Teil Eins


Sie wusste, dass die Schatten der großen Stadt
sie hier nicht erreichen konnten, doch die
Erinnerungen ließen sich nicht aufhalten.

Carlos Ruiz Zafón

Vorbemerkung

Liebhabern von Carlos Ruiz Zafóns Tetralogie Der Friedhof der vergessenen Bücher (El Cementerio de los Libros Olvidados) kommt es nicht gleich in den Sinn, dass Zafón seine Karriere als Autor mit vier fiktionalen Jugendromanen (young adult fiction) begann, deren Thema und Inhalt oberflächlich betrachtet nichts mit dem Werk zu tun haben, mit dem er berühmt wurde. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn beide Serien teilen die Vorliebe des Autors für mysteriöse Orte und düstere Atmosphären, der mit seiner Melange aus Grusel und Mystik sowie Detektiv- und Abenteuergeschichten seine Leser*innen verzaubert.

Samstag, 6. Januar 2024

The Fall of Arthur - Tolkien News 2


Das Versepos The Fall of Arthur ist ein unvollendetes Gedicht J.R.R. Tolkiens, das Versmaß des altenglischen Beowulf imitierend, aber in modernem Englisch verfasst. 2013 hat Tolkiens Sohn Christopher dieses Gedicht postum herausgegeben. Es überliefert die letzten Tage aus dem Sagenkreis von Britanniens legendären Held, König Arthur. Atmosphärisch, in Form und Inhalt, wirkt das quasi-historische Setting des Gedichts mittelalterlich fiktiv.
In fast 1000, nach altenglischem Modell gebildeten, alliterierenden Versen, die in fünf Gesängen geordnet sind, erzählt Tolkien von den letzten Tagen des legendären Britenkönigs.
Wie schon zuvor in der Legende von Sigurd und Gudrún hat Christopher Tolkien auch diese Dichtung aus dem Nachlass seines Vaters mit Erläuterungen und einem Anhang zur altenglischen Dichtkunst versehen, der einen weiteren Vortrag J.R.R. Tolkiens zugänglich macht.
Christopher Tolkien schreibt in seinem Kommentar zu Arthurs Fall: It is well known that a prominent strain in my father’s poetry was his abiding love for the old ‚Northern‘ alliterative verse. In Sir Gawain and the Green Knight he displayed his skill in his rendering of the alliterative verse of the 14th century into the same metre in modern English. To these is now added his unfinished and unpublished poem The Fall of Arthur.

Dienstag, 12. Dezember 2023

A Feast For Crows


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Feast For Crows [AFFC], Vol.4: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung: Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Zeit der Krähen, 2006 [LEF 4.1]
Die dunkle Königin, 2006 [LEF 4.2]

Vorbemerkung

A Feast for Crows [AFFC] ist das vierte der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bücher publiziert sind. Wie auch für die drei vorausgegangenen Bände des Epos ASOIAF erhielt auch AFFC mehrere Nominierungen, aber keine Auszeichnung:

  • eine Hugo Award-Nominierung als bester Roman, 2006,
  • eine British Fantasy Award-Nominierung als bester Roman, 2006 sowie
  • eine Quill Award-Nominierung als bester Science Fiction und Fantasyroman, 2006.

AFFC ist der erste Roman der LEF-Reihe, der es an die Spitze der New-York-Times-Bestsellerliste schaffte, etwas Besonderes unter Fantasyautoren, das vorher nur David Eddings, Robert Jordan und Neil Gaiman gelang. Der Publikation des vierten Bandes des LEF ging die Veröffentlichung der Erzählung Arms of the Kraken (in Dragon Magazine, 08.2002) voraus, die auf den ersten vier Eiseninsel-Kapiteln von AFFC basiert und zusammenfasst, was sich dort ereignet:

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Earendils letzte Fahrt


In der letzten poetischen Version seines literarischen Lebensthemas schildert Tolkien Earendils Passage durch das Tor der Nacht. Christopher Tolkien nimmt an, und dies deckt sich mit meinem Eindruck, dass dieses Gedicht allen Abrissen und Notizen zum Earendil-Motiv vorausging. Wie sich weiter zeigen wird, enthält es bereits alle Merkmale der Märchensaga Earendil, die auch in ihrer weiteren Bearbeitung durch Tolkiens kontinuierliche Umdichtungen und Neuerfindungen dieser Erzählung weder an poetischer Dichte noch an narrativer Qualität verlieren konnte.

Mittwoch, 29. November 2023

Vom Urbild des Seefahrers zum Botenstern


Der letzte bedeutende Einfluss, den Tolkien für die Konzeption seiner Earendil-Gestalt nutzte, stammt aus William Morris Erzählungen The Earthly Paradise und The House of the Wolfings sowie aus dessen altnordischer Quelle, der Völsunga saga.1 Im Frühjahr 1914 gewann Tolkien den Skeat-Preis für Englisch, den sein College verlieh, und von diesem Gewinn kaufte er die erwähnten Morris-Bücher. Seine Begeisterung für William Morris führte zu Tolkiens ersten eigenen narrativen Experimenten: In dem schwer mit Archaismen und poetischen Wort Umstellungen überfrachteten Stil seines Vorbilds, im Bestreben, die Atmosphäre einer alten Mythe nachzudichten, gestaltete er die erst neuerdings unveröffentlichte Kullervo-Episode der finnischen Kalevala nach, eine Vers- und Prosa-Tragödie ganz im Sinne der Morris-Vorlage The House of the Wolfings. Die Geschichte des hapless Kullervos, eines vom Unglück verfolgten Mannes, der unwissentlich Inzest begeht und sich schließlich verzweifelt selbst in sein Schwert stürzt, wird zur Keimzelle, einer anderen der frühen Verschollenen Geschichten, der von Túrin Turambar und seiner Schwester Niënor alias Niniël.2 Es ist gut vorstellbar, auf welche Weise diese Meilensteine phantastischer Literatur die Fantasie und Imaginationskraft des jungen Tolkien entzündet haben muss.

Samstag, 18. November 2023

Altgermanische Katasterisationen


Während der altenglische Éarendel bereits zu der Engel glänzendster, zum sicher-wahren Strahl der Sonne geworden ist, schildert die altnordische Aurvandillr-Mythe den Augenblick der Katasterisation eines mythischen Helden, greift damit zu einem wahrhaft universellen mythologischen Motiv. Die altnordische Variante ist lediglich als Mythenabbrevation überliefert, ein Fragment, dem Kontext und Erklärung fehlen. Auch der Versuch, benachbarte Texte und Traditionen zu befragen und so die Lücken zu schließen, verstrickt tief in mythisches Dunkel. Schließlich bleiben mehr Fragen offen als Antworten möglich werden: Der Mythos wahrt sein Geheimnis vor dem analytisch-rationalen Zugriff wissenschaftlicher Neugier.

Freitag, 3. November 2023

Die semantische Ambivalenz von altnordisch aurr


Die Namen Éarendel und Aurvandillr sind semantisch identisch, es sind die Namen einer bedeutenden mythischen Persönlichkeit in unterschiedlichem Sprachkostüm.
Die ersten etymologischen Bemühungen von Rudolf Much, der zuerst von an. aurr, Gold, ausging und als Bedeutung der glänzende Wandale (*Auza-wandilaz) vorschlug, brachte ihm viel Kritik, kaum aber wissenschaftliche Klarheit in das Aurvandillr-Problem ein.1 Semantisch einleuchtender ist dagegen Muchs spätere Deutung (1926), Lichtstreif, Lichtstrahl (an. aurr, Gold; an. –vandill zu vöndr, Stab), denn diese Deutung passt viel besser zu einer Astralmythe, die der Aurvandillr-Mythos schließlich suggeriert. Viel geklärt, da anfechtbar, war mit dieser Etymologie aber immer noch nichts.2 Tolkien könnte die etymologischen Spekulationen Muchs gekannt, vielleicht sogar geteilt haben, kreist doch sein Earendil um die Phänomene Glanz und Licht. Insbesondere die strahlende Qualität des Lichtes faszinierte Tolkien, wie Verlyn Fliegers Untersuchung belegt hat, die darauf hinweist, dass Tolkiens ganze Silmarillion-Mythologie auf der Spannung von Wort und Licht beruht.3

Muchs einseitige Priorisierung des altnordischen Lexems aurr als Reflex eines leuchtenden Phänomens, denn dahin zielen seine beiden Deutungen, ist nicht unproblematisch, denn aurr ist semantisch ambivalent.
Jan de Vries denkt im Zusammenhang mit an. aurr in erster lexikalischer Position an:4

  • mit Stein untermischter Sand;
  • Feuchtigkeit, Nässe.5

Mit dieser Bedeutung öffnet de Vries eine Tür, hinter der weitere mysteriöse Mythen warten, deren Interpretation ähnliche Schwierigkeiten machen wie die Aurvandillr-Episode. Eddische Dichtungen scheinen die von de Vries bevorzugte Bedeutung zu bestätigen. Gustav Neckel und Hans Kuhn geben aurr, nasse, schmutzige erde (Ghv.16, Rþ.10, Grt.16); auch bezeichnung der erde (Alv.10).5 In Völuspá 19 (Vsp) steht hvítaauri6 im Zusammenhang mit der Weltachse Yggdrasil, die von weißem nass7 benetzt wird, der als Tau in die Täler fällt. In der entsprechenden Strophe der Vsp. heißt es:

Donnerstag, 26. Oktober 2023

Earendil in der altgermanischen Kultur


[...] das Unvergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr,
und, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.

Richard Wagner

Auf einen dieser mysteriösen, ihn eigenartig berührenden Namen stieß Tolkien schon sehr früh, noch während seiner Tätigkeit als Hochschullehrer in Oxford (1913), im Zusammenhang seiner Studien altenglischer und altnordischer Sprachen an der Honour School of English Language and Literature. Verlyn Flieger fasst die Bedeutung dieses Moments für Tolkiens Werk in wenigen Worten zusammen, wenn sie auch darin irrt, dass Earendil the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction ist, eine Rolle, die auch Frodo Beutlin für sich in Anspruch nehmen kann:

No one familiar with Tolkien´s mythos could mistake the importance of the name Earendel or miss its pervasive presence deep in the fabric of his comology. [...] Earendel is, of course, the half-Elv half-Man savior figure from The Silmarillion who sailed his ship to Valinor in order to plead with the Valar for the rescue of Elves and Men. The resonance of the figure developed over time and underwent considerable change, yet he stands out as the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction.1

In ihrer Studie kommt Verlyn Flieger hinsichtlich der Herkunft des altenglischen Namens Éarendel und dessen Bedeutung für Tolkien zu einer eher pessimistischen Auffassung: But why the name itself was so important and what precisely it meant to Tolkien has never been made clear, perhaps even to him.2 Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist auch, diese Hypothese zu hinterfragen.

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Earendil: Synopsis einer Märchensaga


Es war im Grunde der Anfang von Tolkiens Mythologie.
Humphrey Carpenter

Wie Humphrey Carpenter treffend bemerkt, legte die Persönlichkeit Earendils zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Keim für eine fiktive Mythologie. Earendil ist Tolkiens Figur, der die Rolle übernahm, die Nordische Traumzeit in einer miniaturisierten Eschatologie zu beenden.1 Vorbereitet durch die mythische Funktion Earendils übernehmen die Menschen, die Edain, die Herrschaft über Tolkiens Kosmos Mittelerde. Die unter den Sternen Mittelerdes, in Cuiviénen, an den Wassern des Erwachens, noch vor dem Aufgang von Sonne und Mond, erwachten Eldar (Elben), konnten die primordiale Schönheit der Sternennächte ihrer ersten Tage in den Großen Landen aber nie ganz vergessen. Sie gossen diese Sehnsucht, poetisch formuliert, in einen ihrer schönsten Segensgrüße: Aiya Earendil Elenion ancalima,2 durch den, einem geheimen Kode ähnlich, Mitglieder sozial und politisch verbündeter Kulturen einander erkennen. Earendil begegnet den Leser*innen des Herrn der Ringe zum ersten Mal in Band Eins, Elftes Kapitel von Die Gefährten: Aragorn erzählt den Hobbits, die am Fuß der Wetterspitze lagern, und von Furcht vor den Schwarzen Reitern ergriffen sind, aus den Geschichten der Ältesten Tagen Mittelerdes, und zitiert aus der Genealogie Berens:

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Earendil: Mythos oder Märchensaga?


Ich weiß nicht mehr, wer gesagt hat, Schöpfung sei Erinnern.
Meine eigenen Erfahrungen, und das, was ich gelesen habe,
bleiben mir im Gedächtnis und bilden die Grundlage für
meine schöpferische Arbeit.
Aus dem Nichts heraus kann ich nichts schaffen
.
Akira Kurosawa

Einleitung

Die Earendil-Saga gehört zu den Erzählungen der Älteren Tage (The Legends of the Elder Days), an denen John Ronald Reuel Tolkien lebenslang arbeitete. Diese Sammlung von mythischen Erzählungen und Sagas liegen in drei, im Detail doch sehr verschiedenen Sammlungen vor, die er immer wieder überarbeitet und revidiert, und so weiter entwickelt hat.1 Diese drei Sammlungen von fiktionalen Erzählungen wuchsen aus einer einzigen Wurzel, aus Tolkien Faszination und Begeisterung die altenglische und altnordische Literatur, generell für die altgermanischen Kulturen. Daneben beflügelte die Mythologie Finnlands, in Form der Kalevala-Edition von Elias Lönnrot, Tolkiens Fantasie, und beeinflusste sein Denken über Mythologie. In der Auseinandersetzung mit diesen frühgeschichtlichen, europäischen Kulturen verfasste Tolkien zwei Fassungen seiner Mythologie:

  • die in zwei Bänden zuammengestellten Erzählungen in The Book of Lost Tales (dt. Das Buch der Verschollenen Geschichten), und
  • die verschiedenen Versionen der Quenta Silmarillion, in denen er die Verschollenen Geschichten aufgriff und weiterentwickelte, ohne sie abschließen zu können.2

Sonntag, 15. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Fazit


Die Natur braucht uns nicht
aber wir brauchen die Natur.

Günter Eich

Die Beziehung des Waldläufers zu seiner natürlichen Umwelt ist durch seine psychiche Verbindung zu seinen beiden Vögeln charakterisiert, die der von Babus Verbindung mit Juhut ähnelt. Wie Juhut sind die beiden Aviar-Vögel Medium, das den Menschen an die Weisheit der Natur bindet. Was Babu noch lernen muss, seine Sazsla selbstbestimmt zu lenken und zu kontrollieren, damit er ihre Fähigkeiten zur Heilung der Welt nutzen kann, beherrscht Dusk von Beginn an.
Dusk steht einer anderen Herausforderung gegenüber als Babu. Seine beiden Aviar repräsentieren externalisierte, psychische Anteile, deren Voraussicht Dusk sich freiwillig untergeordnet hat. Er lässt sich von Kokerlii und Sak leiten, ohne gleichzeitig die Kontrolle an sie abzugeben. Was Babu als einengend und unfrei empfindet, von einem Vogel beeinflusst zu werden, nutzt Dusk als eine Stärke. Er kontrolliert die Vögel, die sich seinem Willen als Extension seines Bewusstseins unterordnen. Muss Babu die Verbindung mit seiner Szasla erst mühsam erwerben, besitzt Dusk seine beiden Aviar als eng mit seinem Bewusstsein verbundene Begleiter.
Auch mit den Sazlas kommt das ökologische Bewusstsein zurück in die bedrohte Welt. Sie erscheinen zur Rettung einer fast zerstörten Welt, während Dusks Aviar ihm nur das Überleben in der Natur ermöglichen; zu deren Rettung tragen sie nicht bei. Sie machen dem Menschen den Zustand seiner Welt nur insoweit bewusst, als sie auf Kommendes hinweisen. Sie sind beide Helfer bei der Bewältigung einer Krise und eröffnen eine neue Perspektive:

Donnerstag, 12. Januar 2023

A Storm Of Swords


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Storm Of Swords [ASOS], Vol.3: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung: Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Sturm der Schwerter, 2001 [LEF 3.1]
Die Königin der Drachen, 2002 [LEF 3.1]

Vorbemerkung

A Storm of Swords [ASOS] ist das dritte der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bücher publiziert sind. Der Publikation des dritten Bandes ging die Veröffentlichung der Erzählung Path of the Dragon (SF-Magazin Asimov´s Science Fiction, Dezember 2000; eine zweite Auflage in The Sword and Sorcery Anthology, David G. Hartwell und Jacob Weisman, Eds., San Francisco, 2012) voraus, die die Daenerys-Targaryen-Kapitel aus ASOS in einem eigenen Buch zusammengefasst erzählt.

A Clash Of Kings


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Clash Of Kings [ACOK], Vol.2: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Der Thron der Sieben Königreiche, 2000 [LEF 2.1]
Die Saat des goldenen Löwen, 2000 [LEF 2.2]

Vorbemerkung

A Clash of Kings [ACOK] ist das zweite der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bände publiziert sind. CloK erhielt, wie schon das erste Buch von Das Lied von Eis und Feuer, mehrere Auszeichnungen und Nominierungen:

  • den Locus Award als bester Fantasyroman, 1999,
  • eine Nebula Award-Nominierung als bester Roman, 2000 und
  • den Ignotus Award als bester fremdsprachiger Roman, 2004.

Montag, 9. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Drei


Air, Fire, Earth and Water
Balance of Change
World on the Scales

[...]
Whilst all around our mother earth
Waits balanced on the scales

King Crimson58

Ökonomie contra Ökologie - Bewahrung contra Fortschritt

Auf den letzten Seiten des ersten Bandes von Zwölf Wasser ist das Thema der Trilogie bereits skizziert. E.L. Greiff liefert in ihrem Roman eine Zivilisationskritik, die der Menschheit bewusst macht, dass sie ihre Welt zerstört. In ihrer Version dieser Katastrophe stehen der hilflos auf ihren Untergang zusteuernden Menschheit Vögel zur Seite, die in ihr Bewusstsein eingreifen, ihnen helfen, sich den Irrweg, auf dem sie sich befinden, bewusst zu machen. In Zeiten der Krise wählen die Szaslas ihren Szasran aus, einen, durch den Ethik der die Alte Zeit spricht.

In der Darstellung des Vogeltopos in Zwölf Wasser klingt das eigentlich ökologische Anliegen dieses Roman erst allmählich an. Die Welt der Zwölf Wasser ist eine bedrohte Welt, die der Heilung bedarf.59 Erst am Ende des zweiten Bandes der Trilogie stürzt Babu, der Held der Erzählung, in eine spirituelle Krise, verstrickt im Kampf mit seinen innerpsychischen Konflikten, der Versuchung des Guten durch das Böse. Auf den letzten Seiten lassen die Leser*innen Babu resigniert zurück. Er droht zu scheitern, für seine Welt fatal. Die Problematik des in King Crimsons Ballade thematisierten balance of change, world on the scales ist auch das Thema von B. Sandersons Zwei-Personen-Novelle, Sixth of the Dusk, die im Vergleich zu E.L. Greiffs Trilogie fast wie ein Kammerspiel anmutet.