Reflexionen über Juliet Marilliers historische Fantasy
Is not a tale a living thing that grows
and changes with every telling?
Juliet Marillier1
Einstimmung
Juliet Marillier erzählt ur-altes Wissen in einem modernen Gewand. Für die Textoberfläche, das eigentliche Geschehen der Erzählung, wendet sie sich an das altirische, kulturelle Gedächtnis, das sich bis heute in Mythen und Sagen ausdrückt. Fragmente, nicht mehr als Splitter, sind übergeblieben, doch die Autorin bettet sie in die mysteriöse Textur des phantastischen Erzählens, wie unterschiedliche Garne, die das Bild eines Gobelins weben. Wer eine Erzählung nicht allein der Unterhaltung wegen liest, sondern einen Blick hinter die Textoberfläche werfen will, stellt sich vielleicht zuallererst die Frage: Um welche Art Erzähltext handelt es sich? Der Schwerpunkt der folgenden Betrachtung des ersten Sevenwaters-Romans von Juliet Marillier, Die Tochter des Waldes, fokussiert auf die Beantwortung der Frage nach den kulturellen und literarischen Wurzeln dieser Erzählung.2
Woher nahm die Autorin ihre Inspiration für ihre Hexalogie, die weder nahtlos in das eine noch andere Genre passt? Die Antwort auf diese Fragen findet sich hinter ihrer Geschichte, in der latenten Dimension ihres Erzähltextes. Erst eine gründliche Recherche fördert den formalen Aufbau der Erzählung, Erzählinstanz und Erzählperspektive, die Interpretation der Kommunikationsabsicht (Ziel und Funktion) sowie die Klärung, mit welcher Textsorte beziehungsweise welchem Genre es die Leser*innen zu tun haben, ans Licht.3 Was mich außer den historischen Einflüssen an ihrer Erzählung noch interessiert, ist die narrative Komplexität, mit der sie ihr Handlungsmuster konstruiert.
Liadan, die homodiegetische Ich-Erzählerin des zweiten Sevenwaters-Romans beschreibt mit wenigen Worten die Fähigkeit ihrer Mutter Sorcha zu erzählen, der Protagonistin des ersten Sevenwaters-Romans, die gleichzeitig die neuseeländische Fantasy-Autorin Juliet Marillier charakterisiert: Meine Mutter kennt jede Geschichte, beginnt Liadan, die jemals an den Feuerstellen Erins erzählt worden war, und darüber hinaus noch viele andere. [...] die wunderbaren Bildteppiche, die sie mit ihren Worten webte. [...] denn meine Mutter webte eine Magie mit ihren Worten, die alle in den Bann schlug.4 Wie die keltisch-irischen Filid,5 die Gedichte, historische Ereignisse, Abstammungslinien und Heldensagen überlieferten, erzählt auch die Ich-Erzählerin Sorcha von einer Welt in der die Grenze zwischen der Lebenswirklichkeit der Figuren und der Magie noch durchlässig ist. Es scheint, als wären beide Dimensionen durch eine Kreuzung miteinander verbunden, auf der Zeit und Raum für den kurzen Moment ihrer Begegnung gegenseitig durchlässig werden. Sorcha nutzt mündliche Überlieferungen, kollektives Wissen, um solches Geschehen verständlich zu machen, und die Autorin tut es ihr nach. Binnenerzählungen sind ein charakteristisches Stilmittel der realen Autorin, die ihre Ich-Erzählerinnen ebenfalls (mehr oder weniger) als metadiegetische Erzählerinnen in allen Sevenwaters-Romanen auftreten lässt.6
Die Rahmenhandlung des ersten Sevenwaters-Romans, in den belehrende Binnenerzählungen wie Parabeln eingebettet sind, erzählt die alt-irische Sage Das Schicksal der Kinder Lirs frei nach. Der Stoff der Sage ist sehr alt, denn er stammt aus der Zeit, als die vorkeltischen Tuatha Dé Dannan die Macht in Irland übernahmen und die vorkeltischen Götter langsam ausstarben.7 Bevor allerdings eine Entscheidung über Ursprung, Form und Inhalt von Juliet Marilliers Erzähltext getroffen werden kann, müssen alle zugrundeliegenden Quellen betrachtet werden, die hinsichtlich Sevenwaters relevant sind:
- die narrative Basis, nämlich die alt-irische Sage Das Schicksal der Kinder Lirs,8
- das Grimm`sche Märchen Die sechs Schwäne (KHM 49) von 1812 sowie9
- Hans Christian Andersons Kunstmärchen Die wilden Schwäne.10
Versionen eines Verwandlungsmotivs
Oidheadh Clainne Lir oder: Das Schicksal der Kinder Lirs
Die für den ersten Sevenwaters-Roman wichtige, alt-irische Sage, die die Erzählung strukturiert und den Plot liefert, ist die tragische Sage Das Schicksal der Kinder Lirs,11 eine Erzählung, die in der Märchentradition der Romantik wieder populär wurde, und die in der Historischen Fantasy bis heute nachhallt. Die Vorgeschichte der Sage erzählt von einer Versammlung der Tuatha Dé Danann, mythische Herrscher der quasi-historischen Frühgeschichte Irlands, auf der Bodb Derg zum Hochkönig gewählt wurde, was König Lir erzürnte. Die Sage schildert Lir als einen großen König, der unglücklich war, weil er keine Frau hatte. Um ihn zu versöhnen, gab ihm Bodb Derg eine seiner Pflegetöchter, Prinzessinnen des Königreichs der Aran-Inseln, zur Frau. Sie gebar ihm eine Tochter und einen Sohn, Finnoula und Aodh. Doch ihr Glück währte nicht lange, denn nachdem sie die Zwillinge Fiachra und Conn zur Welt brachte, starb sie bei deren Geburt, und ließ Lir untröstlich zurück. Um seinen Schmerz zu lindern, gab ihm Bodb Derg eine Schwester der Verstorbenen zur zweiten Frau. Diese hieß Aoife und sie war neidisch auf Lirs Liebe zu seinen Kindern. Schließlich fasste sie einen grausamen Plan: Sie nahm die Kinder mit auf eine Reise zur Hügelfestung (Dún) ihres Pflegevaters Bodb Derg. Als sie am See Doire Bheara rasteten, überredete sie Lirs Kindern im See zu baden. Mit ihrem Zauberstab berührte sie das Wasser, wirkte dunkle Magie, und verwandelte sie: 900 Jahre sollten sie als Schwäne leben, 300 Jahre auf dem See Doire Bheara, weitere 300 Jahre in den stürmischen Fluten des Sruth na Maoile (die Sea of Moyle), zwischen Irland und Schottland, und die letzten 300 Jahre sollten sie auf den kalten Gewässern von Iorras Domhnann (Erris Island) verbringen, in der Grafschaft von Mayo.
In dieser langen Zeit voller Einsamkeit und Schmerz sangen sie traurige Lieder, die über Irland hallten, und erzählten Reisenden ihre Geschichte. Als die letzten 300 Jahre fast vorüber waren, kehrten sie zur Festung ihres Vaters zurück, die nur noch eine Ruine war, wo niemand mehr lebte, der sie begrüßte. In ihrem Schmerz flogen sie weiter zur Insel Inis Glora, wo sie sich niederließen. Es war in der Zeit als der heilige Patrick nach Irland kam und der heilige Kemoc nach Inis Gluaire, wo er die liebliche Musik der Schwäne hörte.
Es geschah in diesen Tagen, dass Lairgnéan, König von Connacht, eine Tochter des Königs von Mumhan (Munster) heiratete. Diese verlangte von ihm, ihr die Schwäne zum Geschenk zu machen. Der König holte sie mit Gewalt aus dem See, legte sie in Ketten, worauf sie sich plötzlich zurück in Menschen verwandelten. Sie waren keine Kinder mehr, sondern alte Menschen, die wussten, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Finnoula bat den heiligen Kemac, sie zu taufen. Kurz darauf starben sie, und Kemac begrub sie.
In einer anderen Version treffen sie auf den frommen Mönch Caomhán von Inis Gluaire, der sie beschützte. Doch als ihr Ende nahe war, brach ein christlicher Glockenklang den Zauber, das Zeichen der neuen Religion, und die Schwäne verwandeln sich in alte, gebrechliche Menschen, die bald darauf starben. Der Mönch begrub sie gemeinsam, damit sie im Tod vereint blieben. Das alte Irland existierte nicht mehr, die Tuatha Dé Danann hatten sich als die »Feen« der Märchen unter die Hügel (Sídhe) zurückgezogen und das Christentum hatte die alten Traditionen inzwischen verdrängt.
Die alt-irische Erzählung Das Schicksal der Kinder Lirs ist eine Sage und kein Mythos, obwohl Götter, die Tuatha Dé Danan, die vielleicht nur vergöttliche Menschen waren, zum Figurenensemble gehören. Als eine Sage bezieht sich die Erzählung auf historisch und geografisch verankerte Orte, wie die Gewässer, auf denen die Schwäne die 900 Jahre ihrer Verzauberung verbringen - Doire Bheara, Sruth na Maoile und Inis Gluaire. Lir, einer der Protagonisten dieses Erzähltexts, erscheint in den alt-irischen Überlieferungen auch als ein »Meergott« der Tuatha Dé Danann. Er wird als ein Gott der Gewässer und des Übergangs dargestellt, was seine Verbindung zu Wasser, Verwandlung und Schicksal erklärt. Meer und Seen, als Schauplätze der alt-irischen Mythen, Sagen und Legenden, spiegeln die keltische Vorstellung, dass Wasser die Grenze zwischen der Menschenwelt und der Anderswelt ist. Wasserreisen oder Aufenthalte an Gewässern stehen symbolisch für Übergänge, Läuterung oder das Schicksal. Auch Bodb Derg (der Rote), ein »Kriegsgott«, gehört zu den Tuatha Dé Danann. Im Lebor Gabols Eirenn (Das Buch von den Einnahmen Irlands) wird er entweder als ein Sohn des Dagda oder von dessen Sohn Ibath gesehen. Nachdem Dagda als König der Tuatha Dé Danann zurückgetreten war, verteilt er die Elfenhügel (sídhe) an seine Gefolgsleute. Bodb Derg und Mannannan mac Lir, Sohn des Meeres Lir, Locus genius der Isle of Man (altir. Mana, Genitiv Manann), teilen nach einigen Zwistigkeiten die Herrschaft untereinander auf, wobei Bodb den Síd al Femen (Elfenhügel jenseits Femen bei Slievenamon (County Tipperary) in Besitz nimmt. Ein König Lairgnéan lebte nach den Annalen im 7. Jahrhundert und die geografischen Ortsangaben, an denen das Geschehen stattfindet, sind in der Realität verortbar. Die Erzählung vom Schicksal der Kinder Lirs besitzt einen realitätsnahen Anspruch und verbindet Übernatürliches mit der irischen Geschichte und Überlieferung, was möglicherweise auf einen christlichen Einfluss zurückzuführen ist. Lirs Kinder sterben nach ihrer Rückverwandlung zu Menschen, womit die Erzählung das Ende einer Ära (der »Götterzeit«) und die Ankunft des Christentums symbolisiert.
Die alt-irische Mythologie kennt noch andere Erzählungen, in deren Zentrum eine Verwandlung und spätere Wiedergeburt steht, wie sie Juliet Marillier in Die Tochter des Waldes erzählt:
- die Sage Tochmarc Étaíne (Die Werbung um Étaín), die von der Werbung von Midyr um Étaín erzählt sowie12
- die Sage Aislinge Óenguso (Der Traum – die Vision - des Aonghus), diejenige die von Aonghus und Caer Ibhormheith erzählt, eine der Binnenerzählungen ihrer Romane, die Juliet Marillier während der Imbolc-Feierlichkeiten in Sevenwaters von Ciarán erzählen lässt.13
Étaín ist eine Tochter der Fluss- und Gebietsgöttin Boane, eine wunderschöne Frau der Tuatha Dé Danann, in die sich König Midyr verliebt, selbst ein Tuatha Dé. Doch Midyrs eifersüchtige erste Ehefrau, Fúamnach, verwandelt Étaín durch Magie in eine Möwe, einen »Seelenvogel«, der über dem See Bel Dracon fliegt, und an der goldenen Kette zu erkennen ist, die er trägt. Étain wird in der Folge zu Wasser, zu einer Biene, bis sie schließlich wieder in eine Frau zurückverwandelt wird. Nach vielen Prüfungen, wieder zur Frau geworden, gerät sie in ein tragisches Liebesdreieck mit Midyr und dem sterblichen König Eochaid.
Aonghus, ein weiterer Gott der Tuatha Dé Danann, sieht in einem Traum, oder einer Vision, ein wunderschönes Mädchen, Caer Ibhormheith. Er verliebt sich unsterblich in sie und sucht sie überall. Schließlich erfährt er, dass sie an jeden Samhain in einen Schwan verwandelt wird. Um sie zu gewinnen, nimmt auch Aonghus die Gestalt eines Schwans an, und gemeinsam fliegen sie über Irland.
Beide Erzählungen thematisieren zentrale Motive der alt-irischen Überlieferung, wie auch Das Schicksal der Kinder Lirs, Tragödien schicksalhafter Verstrickung, die durch Liebe, Rivalität und Eifersucht, magisch verursachten Gestaltwandel und Wiedergeburt, verursacht werden. Juliet Marillier greift diese narrativen Motive in ihrem ersten Sevenwaters-Roman auf: die magische Verwandlung in einen Schwan (Schwäne) aus den Erzählungen von Lir, Étain und Aonghus, das auch in den Texten der Grimm-Brüder und H.Ch. Anderson zentral ist.
Jakob und Wilhelm Grimms Volksmärchen Die sechs Schwäne
In ihrer Sammlung der Kinder- und Hausmärchen überliefern die Gebrüder Grimm das Märchen Die sechs Schwäne, das mit 1812 datiert wird, eine Variation der Sage vom Schicksal der Kinder Lirs.14 Der Grimm`sche Erzähltext ist, anders als die alt-irische Sage, ein Märchen, das zeit- und ortlos in einem fiktiven Königreich spielt, und eine klare Moral - Geschwisterliebe und altruistische Opferbereitschaft - mit einer einfachen Symbolik vermittelt. Die sechs Schwäne gehört zu den zahlreichen europäischen Verwandlungsmärchen in denen Menschen durch Zauberer in Tiere verwandelt werden. Doch letzten Endes gibt es ein Happy End, was es von der Sage von den Kindern Lirs unterscheidet, denn die Schwester erlöst ihre Brüder durch das Opfer einer schweren Prüfung - ein Schweigegelübde - und ihre Geduld. Märchen enden fast immer positiv, um Hoffnung und Moral zu vermitteln. Sie dienen der moralischen Belehrung und Unterhaltung.
Ein König hatte sechs Söhne und eine Tochter, die er nach dem Tod seiner Frau allein aufzog. Als er erneut heiratete, stellte sich heraus, dass die neue Königin seine Kinder hasste und sie loswerden wollte. Die böse Stiefmutter benutzte schwarze Magie, und verwandelte die Brüder in Schwäne. Die kleine Schwester blieb verschont, floh aber aus Angst vor der Stiefmutter in den Wald, um ihre Brüder zu suchen. Auf ihrer Suche traf sie ihre Brüder, die nur für eine viertel Stunde am Tag ihre Schwanenhaut ablegen und ihre menschliche Gestalt annehmen konnten. Die Brüder erzählten ihr, dass sie nur durch einen bestimmten Zauber von ihrer Schwanenform befreit werden könnten.
Um den Fluch zu brechen, musste das Mädchen sechs Jahre lang schweigend Hemden aus Sternblumen für jeden ihrer Brüder weben. Dabei durfte sie kein Wort sprechen, sonst würde der Zauber für immer bestehen bleiben. Die Schwester zog sich in den Wald zurück und begann mit ihrer mühsamen Arbeit. Dort fand sie ein König, der sich in sie verliebte und sie heiratete. Dessen böse Mutter verleumdete sie und behauptete, sie sei eine Hexe. Da sie sich nicht verteidigen konnte, wurde sie zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Am Tag der Hinrichtung hatte sie fast alle Hemden fertiggestellt – nur eines war unvollständig. Gerade als das Feuer entzündet wurde, erschienen ihre Schwanenbrüder. Sie warf ihnen die Hemden über, und sofort verwandelten sich die Brüder zurück in Menschen. Doch das letzte Hemd war nicht fertig geworden, und so behielt der jüngste Bruder einen Schwanenflügel. Nun durfte die Schwester endlich wieder sprechen, und erzählte dem König alles über die böse Schwiegermutter, die daraufhin bestraft wurde. Nun lebte sie mit ihren Brüdern und ihrem Mann glücklich weiter.
Hans Christian Andersons Kunstmärchen Die wilden Schwäne
Eine weitere Variation der Sage vom Schicksal der Kinder Lirs verfasste der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersens mit seinem Kunstmärchen Die wilden Schwäne, das erstmals 1838 veröffentlicht wurde. Es gehört zu seiner Sammlung »Märchen, erzählt für Kinder«. In seinen Erzählungen griff Anderson auf Volksmärchen zurück, für Die wilden Schwäne insbesondere auf die grimm`sche Version der alt-irischen Sage. Diese bearbeitete er in seiner eigenen poetischen Sprache und stattete sie mit individuellen Motiven aus. Seine Version, Die wilden Schwäne, weist charakteristische Anderson-Motive auf, wie die Unschuld, das Leiden und die Erlösung durch alturistische Aufopferung.
In erster Linie unterscheidet sich ein Kunstmärchen von einem Volksmärchen durch den namentlich bekannten Autor, der es verfasste.15 Ein Kunstmärchen besitzt keine mündliche Überlieferungstradition, sondern erblickt das Licht der Welt in schriftlicher Form in einem Buch. Kunstmärchen entstanden erstmals im späten 18. Jahrhundert und entfalteten sich besonders während der Romantik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es entwickelte sich aus den mündlich überlieferten Volksmärchen, die keinen Autor haben und sich durch einfache Strukturen sowie klare moralische Botschaften auszeichnen. Die Romantiker lösten die schlichte Form der Volksmärchen auf, und erweiterten sie zum Kunstmärchen, indem sie diese mit literarischer Raffinesse, psychologischer Tiefe, düsterer Symbolik und melancholischen, symbolträchtigen Themen ausstatteten. Auf diese Weise überwinden Kunstmärchen die eindimensionale moralische Belehrung des Volksmärchens und öffnen einen Raum für die Thematisierung und Bearbeitung menschlicher Befindlichkeiten wie Angst, Hoffnung, Schuld, Erlösung und Identitätssuche. Viele Kunstmärchen üben außerdem unterschwellig Kritik an gesellschaftlichen Zwängen, religiöser Dogmatik und sozialer Ungerechtigkeit. Besonders durch Hans Christian Anderson mit seinen melancholischen Erzählungen und seiner Kritik an Gesellschaft und Religion in Die kleine Meerjungfrau, Die Schneekönigin sowie Das Mädchen mit den Schwefelhölzern oder durch Oscar Wilde, dessen poetische Sprache und moralische Vieldeutigkeit in den Erzählungen Das Sternenkind, Der glückliche Prinz sowie Die Nachtigall und die Rose bis heute faszinieren, wurde das Kunstmärchen im 19. Jahrhundert in ganz Europa populär.16 Das Kunstmärchen spielte eine zentrale Rolle in der Romantik und schuf die Grundlage für viele spätere Entwicklungen in der Literatur. Sie haben ebenfalls einen großen Anteil an der Entstehung moderner Fantasy, deren Entwicklung sie stark beeinflussten, insbesondere durch die Verbindung von Märchenelementen - Märchenhaftem und Tiefgründigem- mit komplexen Welten und Figuren.
In Die wilden Schwäne erzählt Hans Christian Andersen die Geschichte von Elisa und ihren elf Brüdern, die von ihrer bösen Stiefmutter verflucht werden. Während Elisa verstoßen wird, verwandelt die Stiefmutter die Brüder in Schwäne. Elisa wächst in einem einsamen Tal auf, bis sie sich auf die Suche nach ihren Brüdern macht. Durch ihre Liebe und Opferbereitschaft erfährt sie von einer weisen Frau, dass sie Brennnesselhemden für ihre Brüder stricken muss, ohne dabei ein Wort zu sprechen. Selbst als sie von einem König gefunden und zur Königin gemacht wird, schweigt sie. Kurz vor der Vollendung ihrer Aufgabe wird Elisa der Hexerei beschuldigt und zur Hinrichtung geführt. In letzter Sekunde vollendet sie die Hemden, bis auf eines, dem ein Ärmel fehlt. Die Brüder verwandeln sich zurück in ihre menschliche Gestalt, nur der jüngste behält einen Schwanenflügel statt seines Arms, Elisas Unschuld wird offenbar und die böse Stiefmutter erhält ihre gerechte Strafe.
Juliet Marilliers historische Fantasy Die Tochter des Waldes
Die Sevenwaters-Hexalogie besteht aus sechs Romanen, die von Ereignissen erzählen, die mehreren Generationen einer Familie zustoßen, die im Wald von Sevenwaters leben, einem irischen Túath von Ulster (Ulaidh) im Nordosten der Insel, gegenüber dem britischen Northumbria. In ihrem ersten Roman der Sevenwaters-Hexalogie, Die Tochter des Waldes, erzählt Juliet Marillier vom Schicksal der Sorcha, ihrer Ich-Erzählerin und jüngsten Tochter von Lord Colum von Sevenwaters, die mit ihren sechs älteren Brüdern in einem abgeschiedenen Wald lebt. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, und ihr Vater, ein kriegerischer Stammesführer, entfernt sich zunehmend von seinen Kindern. Das harmonische Leben endet, als Lord Colum die schöne und unheimliche Lady Oonagh heiratet. Oonagh, eine mächtige Zauberin, verflucht Sorchas Brüder und verwandelt sie in Schwäne. Sorcha entkommt knapp und erfährt von den Feen des Waldes, dass sie ihre Brüder nur retten kann, indem sie sechs Hemden aus den Stängeln der »Mieren« anfertigt, ohne ein Wort zu sprechen, bis sie ihre Aufgabe vollendet hat. Trotz ihrer Schmerzen und der Einsamkeit beginnt Sorcha, die Hemden zu weben, entschlossen, ihre Brüder zu erlösen. Während sie daran arbeitet, wird sie von feindlichen Briten gefangen genommen und verschleppt. Der britische Adelige Hugh von Harrowfield, wegen seiner roten Haare der Rote (s.a. Bodb Derg) genannt, nimmt sie in seine Obhut und verliebt sich in sie, obwohl sie nicht spricht, er ihr Verhalten merkwürdig findet und sie nicht versteht. Sorcha erkennt, dass sie ihm vertrauen kann, doch ihre Aufgabe und ihr Schweigen stellen ihre Liebe auf eine harte Probe. Sie muss sich gegen die Intrigen der Familie des Roten und die fortdauernden Angriffe von Lady Oonagh behaupten. Am Ende wird Sorcha wegen Hexerei angeklagt und zum Tode verurteilt. In letzter Sekunde gelingt es ihr, die Hemden fertigzustellen. Die Brüder nehmen wieder menschliche Gestalt an, und Oonaghs Fluch wird gebrochen, obwohl einer ihrer Brüder einen Schwanenflügel behält. Lady Oonagh wird besiegt, und Sorcha und der Rote finden schließlich zueinander.
Die Kernmotive der Versionen der Sage von den Kindern Lir-Sage
Es ist deutlich geworden, dass die vier Erzählungen von der Verwandlung von Menschen in Schwäne lediglich mehrere Variationen eines einzigen Themas sind, wahrscheinlich das uralte Mythologem von der Überschreitbarkeit der Mensch-Tier-Schwelle wie sie der indoeuropäische Schamanismus kennt.17 Eine genauere Analyse der Erzähltexte führt jedoch zu überraschenden Unterschieden, die spannende Fragen aufwerfen, besonders bezüglich Form und Inhalt der Ur-Version, der literarischen Entwicklung eines narrativen Motivs im Rahmen der Sinnpflege sowie im Hinblick auf die Varianz kulturspezifischer Symbolik. Um Antworten auf diese Fragen zu geben, fasse ich die zentralen Motive der vier Versionen noch einmal kommentiert zusammen:
Das Schicksal der Kinder Lirs
Der Erzähltext Das Schicksal der Kinder Lirs ist eine Sage, eine alt-irische traditionelle Überlieferung. Die Erzählung beginnt mit der Schilderung des glücklichen Familienlebens eines Königs der Tuatha Dé Dannan, nämlich Lir. Aus Eifersucht verzaubert die neue Ehefrau die vier Kinder Lirs und verwandelt sie durch Magie in Schwäne, indem sie mit einem Druidenstab auf das Wasser des Sees schlägt, in dem Lirs Kinder baden (Verwandlungsmotiv und Bruch der natürlichen Ordnung). Nachdem sie 900 Jahre in der Gestalt von Schwänen als Schwellenwesen (Liminalität) lebten, endet der Bann (Verfluchung). Beschützt von einem Mönch und durch Glockenläuten (kultureller Wandel; christlicher Einfluss) verwandeln sie sich wieder in Menschen (Wiedereingliederung durch rituelle Wiedergeburt), werden getauft und sterben. Ein Happy End gibt es nicht.
Die sechs Schwäne
Der Erzähltext Die sechs Schwäne ist ein Volksmärchen, gesammelt von den Gebrüdern Grimm. Es beginnt nicht mit dem glücklichen Leben einer Königsfamilie, das eine neue Heirat des Königs zerstört, sondern enthält als einzige Version einen Prolog, der von der Herkunft der bösen Stiefmutter erzählt. Durch (nicht näher erläuterte) Zauberei fertig die böse Stiefmutter kleine weißseidene Hemdchen [...] und nähte einen Zauber hinein und warf über jedes eins von den Hemdchen, und wie das ihren Leib berührt hatte, verwandelten sich die sechs Brüder in Schwäne (Kontaktmagie; Verwandlungsmotiv und Bruch der natürlichen Ordnung). Als Schwellenwesen (Liminalität) verbringen die Brüder eine unbestimmte Zeit als Schwäne. Ihre Schwester unterwirft sich einem magischen Ritual, darf sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen und [muss] in der Zeit sechs Hemden aus Sternenblumen zusammennähen (ritualisierte Prüfung: Schweigegebot und die Anfertigung magischer Hemden; Liebe und Opferbereitschaft), die den Zauberbann brechen.18 In dieser Zeit wird die Schwester von dem König, der sich in sie verliebt hat, beschützt, von der bösen Schwiegermutter aber der Hexerei beschuldigt, und fast auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im letzten Moment wirft sie ihren Brüdern die Hemden über, wie zuvor auch die böse Königin, die dadurch wieder zu Menschen werden (Wiedereingliederung durch rituelle Wiedergeburt), die Schwiegermutter wird bestraft und es gibt ein Happy End.
Die wilden Schwäne
Der Erzähltext Die wilden Schwäne ist ein Kunstmärchen, verfasst von dem dänischen Autor Hans Christian Anderson. Im direkten Vergleich unterscheidet es sich nur durch die erweiterte Erzählzeit und die Variation einzelner Motive von der Version der Grimm-Brüder. Allerdings gibt es in Andersons Kunstmärchen elf Brüder, und die magischen Hemden bestehen nicht mehr aus den harmlosen »Sternblumen«, sondern aus die Haut ätzenden Brennnesseln.
Die Tochter des Waldes
Juliet Marilliers Erzähltext Die Tochter des Waldes ist eine historische beziehungsweise immersive Fantasy19 mit einem Coming-of-Age-Plot wie er für die Gattung charakteristisch ist. Anders als die Vorgängerversionen handelt es sich bei ihrem Erzähltext um einen Roman mit ausgedehnter Erzählzeit von fast 500 Seiten, die der Autorin völlig andere erzähltechnische Möglichkeiten einräumt, als die kurzen Fassungen von Märchen und Sage, die sich auf mündliches Erzählen zurückführen lassen, was nur noch bedingt auf Andersons Kunstmärchen (als Grimm-Variante) mit einer Erzählzeit von 24 Seiten zutrifft. Auch Juliet Marilliers Plot unterscheidet sich nur unwesentlich von den beiden Märchenversionen, denn sie übernimmt auch das Motiv der magischen Hemden, die nun aus »Mieren« gefertigt werden müssen. Ihr Roman beginnt ebenfalls mit der Schilderung des glücklichen Familienlebens in der Festung Sevenwaters im nordöstlichen Irland. Die Geschwister wachsen in natürlicher und harmonischer Gemeinschaft im »Märchenwald« von Sevenwaters auf, bis auch in dieser Version die geliebte Mutter stirbt und ihr Vater im Bann einer bösen Tuatha Dé Dannan (Fee) Zauberin stehend, neu heiratet. Die böse Stiefmutter ist neidisch auf die Geschwister und verwandelt die Brüder aus Machtgier durch ein magisches Ritual in Schwäne (Verwandlungsmotiv und Bruch der natürlichen Ordnung).
Alles, was die vorausgegangenen Versionen hinsichtlich des Zauberbanns, der magischen Verfluchung, nur andeuten, das, was zwischen den Zeilen mitschwingt, formuliert Juliet Marillier in den Möglichkeiten, die ihr das Format Fantasy-Roman bietet, aus, erzählt es nach und erzählt es neu; in der Diktion Tolkiens, der aus nur fragmentarisch erhaltenen Mythenresten eine Mythologie für England verfassen wollte. Juliet Marillier geht mit den Lir-Versionen, die sie vorfand, vergleichbar um, wie das folgende Beispiel aus Die Tochter des Waldes demonstriert, in dem von der Verwandlung der sechs Brüder in Schwäne die Rede ist: Die Episode beginnt damit, dass die sieben Kinder Colums planen, sich dem Einfluss ihrer Stiefmutter, Lady Oonagh, entgegenzustellen, um ihren Vater von deren Bann zu befreien. Dazu vollziehen sie ein Ritual am Grab ihrer Mutter am Seeufer, in dem sie Deirdre, die Herrin des Waldes, eine mächtige Fee (Tuatha Dé Dannan), beschwören und um Hilfe zu bitten.20 Stattdessen erscheint Lady Oonagh in einem Boot, der Versuch der Kinder scheitert, und ihr Ritual endet in der Katastrophe der Verwandlung der sechs Brüder in Schwäne.
Lady Oonaghs Bannzauber ist ein magisches Ritual, gewebt aus Formeln und Handlungen. Während die Schwester in den Wald fliehen kann, umwickelt sie die Brüder mit Nebel, der aus ihren ausgestreckten Fingern fließt, und sie fest am Boden fixiert, sodass sie nicht fliehen können. Sie umrundet die bewegungslosen Brüder, spricht jeden einzeln an, und verflucht sie mit individuell auf sie gemünzten Worten. Langsam hebt sie die Hand. [...] Sie beginnt zu rezitieren, mit hoher, schriller, unheimlicher Stimme und in einer unbekannten finsteren Sprache. [...] Und dann geschieht es. Die Kälte, das Rauschen, die Veränderung. [...] ein langgezogener, gebogener, weißgefiederter Flügel. Und als letztes verschwinden Geist und Denken. [...] Wir sind Schwäne.21
Dann sind die Brüder verschwunden und müssen ihr Dasein in verwandelter Gestalt als Schwellenwesen (Liminalität) leben, können aber einmal im Jahr für eine Nacht in ihre menschliche Gestalt zurückkehren (ähnlich bei Grimm und bei Anderson). Später erscheint Sorcha die Herrin des Waldes doch noch, und erklärt ihr, wie der Bann durch eine dreifache, schwere Prüfung gebrochen werden kann, die auch in der Grimm`schen- und Anderson-Version zentral ist, in der Lir-Sage aber (wahrscheinlich durch späteren christlichen Einfluss) durch das Glockenläuten ersetzt wurde: »Du musst ein Hemd für jeden deiner Brüder herstellen. Der Faden, die Webarbeit, jeder einzelne Stich dieser Kleidungsstücke muss deine eigene Arbeit sein.« [...] »Von dem Augenblick an, wenn du diesen Ort verlässt, bis zu dem Moment der endgültigen Rückkehr deiner Brüder unter die Menschen, darf dir kein Wort über die Lippen kommen, kein Schrei, kein Lied, nicht einmal ein Flüstern [...] Du musst still sein, stumm wie die Schwäne selbst. Wenn du dieses Schweigen brichst, wird der Fluch für immer bleiben.« [...] »Das ist immer noch zu einfach. Diese Hemden sollen nicht aus Wolle oder Flachs oder Häuten bestehen. Sie müssen aus den Fasern der Mieren bestehen. Die Stiele werden dich schneiden, die Stacheln werden dir das Fleisch zerreißen.«22
Für Sorcha beginnt nun ihr eigenes Schwellendasein mit ihrer schweren Prüfung: die Herstellung von sechs magischen Hemden, und dem Schweigegebot. In ihrer Isolation begegnet sie Hugh von Harrowfield, der sie unterstützt und beschützt. Während seiner Abwesenheit wird sie der Hexerei beschuldigt, angeklagt und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Im letzten Moment erscheinen ihre Schwanenbrüder, denen sie die Hemden überwirft, sie von dem Zauberbann erlöst. Nur einer der Brüder behält einen Schwanenflügel (Wiedereingliederung durch Kontaktmagie und rituelle Wiedergeburt), was mit den Versionen von Grimm und Anderson korrespondiert. Lady Oonagh entzieht sich durch Flucht in die Anderswelt, damit sie, getreu schemaorientierten Erzählens, in weiteren Folgen ihr antagonistisches Werk fortsetzen kann. In Marilliers erstem Roman gibt es ein vorläufiges Happy End.
Die auffälligen Unterschiede in den vier Versionen der Lir-Sage, insbesondere die Abweichungen von der ursprünglichen, alt-irischen Version, provozieren zwei weitere Fragen:
- Wie gerieten die Motive der altruistischen Schwester und der magischen Hemden in die Erzählung, von denen in der alt-irischen Version nicht einmal eine Spur vorhanden ist?
- Was hat es mit den Pflanzen auf sich, aus denen die magischen Hemden bestehen, und die von den Autoren, kurioserweise, von Version zu Version ausgewechselt wurden?
Die kurzen Zusammenfassungen der Erzähltexte offenbaren die Abweichungen von der Ur-Version als spätere Innovationen; hinsichtlich des Grimm`schen Märchen möglicherweise auch durch eine andere Erzähltradition. Die Herkunft des Motivs der selbstlosen Liebe, der Caritas der Nächstenliebe (Agape), ist schnell beantwortet. Die Agape gehört zu den grundlegenden Tugenden des Christentums und stellt eine spätere Innovation der romantischen Märchentradition dar, insbesondere bei H.Ch. Anderson, für dessen Kunstmärchen der Einfluss christlicher Überzeugungen charakteristisch ist, wie der Glaube an die Kraft und Reinheit der Liebe, spiegeln sie doch die religiösen und sozialen Ideale des 19. Jahrhunderts wider, ein charakteristischer Unterschied zu den Volksmärchen der Grimms, die eher archetypische als christliche Überzeugungen tradieren.
Die magischen Hemden (Kleidung) und das Verwandlungsmotiv sind höchstwahrscheinlich ein Erbe alt-germanischer Überlieferung. Beide Motive kommen nicht nur in der alt-irischen, sondern auch in der antiken griechischen und alt-germanischen Mythologie vor. Es liegt deshalb nahe, dass es sich bei ihnen um indoeuropäische Motive handelt, sodass es nur kurz verwundert, was aus den magischen Hemden der alt-irischen Überlieferung in Das Schicksal der Kinder Lirs wurde.23 Bedenkt man allerdings das Ende der Lir-Sage, Glockenläuten und Taufe, liegt der Verdacht nahe, dass eine christlich motivierte Transkription für das Verschwinden magischer Hemden verantwortlich ist, die möglicherweise ursprünglich auch zum Inventar der alt-irischen Version gehörten; es ist unbekannt, wie die Kinder Lirs, bevor sie getauft wurden, ihre menschliche Gestalt zurückerhielten.
Symbolische Ebenen der Adaptionen der Sage von den Kindern Lirs
Magische Kleidung im kulturellen Kontext
Die drei Versionen der alt-irischen Sage gehören in eine narrative Kategorie, die die Märchenforschung als Verwandlungsmärchen bezeichnet. Wie bereits erläutert, unterscheiden sich die drei Adaptionen in einem Punkt von der keltisch-irischen Ur-Version. Dieser Unterschied ist entscheidend, denn er betrifft das zentrale Motiv der Erzähltexte: den Gestaltwandel als Resultat eines Zauberbanns, die Möglichkeit, den Bann rückgängig zu machen sowie das Schicksal, das die verzauberten Kinder nach ihrer Rückkehr in ihr menschliches Leben erwartet. In der Originalfassung bestimmt der Fluch einen festgelegten Zeitraum - nämlich 900 Jahre, die durch nichts veränderbar sind - bevor die Rückverwandlung einsetzt. Die Kinder Lirs sind durch nichts zu retten. Der Bannfluch muss unter allen Umständen erfüllt werden. In der alt-irischen Sage wird Aoifes Verwandlungszauber nicht durch ein magisches Hemd oder Gewand aufgehoben,24 sondern durch eine christliche Symbolik: das Motiv der uneigennützigen Helfer sowie das Läuten der Kirchenglocken, die die christliche Botschaft weit über das Land verbreiten, und die Menschen zum Gebet rufen. In der Sage von Lir beschließt die Taufe seiner Kinder ihre Jahrhunderte währende Odyssee und ihre Wiedereingliederung in der Gemeinschaft der (gläubigen) Menschen.
Wenn das Motiv der magischen Hemden aber kein keltisches Motiv ist, woher fand es seinen Weg in die Adaptionen der Sage von den Kindern Lirs. Es ist nämlich das Motiv der magischen Kleidung, dass eine eindeutige Grenze zwischen dem keltisch-irischen Original und den Adaptionen der Romantiker und der neuseeländischen Autorin zieht. Damit weichen alle drei Adaptionen von der Unerbittlichkeit des Schicksals ab, mildern die Tragik und führen magische Hemden als Mittel der Erlösung in die Erzählung ein, die in einem festgelegten Ritual, allerdings mit unterschiedlichen Pflanzenfasern, angefertigt werden müssen, um die Wirkung des Banns aufzuheben.
In der griechischen Mythologie gibt es zahlreiche Erzählungen, in denen Menschen oder Götter in Schwäne verwandelt werden, Verwandlungen, die meistens im Zusammenhang mit Liebe, Täuschung oder göttlicher Macht stehen.25 Ein magisches Hemd im Sinne der Lir-Versionen ist auch aus dem Mythenkreis des Herakles bekannt. Seine Heldenmythologie enthält eine Episode, in der ein Nesselhemd für den tragischen Tod des Helden verantwortlich ist.26 Deïaneira, die weithin für ihre Schönheit berühmte Tochter des kalydonischen Königs Oineus, entschied sich nach einem Zweikampf gegen einen Mitbewerber, und gab ihre Hand, ihr Vermählungsversprechen, Herakles. Auf ihrer Heimreise musste das Paar den Fluss Euenos überqueren, wo sie dem Kentauren Nessos begegneten, der anbot, Deïaneira überzusetzen. Während er Deianeira über den Fluss trug, versuchte Nessos, sie zu entführen. Herkules bemerkte das und schoss einen seiner vergifteten Pfeile, getränkt im Blut der Hydra, auf Nessos. Der Pfeil traf und verwunderte den Kentauren tödlich. Noch im Sterben log Nessos, um sich an Herkules zu rächen. Er sagte zu Deïaneira: »Nimm mein Blut – es ist ein mächtiger Liebeszauber und bestreiche ein Gewand damit, und Herakles wird dir ewig treu bleiben.« Ahnungslos sammelte Deïaneira etwas von Nessos’ Blut auf. Später, als sie an Herakles Treue zweifelte, bestrich sie sein Hemd mit dem Blut des Kentauren. Als Herkules das Hemd anzog, drang das durch das Hydrablut vergiftete Blut in seine Haut ein, brannte wie Feuer und verklebte Haut und Hemd. Das Gift zersetzte sich Fleisch, und jeder Versuch, das Hemd auszuziehen, riss Fetzen von Haut und Fleisch los. In unerträglichen Schmerzen errichtete Herakles schließlich einen Scheiterhaufen und verbrannte sich selbst, um der Qual zu entkommen.27
Das Motiv der Schwanenjungfrauen in der alt-nordischen Mythologie ist eine weitere Mischung aus Gestaltwandel, magischer Kleidung und erzwungener Ehe. Es spiegelt alte Vorstellungen von übernatürlichen Frauenwesen wider, die sowohl verführerisch als auch unnahbar sind. Das Motiv ist in der nordischen und germanischen Mythologie weit verbreitet und erscheint in mehreren alten Sagen und Märchen. Es sind Frauen, die mithilfe eines magischen Federmantels in Gestalt eines Schwans auftreten. Besonders prominent unter diesen Erzählungen ist die eddische Überlieferung der Völundarkviða. Der Prolog erzählt, wie drei Schwanenjungfrauen an einem See landen, ihre Schwanengewänder ablegen und menschliche Gestalt annehmen. Wieland (der Schmied) und seine beiden Gefährten raubten ihnen ihre Federmäntel, als sie badeten. Ihres Gefieders beraubt, sind sie gezwungen, in menschlicher Gestalt bei ihnen zu bleiben. Nach einigen Jahren gelingt es den Frauen jedoch, ihre Gewänder wiederzufinden, und als Schwäne davonzufliegen, das klassische Motiv des Gestaltwandels durch magische Kleidung.
In der nordischen Mythologie sind solche Erzählungen eng mit den Walküren oder der Anderswelt verbunden, während sie in späteren Märchen oft als tragische Figuren erscheinen, die nach Freiheit suchen. Das Motiv der nordischen Schwanenjungfrauen wurzelt wahrscheinlich in der Mythologie der Walküren, die zwischen den Welten zu reisten. Sie erscheinen von Odin auserwählen Kriegern, die in einigen Erzählungen sterbliche Helden heiraten, und wieder auf mysteriöse Weise verschwinden.28
Vögel in der Mythologie
In der berühmten mythischen Erzählung von Orpheus, in der Musik, Liebe, Tod und Transzendenz eng verwoben sind, wird der Sänger und Dichter, Sohn der Muse Kalliope und des thrakischen Königs Oiagros, nach dem Verlust Eurydikes in einer Version von thrakischen Mänaden zerrissen, weil er sich Dionysos verweigerte und ihre Gesellschaft verschmähte. Sein Tod war jedoch nicht sein Ende: Seine Leier (oder in manchen Versionen auch er selbst) wurde als Sternbild an den Himmel versetzt. Die Versetzung unter die Sterne, Katasterismos, des Orpheus (griech. katasterismós) ist nicht nur in der antiken griechischen Mythologie eine häufige Praxis der Vergöttlichung oder Erhebung eines Menschen, Tieres oder Gegenstands in den Sternenhimmel, meist in Form eines Sternbilds. Ein Katasterismos ist eine Form der Apotheose, mit der herausragende Gestalten - Helden, Liebhaber der Götter oder besonders tugendhafte Gestalten - geehrt werden, die der Erinnerung und Warnung dient oder kosmologischen Ordnung. Die Funktion der Katasterismen verbindet mythologisches Denken mit Himmelsbeobachtungen als ein Mittel, Geschichten über Götter und Helden am Nachthimmel dauerhaft sichtbar und erfahrbar zu machen, ein kosmisches Bilderbuch.29
Das Sternbild des Schwans (lat. Cygnus) ist eine markante Konstellation am Nordhimmel, die in der Mythologie häufig mit Orpheus in Verbindung gebracht, obwohl auch andere Deutungen, etwa Zeus in Schwanengestalt, existieren. Die Symbolik des Schwans rekurriert auf seine Schönheit und Eleganz, auf den Gesang und den Übergang zwischen den Elementen. Er lebt im Wasser, auf dem Land und in der Luft, wie Orpheus, der zwischen den Welten von Leben und Tod, Klang und Stille wandelt. Viele Kulturen verbinden Schwäne mit Göttlichkeit, Reinheit, Liebe und Verwandlung. Vögel spielen in vielen Mythologien eine bedeutende Rolle und symbolisieren oft Transformation, Wiedergeburt, Seelenreise, Weisheit oder göttliche Botschaften. In der nordischen Mythologie gibt es die Schwanenjungfrauen, die mit Walküren in Verbindung stehen. In Indien ist der Hamsa-Schwan ein Symbol der spirituellen Erleuchtung und wird mit Brahma und Saraswati in Verbindung gebracht. Je nach Vogelart variiert ihre Funktion und Bedeutung. In einer griechischen Mythe von Leda und dem Schwan, in der Zeus sich der Schwanengestalt bedient, Leda verführt und sie schwängert. So kamen Helena von Troja und die Dioskuren, die Zwillinge Kastor und Polydeukes (lat. Pollux), auf die Welt, Namensgeber eines hellen Sternpaares im Sternbild der Zwillinge. Der Phönix ist ein legendärer Feuervogel, in der ägyptischen, griechischen und römischen Mythologie, der am Ende seines Lebens verbrennt und aus seiner eigenen Asche wiedergeboren wird. Er symbolisiert Unsterblichkeit, Erneuerung, zyklischer Wandel und spirituelle Transformation, in der christlichen Tradition Auferstehung und das ewige Leben.
Im antiken Griechenland war die Eule der Vogel der Göttin Athene und Symbol der Weisheit und der nächtlichen Mysterien, einen Ruf, den sie noch immer besitzt. Eulen werden auch in anderen Kulturen als Wächter der Dunkelheit und als Orakelvögel angesehen, Symbole verborgener Geheimnisse und des Übergangs und des Tods. Sie teilen sich ihre mythologische Eigenschaft, Verkünder von Weisheit, Tod und Schicksal zu sein, mit Raben und Krähen. Adler und Falken sind die Himmelsvögel, die den personifizierten Himmel, dessen majestätische Weite und Macht, symbolisieren. In der griechischen Mythologie wird der Adler das Tier des Zeus, oft als göttlicher Bote dargestellt, der in der römischen Tradition das Symbol der kaiserlichen Macht wurde. In der alt-nordischen Mythologie sind Hugin und Munin, die Raben Oðinns, seine Gedanken und Erinnerungen. In keltischen Mythen ist es die Göttin Morrígan, die eng mit Raben verbunden und als Todesbotin in deren Gestalt erscheint. Raben sind Orakeltiere und Götterboten, die Kriege, Tod und Wiedergeburten prophezeien.
In der alt-nordischen Mythologie, überliefert die eddische Dichtung Grímnismál (Strophe 32), sitzt ein mächtiger Adler in der Krone der Esche Yggdrasil, dem Weltenbaum. Der Name des Baums bedeutet Yggs Pferd oder Yggs Reittier, wobei yggr ein Beiname Oðinns ist (der Furchtbare) und drasill Pferd oder Reittier bedeutet. Diese poetische Umschreibung (altnord. kenning) bezieht sich auf die Szene, die in der Hávamál, einem Gedicht der Edda, in dem Oðinn sich selbst an den Weltenbaum Yggdrasil opfert. Yggdrasil ist das Reittier, das Oðinn bei seiner Reise in die Anderswelt zur Erkenntnis trägt, auf eine spirituelle, visionäre Fahrt, die Jenseitsreise eines sibirischen Schamanen. Zwischen den Augen des Adlers thront der Habicht Veðrfölnir. Der Name des Adlers ist nicht überliefert. In der Grímnismál heißt er nur örn (Adler) auf der Krone des Baums, aber der des Habichts lässt sich als der Wetterbleiche oder der vom Sturm Gebleichte interpretieren.30 Der Adler in der Krone Yggdrasils ist eine vieldeutige, symbolisch reiche Figur der alt-nordischen Mythologie. Seine Beziehung zu Oðinn, seinem Selbstopfer und seiner Erkenntnissuche, die Havamál schildert, ist nicht eindeutig und lässt sich in mehrere Hinsichten interpretieren. Es gibt keine direkte Aussage, dass der Adler Oðinn selbst ist, doch reichlich symbolische Assoziationen, die ihn mit dem Gott in Verbindung bringen. In seine Position ist der Adler ein Seher. Er sieht über die Welten, wie Oðinn, der nach Weisheit strebt und mit seinen beiden Raben, Hugin und Munin, seine Gedanken und Erinnerung, die über die Welt fliegen, überall hinblicken: der Adler ein Aspekt von Oðinns allsehender Weisheit, eine Art höheres Selbst oder Spiegelbild des göttlichen Geistes. In dieser Lesart wird der Adler auf Yggdrasil zum Symbol höchster Erkenntnis, die Oðinn in seinem Selbstopfer zu erreichen versucht. Oðinn reist (metaphorisch auf Yggdrasil) durch die Welten, von den Wurzeln an Mímirs Brunnen (Todesnähe) bis zur Krone, dem kosmischen Wissen des Adlers. Yggdrasil ist die Brücke, der Adler in der Krone das Ziel. Der Adler auf der Weltachse ist eine Manifestation dessen, was Oðinn sucht: transzendente Erkenntnis, kosmische Weitsicht, den Überblick über die neun Welten und uraltes Wissen, den Zugang zum tiefsten Sinn der Runen. In einem Wort; eine distanzierte, höhere Ordnung des Kosmos.
Als letzter, erwähnenswerter Vogel bleibt noch der Kranich übrig, ein ostasiatisches Symbol der Langlebigkeit und Spiritualität, der In Japan und China als Symbol für Glück und Frieden gilt. Kraniche werden aber auch in der keltischen und nordischen Mythologie Magie und Verwandlung in Verbindung gebracht. In der christlichen Symbolik stehen Kraniche für Vorsicht und spirituelle Wachsamkeit.
Die symbolische Bedeutung des Schwans
Schwäne sind ein weit interkulturelles Symbol mit metaphorischen und mythologischen Bedeutungen, die, wie gezeigt, je nach Region und Epoche variieren können. Der Schwan wird wegen seines weißen Gefieders in vielen Kulturen mit Reinheit, Unschuld und göttlicher Schönheit assoziiert. In der christlichen Tradition steht er sogar für das göttliche Licht oder die Seele.
Der Schwan taucht vielfach in Erzählungen der Metamorphose auf, so im griechischen Mythos von Zeus und Leda oder im Märchen Die sechs Schwäne. Er symbolisiert Wandlung und Übergänge, sowohl in der Natur da Schwäne vom grauen Küken zum prächtigen Vogel heranwachsen, was auch Thema in Andersons Kunstmärchen Das hässliche Entlein ist, als auch im spirituellen Sinne. Schwäne pflegen lebenslange monogame Beziehungen, und sind in vielen Kulturen Symbole der Liebe, Partnerschaft und ehelichen Treue. Wie bereits zitiert treten sie In der keltischen Mythologie in Liebesgeschichten und verzauberten Paaren auf. Der »Schwanengesang« ist ein altes Motiv, das den letzten, besonders schönen Gesang eines Schwans vor seinem Tod beschreibt. Metaphorisch bezeichnet er das letzte große Werk eines Künstlers, wie beispielsweise J.R.R. Tolkiens Allegorie Leaf by Niggle, oder ganz allgemein einen würdevollen Abschied: der Schwan als ein Wesen, das zwischen Leben und Tod vermittelt.
In der indischen Mythologie ist der schon erwähnte Schwan Hamsa ein heiliges Tier und Symbol der Erleuchtung. Er wird als Reittier von Saraswati, der Göttin der Weisheit und Musik verehrt. In der alt-nordischen Mythologie gibt es Schwäne, die in Verbindung mit den Walküren und den Gewässern der Anderswelt stehen. Da Schwäne sowohl im Wasser als auch in der Luft leben, bringt man sie auch mit Freiheit und der Verbindung zwischen verschiedenen Welten - materiell sowie geistiges - in Verbindung. Der Schwan ist ein vielschichtiges Symbol, das Reinheit, Liebe, Transformation, Tod und Spiritualität vereint. Besonders in den Märchen dieser Reflexion repräsentiert er die Themen Seelenreise, Opferbereitschaft und die Verbindung des Menschen zur magischen Welt.
Die symbolische Bedeutung des Verwandlungsmotivs
Das Verwandlungsmotiv ist eines der ältesten und universellsten Erzählmuster in Mythen, Sagen und Märchen von archetypischer Relevanz. Es symbolisiert tiefgreifende Wandlungen im physischen, psychischen oder spirituellen Sinn. Solche Verwandlungen sind in den Erzählungen freiwillig oder erzwungen, segensreich oder tragisch und sie transportieren von Kultur zu Kultur unterschiedliche Bedeutungen. Die Verwandlungen oder Metamorphosen dieser Erzähltexte repräsentieren den Übergang, die Initiation, von einer Lebensphase in eine andere (Kindheit → Erwachsenwerden, Sterblichkeit → Unsterblichkeit).
In vielen Heldensagen verwandelt sich der Protagonist, physisch oder psychisch, um eine neue Stufe des Bewusstseins zu erreichen. In wieder anderen Mythen repräsentiert die Verwandlung die göttliche Strafe für Hochmut, Frevel oder moralische Vergehen, wie die der Niobe, eine Tochter des Tantalos, die vom ungeheuren Schmerz über den Verlust ihrer Kinder zu Feld erstarrte. Gleichzeitig kann eine Verwandlung eine Prüfung oder Reinigung bedeuten, die von Schuld befreit.
Götter und Magier nutzen Verwandlungen auch, um ihre Feinde zu täuschen oder sich zu verbergen, wie Zeus’ Tierverwandlungen oder Lokis Gestaltwandlungen. Die magischen Tarnkappen oder Gewänder, die diese Verwandlungen ermöglichten, und es dem Träger erlaubten, seine Identität zu wechseln und verborgene Kräfte zu nutzen, wurden bereits beschrieben. In manchen Fällen bewirkt die Verwandlung auch eine Unsterblichkeit oder göttliche Erlösung, wie die Metamorphose des Phönix, der sich selbst erneuert, oder der Katasterimos griechischer Heroen.
Die kulturellen Überlieferungen unterscheiden verschiedene Arten der Verwandlung:
- die Verwandlung in Tiere, in Schwäne, Raben, Adler, Wölfe, meistens Symbole für Freiheit, Weisheit oder göttliche Macht. Werwölfe, Bären oder Drachen repräsentieren die animalische Triebhaftigkeit, verbunden mit Wildheit oder einem Fluch.
- die Verwandlungen durch magische Kleidung, wie Federmäntel (Schwanenjungfrauen) oder Tierfelle (die Tarnkappe Siegfrieds), verleihen übernatürliche Fähigkeiten.
- die Verwandlung in Pflanzen oder Steine, Menschen, die in Bäume verwandelt werden, wie Daphne in einen Lorbeerbaum, stehen oft für Schutz, Flucht oder göttliche Weihe. Steine oder Statuen symbolisieren häufig Trauer, Verhärtung oder die Unveränderlichkeit des Schicksals.
- die Verwandlungen von Menschen durch Geschlechtswechsel oder Unsterblichkeit, wie Teiresias, der vom Mann zu Frau wird, oder Herakles, der nach seinem Tod in den Olymp erhoben wird. Götter oder Helden, die durch ihre Verwandlung einen göttlichen Status erhalten.
Psychologisch repräsentieren Verwandlungen innere psychische Prozesse, Ängste oder Wünsche. Die Verwandlung in ein Tier kann für das Freisetzen unterdrückter Instinkte stehen (Werwolf-Erzählungen als Symbol für unkontrollierbare Triebe). Die Rückverwandlung oder Erlösung durch Liebe zeigt die Kraft von Bewusstsein und Selbstverwirklichung. Mythologisch und religionsgeschichtlich bedeuten Verwandlungen ein Mittel göttlicher Macht, um Menschen zu bestrafen oder zu segnen. Tiere oder Pflanzen sind oft heilige Symbole für spirituelle Zustände wie der Schwan für die Reinheit der Seele. Das Verwandlungsmotiv ist ein universelles Symbol für Wandel, Erkenntnis, Macht, Strafe oder Erlösung und kommt weltweit in Mythen, Sagen und Märchen, und noch immer modernen Erzählungen vor, die von antiken Götter- und Heldenmythen inspiriert sind.
Das Verwandlungsmotiv wurzelt tief in archetypischen Traditonen. Um eine hermeneutische Einsicht in die Bedeutung des Verwandlungsmotivs der Erzähltexte dieser Studie zu gewinnen, und um ein Verständnis der Sage vom Schicksal der Kinder Lirs und deren Adaptionen als Märchen oder Fantasy-Roman zu gewinnen, um einen Blick hinter die Textoberfläche zu werfen, bieten sich zwei theoretische Positionen an: die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs sowie die ethnologisch-strukturalistische Mythenanalyse Claude Levi-Strauss´. Während C. G. Jung das Motiv aus einer psychologischen und symbolischen Perspektive betrachtet, analysiert Claude Lévi-Strauss es als ein strukturelles Element in Mythen, das kulturelle Gegensätze und Bedeutungszusammenhänge vermittelt.
Das Verwandlungsmotiv in psychoanalytischer und strukturalistischer Perspektive
Die Perspektive der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs
C.G. Jung versteht Mythen, Märchen und religiöse Erzählungen als Ausdruck eines kollektiven Unbewussten, einer tiefen psychischen Struktur, die universelle Archetypen enthält. Das Verwandlungsmotiv spielt dabei eine zentrale Rolle, weil es seelische Entwicklungsprozesse und Wandlungen des Selbst symbolisiert.
Die Individuation, Jung spricht von der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und des wahren Selbst, wird oft als eine Verwandlung dargestellt, die den Konflikt zwischen Bewussten und Unbewussten auf dem Weg zur Selbsterkenntnis thematisiert. Der Held eines Erzähltexts, der eine Tiergestalt annimmt und später wieder zum Menschen wird, kann als Integration verdrängter Triebe und Schattenseiten verstanden werden. Zentral ist in diesem Verständnis der Schatten, worunter Jung verdrängte psychische Anteile versteht. Die Verwandlung in ein Monster, einen Werwolf oder eine dunkle Gestalt symbolisiert diesen Schattenaspekt der Psyche, unterdrückte Ängste, Triebe oder ungelebte Seiten des Selbst. Werwolf-Mythen als verdrängter Schatten spiegeln beispielsweise die Angst vor der eigenen animalischen Natur wider. In der Rückverwandlung zeigt die Möglichkeit, negative, verdrängte Triebe zu kontrollieren, zu integrieren oder zu subsumieren. Geschlechtsverwandlungen in Mythen wie im Beispiel Teiresias symbolisieren die Integration der gegengeschlechtlichen Anteile, der Anima beziehungsweise des Animus, während der Held, das Selbst, das Zentrum und die Ganzheit der Psyche – nicht zu verwechseln mit dem Ich. Die Schwanenjungfrauen der alt-nordischen Mythen fasst Jung als Anima-Symbole auf, den Diebstahl ihres Gefieders als die Unterdrückung des Weiblichen oder den Versuch der Seele, sich zu befreien.
Das Selbst, so wie Jung es versteht, ist die Ganzheit der bewussten und unbewussten Psyche, das archetypische Zentrum der Persönlichkeit, ein archetypisches Urbild, ein kollektives psychisches Muster, das in allen Kulturen symbolisch existiert, beispielsweise als Kreis, Mandala, göttliche Figur oder heiliger König. Das Selbst repräsentiert für Ganzheit, Integration, Transzendenz. Im Prozess der Individuation ist das Selbst der psychische Entwicklungsweg, auf dem das Ich lernt, sich dem Selbst unterzuordnen und mit dem Unbewussten in Beziehung zu treten, um die Gegensätze - Persona, Schatten, Animus oder Anima - zu harmonisieren, um eine psychische Ganzwerdung zu realisieren. Der Held eines Mythos, der das Selbst realisiert, durchläuft in der Initiation (Individuation) eine Verwandlung - vom Tod zur Wiedergeburt, die ihn stärker macht und ihm eine neue Identität gibt, was sich auch im Phönix-Motiv ausdrückt. Im Märchen Der Froschkönig verwandelt die Liebe einen Menschen, indem Trieb und Bewusstsein im Prozess psychologischer Reifung vereinigt werden: der Frosch als instinktive Natur. C.G. Jung betrachtet die Verwandlungen der Märchen und Mythen als Symbole innerer Entwicklung als Bewusstwerdung unbewusster Prozesse, die zur Integration verdrängter psychischer Aspekte führen.
Die alt-irischen Erzähltexte dieser Studie, deren Plot um ein Verwandlungsmärchen arrangiert ist, sind Das Schicksal der Kinder Lirs (Oidheadh Chlainne Lir) und Der Traum des Aonghus (Aisling Óenguso), thematisieren die Schnittstelle, den Übergang zwischen unterschiedlichen psychischen Instanzen: dem Bewussten und Unbewussten sowie dem Selbst. Das zentrale Motiv der Verwandlung der Kinder eines mächtigen Herrschers - zuerst im Schicksal der Kinder Lirs erzählt - durch eine eifersüchtige Stiefmutter in Schwäne symbolisiert eine tiefgreifende psychische Transformation, die mit dem weit verbreiteten Motiv der »Nachtmeerfahrt« der Held*innen korrespondiert, dem zentralen Element der Individuation, in der das Ich vom Unbewussten überwältigt wird und lernen muss, seine Archetypen zu verstehen und zu kontrollieren. Die Stiefmutter, eine böse Königin oder Zauberin, repräsentiert den Schatten, die verdrängten destruktiven Impulse im Unbewussten. Ihre Eifersucht ist Ausdruck unbewusster Triebkräfte, die das Bewusstsein gefährden, und ausgegrenzt, aber letztlich integriert werden müssen. Die Schwäne, deren Leben sich zwischen Himmel und Wasser abspielt, zwischen Bewusstsein und Unbewussten, symbolisieren als psychisches Zwischenstadium die Liminalität, in der der Prozess der Transformation, unabhängig von einer Wertung, stattfindet. Die Existenz Schwans als verweist auf das liminale Stadium, auf die Schwelle des Nicht-Mehr und Noch-Nicht: weder Kind noch Tier, weder Mensch noch Geist, eine archetypische Schwellenexistenz. Die Erlösung durch einen Mönch und der Übergang ins Christentum symbolisieren eine neue geistige Ordnung – die Integration des Selbst durch eine höhere Bewusstseinsebene.
Die alt-irische Erzählung Der Traum des Aonghus (Aisling Óenguso), in der Aonghus, der Gott der Liebe, von einer wunderschönen Frau, Caer Ibormeith, träumt, und sich in einen Schwan verwandelt, um mit ihr zu vereint zu sein, handelt nicht mehr von zu integrierender, psychischer Schattenmaterie, sondern von den gegengeschlechtlichen Anima-Anteilen des Träumers, die aus der Verdrängung befreit werden müssen. Der Traum als Ruf des Selbst mit den Aonghus mit seiner Anima in Kontakt tritt, um psychische Ganzheit, die Óenghus noch nicht besitzt, aber ersehnt, zu erwerben.
So verstanden, gehören diese beiden Erzähltexte in den großen Zusammenhang der Quest-Erzählungen, in diesem Fall, der Suche nach psychischer Entwicklung, die nicht unbedingt freiwillig (bewusst) angetreten wird. Den langen, mühsamen Weg zu individueller Ganzwerdung oder psychischer Gesundheit, beziehungsweise Resilienz, der Fähigkeit zur Selbsterhaltung, führt Aonghus aus dem Zustand des Begehrens in den Zustand des Werdens: Er muss selbst zum Schwan werden, um die Geliebte zu erreichen, um seine eigene Anima zu integrieren, symbolisiert durch den gemeinsamen Flug der Verliebten als Bild der Harmonie psychischer Gegensätze: das zentrale Ereignis der Individuation. In jungianischer Perspektive erzählen die beiden alt-irischen Erzähltexte in archetypischer Bildsprache vom Prozess der Individuation: Das Schicksal der Kinder Lirs vom langen Leid der Läuterung, das zur geistigen Reifung notwendig ist, Der Traum des Aonghus von der Liebe als Weg der psychischen Ganzheit und Integration unbewusster Inhalte.
Die Perspektive der strukturalistischen Mythenanalyse Claude Levi-Strauss`
In der Mythenanalyse bildet der Mythos von Asdiwal den Referenzmythos zum Verständnis für die strukturale Mythenanalyse von Claude Lévi-Strauss’ strukturalistischer Mythenanalyse. Sie stammt von den Tsimshian, einem indigenen Volk an der nordwestlichen Pazifikküste Kanadas, und wurde von dem Ethnologen Marius Barbeau gesammelt.31 Asdiwal ist der Sohn eines mächtigen Jägers (Hòdj). Eines Tages verfolgt Asdiwal die Spur eines weißen Bergziege, die ihn in den Himmel führt. Dort trifft er die Tochter der Sonne, mit der er eine Beziehung eingeht und schließlich lebt. Doch es kommt zu einem Bruch zwischen den himmlischen Wesen und Asdiwal, der ihn wieder auf die Erde führt. Tabellarisch zusammengefasst, vermittelt der Asdiwal-Mythos die folgenden zentralen Oppositionen:
Gegensatz | Bedeutung |
---|---|
Himmel versus Erde | Trennung von göttlicher und menschlicher Welt |
Jäger versus Tier | Kultur versus Natur |
Mann versus Frau | aktive vs. passive Rolle (in kosmischer Ordnung) |
Sohn versus Vater | Generationenkonflikt, Weitergabe von Kulturtechniken |
eigenes versus Fremdes | bekanntes Territorium vs. übernatürliche Sphäre |
Tabelle 1: Die binären Oppositionen des Asdiwal-Mythos
Die Rolle Asdiwals ist die einer vermittelnden Figur: Er überbrückt die Gegensätze zwischen der irdischen und himmlischen Sphäre, indem er als Mensch in den Himmel aufsteigt (Natur – Kultur – Übernatur). Asdiwal folgt einer Spur (Spur = Zeichen), was Lévi-Strauss ein Hinweis auf den Übergang von Natur zu Kultur ist, da Jagen eine Form symbolischen Handelns ist. Die Ehe mit der Sonnentochter symbolisiert die Verbindung von menschlicher und göttlicher Ordnung sowie die daraus resultierenden Konflikte.
Für Levi-Strauss’ strukturieren Mythen die Welt in Gegensätzen, indem sie versuchen, Widersprüche zwischen Natur und Kultur, Himmel und Erde, Tier und Mensch intellektuell zu bewältigen. Der Mythos von Asdiwal handelt nicht von einem Helden im modernen Sinn, sondern davon, wie man Gegensätze symbolisch vermitteln kann. Der Erzähltext ist nicht einmalig, sondern Teil eines mythologischen »Dialogs« zwischen verschiedenen Erzählungen, die Lévi-Strauss mit den Mythen anderer indigener Völker Amerikas vergleicht. Der Mythos von Asdiwal ist für Lévi-Strauss keine Erzählung über einen mythischen Helden, sondern ein »Gedankensystem«, das Widersprüche der menschlichen Existenz bearbeitbar macht:
- Mensch versus Tier,
- Kultur versus Natur,
- Erde versus Himmel und
- Individuum versus Gesellschaft.
Interpretatorisch zeigt sie, wie der Mythos als Sprache funktioniert, nicht, um Erklärungen zu liefern, sondern um Bedeutung durch Struktur zu erzeugen.
Claude Lévi-Strauss interessiert sich nicht für die psychologische oder historische Bedeutung eines Mythos, sondern für seine strukturelle Logik: die Beziehungen zwischen Gegensätzen (Binärstrukturen) und deren Vermittlungen. Seine Analyse folgt nicht dem Erzählinhalt als solchem, sondern den darunterliegenden Strukturen. Er sieht in Mythen sprachliche Systeme, die universelle Strukturen der menschlichen Wahrnehmung widerspiegeln, und argumentiert, dass Mythen kulturelle Gegensätze (Binärstrukturen) ordnen und auflösen. In vielen Mythen gibt es fundamentale Gegensätze und das Verwandlungsmotiv in strukturalistischer Sicht vermittelt zwischen Gegensätzen wie
- Mensch versus Tier,
- Kultur versus Natur oder
- Leben versus Tod.
In dieser Perspektive dient das Verwandlungsmotiv dazu, diese Gegensätze symbolisch zu überbrücken. Wenn ein Mensch beispielsweise in ein Tier verwandelt wird, bedeutet das den Übergang zwischen Zivilisation und Wildheit, Instinkt und Vernunft. Tiere sind kulturelle Metaphern, die nicht zufällig ausgewählt sind. Oft verkörpern sie Eigenschaften, die mit dem Menschen verglichen werden können, oder die Menschen sich wünschen. Schwäne stehen dabei für Schönheit, Eleganz oder Geistigkeit - die Schwanenjungfrauen oder Zeus als Schwan - während Wölfe - in den Werwolf-Mythen - Wildheit und Gefahr symbolisieren. Im Märchen Der Froschkönig, anders als bei Jung, steht der Frosch für das Rohe, Natürliche, die ungezähmten Triebe, während der Prinz das Zivilisierte repräsentiert. Durch die Verwandlung - Frosch - Prinz - wird der Gegensatz aufgelöst. Auch die Schwanenjungfrauen repräsentieren eine Grenzüberschreitung: Sie sind weder ganz Mensch noch ganz Tier und ihre Rückverwandlung in Schwäne zeigt, dass sie nicht in die menschliche Welt gehören, wie der Werwolf, in einer Zwischenwelt existieren, die den Konflikt zwischen Ordnung und Chaos symbolisch ausdrücken. Auch ihr Schicksal ist es, zwischen den Welten zu wandeln, was das gesellschaftliche Bedürfnis nach Kontrolle und Regeln widerspiegelt. Verwandlungen, so Lévi-Strauss reflektieren kulturelle Widersprüche und dienen dazu, diese aufzulösen.
Während C.G. Jung das Verwandlungsmotiv als Ausdruck innerer psychischer Prozesse sieht, betrachtet C. Lévi-Strauss es als kulturelles Instrument zur Ordnung von Gegensätzen. Beide Perspektiven ergänzen sich und zeigen, dass Verwandlungen tief in den psychischen und gesellschaftlichen Strukturen der Menschheit verwurzelt sind.
Claude Lévi-Strauss analysiert Mythen als Strukturen, die Gegensätze (Binärstrukturen) in einer Gesellschaft ordnen und vermitteln, oft fundamentale Spannungen zwischen Menschen und Natur, Diesseits und Jenseits, Realität und Traum.
In Das Schicksal der Kinder Lirs werden die vier Kinder des Königs Lir von ihrer Stiefmutter Aoife aus Eifersucht in Schwäne verwandelt. Sie müssen 900 Jahre lang auf verschiedenen Seen und Meeren Irlands verbringen, bevor sie am Ende ihrer Zeit wieder in Menschen zurückkehren – allerdings als alte, gebrechliche Wesen, die bald sterben. Nach Claude Lévi-Straus` Mythenanalyse dient die Verwandlung in Schwäne dazu, den Gegensatz zwischen Menschen und Natur, Vergangenheit und Zukunft sowie Mythos und Geschichte zu überbrücken. Lirs Kinder sind anfangs als menschliche Prinzen und Prinzessinnen Teil der menschlichen Gesellschaft und Ordnung (Kultur). Ihre Verwandlung in Schwäne trennt sie vom n der menschlichen Gesellschaft und verwandelt sie anscheinend zu einem der animalisch-unzivilisierten Natur. Doch die Schwäne sprechen und singen sie, und bewahren ihr menschliches Bewusstsein, sind also weder völlig Mensch noch völlig Tier. Dieses Schwellendasein zeigt, dass sie eine vermittelnde Rolle zwischen den Welten spielen. Ihre 900-jährige Verwandlung spiegelt eine große zeitliche Distanz in der sie über Generationen hinweg den Wandel Irlands erleben: von der alten mythischen Ordnung bis hin zum christlichen Zeitalter. Die Lirs Kinder werden auf diese Weise zu einem Symbol der Vergänglichkeit und des Verschwindens der alten Welt. Ihre Verwandlung wird als Bann verhängt, der nicht mit einer Erlösung und triumphalen Rückkehr endet, wie in den drei Adaptionen der Sage, sondern mit dem Tod der Kinder als alte Menschen. Das Schicksal der Kinder Lirs bietet alles andere als die einfache Auflösung des Happy Endings an, sondern thematisiert eine tiefe Auseinandersetzung mit Verlust, Wandel und Unumkehrbarkeit. Ihr Leidensweg symbolisiert Irlands spirituellen Übergang in eine neue Zeit, erleichtert es den Rezipienten dem kulturellen Wandel, denn sie erleben einen Sinn zu verleihen: den Übergang von einer in die andere Weltanschauung.
Claude Lévi-Strauss zeigt in seiner Mythenanalyse, dass diese Erzähltexte nicht nur Geschichten sind, sondern Modelle, mit denen Kulturen ihre Welt verstehen und ordnen. Der Mythos Der Traum des Aonghus lässt sich als ein Modell interpretieren, das den Rhythmus der Natur, der Jahreszeiten, der Transformationen sowie der Wiedergeburt erklärt. Der Gott Aonghus träumt, dass eine wunderschöne Frau, Caer Ibormeith, in sein Zimmer kommt. Er verliebt sich unsterblich in sie, doch als er erwacht, ist sie verschwunden. Nach langer Suche erfährt er, dass sie in jeder Samhain-Nacht mit anderen Jungfrauen in einen Schwan verwandelt wird. Als er sie schließlich findet, verwandelt er sich selbst in einen Schwan, um mit ihr gemeinsam davonzufliegen. Im Kontext der levi-strauss´schen Mythenanalyse lassen sich vier binäre Motive isolieren:
Traum : Realität
Der Mythos beginnt mit einem Traum, der nicht von der Realität zu trennen ist. Aonghus` Suche ist die Quest von der inneren Welt, dem Traum, der Imagination, in die äußere Welt der materiellen Realität. Die Lösung des Konflikts geschieht nicht, indem er sie zurückholt, sondern indem er sich selbst in einen Schwan verwandelt. Die Erzähltext bietet ein vermittelndes Modell zwischen zwei verschiedenen Seinszuständen, zwischen Traum und Wirklichkeit.
Mensch : Tier
Caer Ibormeith ist weder ganz Mensch noch ganz Tier (Schwan), sondern ist ein liminales Schwellenwesen, das kann zwischen verschiedenen Realitäten wechseln kann. Aonghus kann diesen Gegensatz nur überwinden, indem er sich freiwillig in einen Schwan verwandelt. Während die Kinder Lirs zur Verwandlung gezwungen werden, entscheidet sich Aonghus aus Liebe für eine Anpassung an eine andere Realität. Seine Verwandlung ist hier kein Fluch, sondern eine Wahl für den Übergang in eine andere Daseinsform.
Liebe : Transformation
In vielen Mythen wird Liebe als Wandel und Veränderung dargestellt. Aonghus` Schwanenverwandlung zeigt, dass Liebe nicht bedeutet, den anderen zu besitzen, sondern sich ihm anzupassen und mit ihm zu verschmelzen. Der Mythos bietet damit eine andere Lösung für kulturelle Gegensätze: Nicht Dominanz, sondern Harmonie durch Anpassung.
Jahreszeit : mythische Wiederkehr
Der Sachverhalt, dass Caer Ibormeith jedes Jahr in Samhain zur Schwanenfrau wird, weist auf die zyklische Struktur hin, die Mythen häufig verwenden, um wiederkehrende Muster darzustellen, um Ordnungen in der Welt verständlich zu machen.
Aspekt | Kinder Lirs | Traum des Aonghus |
---|---|---|
Verwand-lungstyp | erzwungene Verwandlung (Fluch) | freiwillige Verwandlung (Liebe) |
Mensch vs. Tier | Lirs Kinder bleiben in den Tierkörpern gefangen, sprechen aber noch | freiwillige Verschmelzung mit dem Tierreich als Liebesakt |
Natur vs. Kultur | die Schwäne Schwellenwesen zwischen den Welten | Vereinigung von Mensch und Tier als harmonische Lösung |
Zeit und Zyklust | 900 Jahre des Leidens, bevor sie sterben | jährlicher Zyklus, aber ein glückliches Ende |
Schwanen-symbolik | Leid, Verbannung, Vergänglichkeit | Liebe, Einheit, Überwindung der Trennung |
Tabelle 2: Das Schicksal der Kinder Lirs versus Der Traum des Aonghus
Die Sage Das Schicksal der Kinder Lirs thematisiert mit der Schwanenverwandlung Verlust, Exil und die Unüberbrückbarkeit der Gegensätze zwischen Mensch : Natur, zwischen ethnischer Religiosität : Christentum. Im Mythos Der Traum des Aonghus fasst die Verwandlung dagegen als positive Transformation auf, die den Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit auflöst. Beide Mythen benutzen die Metapher der Verwandlung als Mittel zur Vermittlung kultureller Gegensätze, kommen aber auf ihre Weise zu unterschiedlichen Ergebnissen: Tragik : Harmonie.
Auch die bereits angesprochenen Schwanenjungfrauen der Völundarkviða, der Mythos von Leda und dem Schwan oder die Schwanenverwandlung des Orpheus lassen sich in der analytischen Perspektive der Levi-Strauss`schen Mythenanalyse als Ausdruck binärer Oppositionen verstehen, mit denen Mythen kulturelle Widersprüche symbolisch verarbeiten. In der Theorie des Strukturalismus sind Mythen keine individuellen oder psychologischen Ausdrucksweisen, sondern kulturelle Systeme, die universelle Gegensätze thematisieren.
Die Völundarkviða behandelt fünf Gegensatzpaare, die die Bedeutung der narrativen Motive entschlüsseln helfen, und die als kulturspezifische Konventionen gelten können - Mensch : Tier :: Sesshaftigkeit : Nomadentum :: männlich : weiblich :: Natur : Kultur :: Bindung : Freiheit, wobei sich die einzelnen Paarbildungen gegenseitig entsprechen - beziehungsweise erklären- und eine Opposition für eine andere stehen kann. Die Frauen erscheinen als Schwäne Strand, sind weder ganz Mensch noch Tier (Mensch : Tier). Die Männer sind als Schmiede kreative Schöpfer kultureller Güter, die Frauen dagegen frei und schöpferisch unproduktiv (männlich : weiblich). Die Männer zwingen sie in eine häusliche Bindung, aber die Frauen fliegen fort, entkommen ihnen wieder (Sesshaftigkeit : Nomadentum). Die Männer binden, die Frauen lösen sich (Bindung : Freiheit). Die Schwanengestalt thematisiert zuletzt den Gegensatz zwischen einem freien, unkontrollierbaren Leben (Forum) und der häuslichen Bindung und kreativen Produktivität (Atrium) und gegenüber (Natur : Kultur).
Der Mythos von Leda und dem Schwan thematisiert, geringfügig variiert, vergleichbare binäre Paare wie die Völundarkviða - Gott : Mensch :: Tier : Mensch : Gewalt : Begehren :: Natur : Kultur :: Chaos : Ordnung. Zeus, die Personifizierung göttlicher Atmosphären nähert sich der sterblichen Leda (Gott : Mensch). Er nimmt dazu die Tiergestalt des Schwans an, und überschreitet eine Grenze (Mensch :: Tier). In der Mischform unklarer Grenzen zwischen erotischer Vereinigung und Übergriff, befriedigt er ungebeten seine Bedürfnisse (Gewalt : Begehren), und zeigt mythischer Helden durch eine transzendente Begegnung (Natur : Kultur), insbesondere die Geburt der Helena als Vorbote des trojanischen Kriegs (Chaos : Ordnung).
Der direkte Vergleich des griechischen und alt-nordirischen Erzähltexts wirft nicht nur einen Blick auf den interkulturellen, indoeuropäischen Kontext, sondern ebenfalls auf die Variationsbreite, auf die Unabhängigkeit des Motivs von Inhalt:
Verwandlung
Während es in der Völundarkviða in der Natur der Schwanjungfrauen liegt, die Freiheit des Gestaltwandels zu besitzen, ist es in Leda und der Schwan der Mann (Gott), der die Macht des Gestaltwandels, die Schwanengestalt, zur Täuschung und Durchsetzung seiner Interessen nutzt. Der Schwan ist in beiden Erzähltexten ein liminales Wesen, Vermittler zwischen den antagonistischen Sphären: göttlich, tierisch, menschlich, erotisch.
narratives Motiv
Der Prolog der Völundarkviða erzählt vom Gewinn und Verlust der Geliebten, Leda und der Schwan dagegen von überlisteter Vereinigung und gewaltsamen Übergriff.
Opposition weiblich–männlich
In der Völundarkviða geht es um weibliche Freiheit versus männliches Festhalten, in Leda und der Schwan um weibliche Passivität versus göttlich-männliche Gewalt.
Natur versus Kultur
In der Völundarkviða verlassen die Frauen den Kulturraum (Haus und Atrium), um gemäß ihrer Natur, dem Flug, zu leben, während in Leda und der Schwan eine Naturgewalt menschliche Ordnung durchbricht.
Funktion des Mythos
Das Thema des Prologs der Völundarkviða, dass sich später in Völunds Vergewaltigung von Níðuðrs Tochter wiederholt, behandelt den Anspruch auf die Unverfügbarkeit des Weiblichen, anders in Leda und der Schwan, wo es um die Legitimation der göttlichen Herkunft mythischer Protagonisten geht.
Die beiden Beispiele belegen anschaulich, dass Mythos nicht versuchen, diese Widersprüche zu lösen, sondern ihre Funktion ist es, diese Gegensätze zu vermitteln. Beide Mythen benutzen die Schwanenverwandlung, um den Übergang zwischen den Sphären darzustellen: zwischen Göttern und Menschen, Männern und Frauen, Ordnung und Chaos. Dem Schwan kommt dabei die Funktion als symbolisches Instrument zur Vermittlung unvereinbarer Gegensätze. Die Wahl des Schwans als Medium ist nicht beliebig, ist er doch als Grenzgänger zwischen Luft und Wasser, also per Definition ein liminales Wesen. In beiden Mythen wird die Schwanenverwandlung als Symbol für eine Grenzüberschreitung verwendet. In der Völundarkviða reflektiert sie den Verlust und die Unerreichbarkeit des Weiblichen, ein kultureller Konflikt zwischen Bindung und Freiheit, in Leda und der Schwan steht die Szene für den Einbruch göttlicher Macht in die menschliche Welt, mit tiefgreifenden Folgen für Kultur und Geschichte. Die Funktion des Mythos zur Verarbeitung kultureller Spannungen zwischen dem Wunsch nach sozialer Ordnung (Haus, Ehe, Bindung) und der Erfahrung von Bindung, Verlust und dem Recht auf individuelle Entscheidung und Freiheit im narrativen Motiv der Schwanengestalt versöhnt menschlich-kulturelle Errungenschaften mit den ungezähmten Affekten instinktiver Bedürfnisse, das Menschliche mit dem Tierischen, und ermöglicht letztlich die Begegnung mit dem Numinosen (Walküren, Zeus).
Nachdem Orpheus erfolglos aus dem Reich des Hades zurückgekehrt ist, hat er die gelebte Eurydike endgültig verloren. In seiner Trauer zieht er sich von den Menschen zurück, wird schließlich von den rasenden Mänaden zerrissen, nach seinem Tod in einen Schwan verwandelt und Sternbild Cygnus verewigt. Claude Lévi-Strauss, der Mythen als Systeme analysiert, die Gegensätze ordnen und vermitteln, interpretiert die Verwandlung im Orpheus-Mythos endgültigen Übergang von der menschlichen zur natürlichen Welt: Mensch : Tier :: Kultur : Natur. Durch seine Kunst, Musik und Sprache, verkörpert Orpheus auf ideale Weise Kultur. Seine Musik symbolisiert Harmonie und Ordnung, die durch sein Verstummen nach Eurydikes Verlust gestört werden. Schwäne sind oft mit Musik und Schönheit verbunden, besondere durch die Vorstellung des Schwanengesangs, des eines letzten, besonders ergreifenden Liedes vor dem Tod. Seine Verwandlung in einen Schwan grenzt an die Vorstellung, dass seine Musik auch im Tod nicht vergeht, sondern in anderer Form weiterlebt. Die Mänaden, die ihn zerreißen, repräsentieren die rohe, ekstatische Kraft des Dionysischen, des Chaos und der Unkontrollierbarkeit von Affekten, während der Schwan ein Symbol der Reinheit und Erhabenheit ist. Orpheus Verwandlung in einem Schwan als Reinigung und Transformation aus der chaotischen Welt des Dionysischen verstanden, öffnet die Möglichkeit einer höheren, transzendenten Sphäre.
Sein Mythos selbst ist von diesem starken Antagonismus geprägt: Orpheus bewegt sich zwischen Leben und Tod, Licht und Dunkelheit. Seine Schwanenverwandlung vermittelt einen Kompromiss zwischen diesen Gegensätzen, er bleibt zwar nicht länger Mensch, stirbt aber auch nicht wirklich, indem er der Vergessenheit ausgeliefert wird. Als Verstirnung (Katasterismos) in einem Sternbild Cygnus entsteht eine Aussöhnung zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Erst die Schwanenverwandlung löst die Gegensätze des Mythos auf: Mensch : Natur :: Leben : Tod :: Chaos : Harmonie. Gleichzeitig erklärt der Mythos den Ursprung eines Sternbildes und verleiht Orpheus eine ewige, kulturelle Bedeutung. Orpheus Verwandlung in einen Schwan ist keine Strafe, sondern ein symbolischer Übergang in eine höhere Ordnung.
Vom Weben magischer Kleidung
Vom Weben magischer KleidungEine Analyse der zentralen, narrativen Motive der Versionen der Lir-Sage wirft die Frage nach den Techniken auf, die dazu geeignet sind,
- Menschen in Schwäne zu verwandeln und
- mittels magischer Kleidungsstücke den Verwandlungsbann zu brechen?
Die Ethnologie hat weltweit eine Praxis beobachtet, von denen die Kulturteilnehmer annehmen, dass sie solche Handlungen bewerkstelligen können: die Zauberei, eng mit der Hexerei verbunden und als Schadenszauber konnotiert, die mit Hilfe magischer Techniken in der Lage sind, die Grenze zwischen den Wirklichkeiten - Natur : Kultur, Mensch : Tier usw. - zu überwinden.
In den Versionen der Lir-Sage verwenden die Zauberinnen eine magische Technik zur Aktivierung ihres Banns, die in der Kombination von bestimmten Pflanzen, Handlungen (Weben) und bindenden Tabus (Schweigegebot) besteht, die bereits beschrieben wurden; in der Version von Juliet Mariller die Rezitation von Formeln. Ich habe auch bereits erörtert, dass die ursprüngliche Fassung der Lir-Sage das Motiv der magischen Kleidung nicht kennt, dass eine Besonderheit der Adaptionen darstellt. Bei der magischen Technik der Verfluchung, wie sie in den anderen Erzähltexten geschildert wird, fällt allerdings ein bemerkenswerter Unterschied auf: die Flexibilität der Pflanzenfasern, die zur Herstellung der magischen Hemden verwendet wird, variiert von Version zu Version. Zur Diskussion stehen Sternblumen (Grimm), Brennesseln (Andersen) oder Mieren (Marillier). Doch welche Pflanze ist gemeint, der zugetraut wird, einen magischen Bann wie den Verwandlungszauber zu brechen?
Die Grimm-Brüder nennen in ihrem Volksmärchen von den sechs Schwänen die Pflanze, die zur Herstellung der magischen Hemden verwendet werden muss, Sternblume, ohne eine genauere botanische Beschreibung anzugeben, was in einem Märchen auch seltsam anmuten würde. In der deutschen Pflanzenkunde weist dieser Name auf verschiedene Pflanzen hin:
- Zuallererst kommt die Sternmiere (Stellaria holostea) in Betracht, was sich gleich noch als problematisch erweisen wird. Diese Pflanzenart mit den sternförmigen Blüten kommt in Europa häufig vor.
- Allerdings werden auch Aster-Arten manchmal Sternblumen genannt, die ursprünglich aus Nordamerika kamen, sich aber in Europa eingebürgert haben.
- Aber auch die Sumpf-Wolfsmilch (Euphorbia palustris) mit ihren sternförmigen, gelben Blüten heißt volkstümlich Sternblume.
Die als »Sternblumen« bezeichneten Aster-Arten kamen erst im 19. und 20. Jahrhundert nach Europa und gelten heute als invasiv. Da die Grimms haben ihre Märchen jedoch im frühen 19. Jahrhundert gesammelt haben, die erste Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen erschien 1812, ist es eher unwahrscheinlich, dass diese Pflanzen ihre Sternblumen sind. Die Frage ist also: Wie kamen die Grimms auf »Sternblumen« und welche Pflanze haben sie gemeint? Die Informanten der Grimms, die ihre Märchen in einem volkstümlichen Milieu sammelten, waren keine Intellektuellen und stammten aus der gewöhnlichen Bevölkerung, die die damals gebräuchlichen, volkstümlichen Pflanzennamen verwendeten. Der wahrscheinliche Ursprung ihrer »Sternblumen« ist deshalb in der Sternmiere (Stellaria holostea) zu suchen, deren kleine, sternförmige weiße Blüten, die mit Reinheit, Unschuld und Licht assoziiert werden können, metaphorisch am ehesten zur Reinheit und Unschuld ihrer Märchenstimmung passt. Die sternförmigen Blüten repräsentieren die Unschuld der Heldin und ihre reine Liebe zu den Brüdern. Sterne bedeuten oft Hoffnung, die Überwindung der Dunkelheit, passend zu einer Geschichte über die Aufhebung eines Fluchs.
Handelt es sich bei den »Sternblumen« der Grimms um die Sternmiere, löst sich auch das seltsame Rätsel um die Haut verätzenden »Mieren«, aus denen Sorcha in Juliet Marilliers Roman die Hemden für ihre Brüder weben muss. In der deutschen Übersetzung von Marilliers Roman Daughter of the Forest hat Regina Winter Starwort mit Miere übersetzt. Das ist so weit auch in Ordnung, denn das englische Starwort meint tatsächlich die Sternmiere (Stellaria holostea), eine Vertreterin der weltweit verbreiteten Familie der Mieren. Nur: Mieren brennen nicht, wenn man sie anfasst. Die meisten Arten, wie die Vogelmiere oder Sternmiere, haben weiche Stängel und Blätter, die sich eher zart und glatt anfühlen. Sie sind ungiftig und werden sogar oft als essbare Wildkräuter genutzt. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass sie Stengel der Sternmiere (Stellaria holostea) weich sind, und auf der Haut nicht brennen, wie es in der deutschen Übersetzung heißt: ein glühend heißes Stechen; meine Hand, die dabei war, zu schwellen und eine beunruhigende Rotfärbung anzunehmen. Wie alle Arten der Gattung Wolfsmilch enthält auch Euphorbia palustris einen gelblichen, milchigen Saft, einen Ester des 20-Desoxyingenol, dessen ätzende und hautirritierende Wirkung im Vergleich zu anderen Arten der Gattung mild eingeschätzt wird. Die Pflanze, die Sorcha in Daughter of the Forest verwebt, ist die Sumpf-Wolfsmilch (Euphorbia palustris), produziert diesen ätzenden, giftigen Milchsaft. Sorcha hat die Pflanzen, die ihre Haut reizten, am See von Sevenwaters gepflückt und später erntet sie diese in einem feuchten Flusstal in Harrowfield. Das Verbreitungsgebiet der Sumpf-Wolfsmilch erstreckt sich von Europa nach Asien bis ins südöstliche Sibirien und ins Altaigebirge. Die Pflanze wächst in der Tat entlang von Flussufern, an Altwassern und Seen. Bei den »Mieren« in Sevenwaters handelt es sich um die Sumpf-Wolfsmilch, die bei einem Kontakt mit der Haut brennende Schmerzen, Rötungen und Schwellungen verursacht, genau solche, die Sorcha erleidet. Die Beschreibung in der zitierten Szene passt perfekt zu einer Wolfsmilch-Reaktion - The pain in my hand was like fire – a white-hot agony . . . die charakteristischen Symptome beim Kontakt mit der Wolfsmilch. Interessanterweise wurde Wolfsmilch in der älteren Volkskunde ebenfalls als Starwort bezeichnet, was die Verwechslung erklärt.32
Die Veränderung, die Hans Christian Anderson hinsichtlich der Pflanzen vornahm, der die harmlosen Sternmieren in die Haut ätzenden Brennnessel verwandelt hat, ist leicht zu verstehen, steigert seine narrative Strategie doch die Spannung und Dramatik der Erzählung. Und er erzeugt mit dieser Änderung einen weiteren dramaturgischen Effekt: er führt nämlich das Nesselhemd-Motiv der Läuterung durch Schmerzen ein, das dem Hemd des Kentauren Nessos, dessen Namen es trägt, der Dornenkrone des Nazareners und Andersons christlicher Einstellung verpflichtet ist. (Brenn-)Nesselhemden sind ein Instrument magischer Vergiftung, ein Kleidungstück, dass mit magischer Kraft oder Pflanzengift rituell aufgeladen wurde. Brennnessel sind Wildkräuter mit stechenden und brennenden Eigenschaften. Beim Pflücken und Verarbeiten verursachen sie Schmerzen und Wunden. Im christlichen Kontext lassen sie sich mit den Arma Christi, mit den Leidenswerkzeugen, den Waffen, Foltergeräten oder anderen kultischen Objekte vergleichen. Ihr Zweck besteht darin, (entsetzliche) Schmerzen zu verursachen, zur Reinigung oder zur Buße, bei Herkules als Strafe für den Totschlag an Nessos und bei Jesus und den unschuldigen Heldinnen der Verwandlungsmärchen als Opfer (Prüfung) für die Erlösung der Brüder respektive der Menschheit. Brennnessel wachsen ungeordnet und oft dort, wo sonst wenig gedeiht. Sie symbolisieren Naturverbundenheit, den Wald als Zufluchtsort und die wilden Pflanzen als Werkzeuge stehen für die Verbindung zur Naturmagie. Die Protagonistinnen müssen in die Wildnis und mit dem arbeiten, was die Natur bietet, ohne kultivierte, zivilisierte Hilfsmittel. Brennnessel symbolisieren die rohe Magie der Natur, die weder gut noch böse ist, sondern nur ungezähmt mächtig. Das Sammeln und Weben dieser Pflanzen steht für das stille Leiden und die Hingabe der Heldinnen Sorcha oder Elisa, die bereit sind, Schmerzen zu ertragen, um ihre Brüder zu retten. In der mittelalterlichen christlichen Symbolik bedeutet Leiden oft Reinigung durch Schmerz. Doch auch Herkules’ freiwilliger Tod auf dem Scheiterhaufen führt zu seiner Erlösung und Vergöttlichung – ähnlich wie das Weben der Nesseln (Mieren) zur Erlösung der Brüder führt. Das Nesselhemd des Herkules demonstriert die dunkle Seite dieses Motivs: Verrat, Schmerz und Läuterung durch den Tod. In den Verwandlungsmärchen zeigt es dagegen die helle Seite: Leiden für die Liebe und Erlösung durch Opferbereitschaft. Das Weben der magischen Hemden aus diesen Pflanzen erfordert Zeit, Geduld und insbesondere Schweigen. Die Ausdauer der Protagonistinnen im Weben, ihre schweigsame Arbeit in der Stille des Waldes oder einer abgeschiedenen Kammer, weisen darauf hin, dass Worte nicht nötig sind, um Großes zu erreichen, und unerschütterliche Treue zu den Brüdern zu beweisen: Vollendung durch Geduld.
Die Frage, warum unterschiedliche Pflanzen ausgewählt wurden, ist nicht nur an sich interessant, sie stellen ebenfalls eine Signatur des jeweiligen Zeitgeists dar. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Sinnpflege Autor*innen dieses Motiv an die unterschiedlichen Lebenswelten angepasst, damit die latente Botschaft auch von Menschen so unterschiedlicher Kulturen verstanden und angenommen werden konnte, wie der alt-irischen oder christlichen. Seinen bisherigen Abschluss findet das Motiv in Juliet Marilliers Roman. Die Genese des Motivs beginnt dem Leid der Verbannung aller Kinder Lirs, ohne das magische Kleidung oder Gift auslösend sind. Die Grimm-Brüder ergänzen die Herstellung magischer Hemden aus den eher harmlosen Sternblumen (Sternmieren), und legen den Fokus des Opfers (Prüfung) auf das Schweigegebot. Auch davon ist im alt-irischen Ursprung nirgendwo die Rede. Hans Christian Anderson wählt ganz im Sinne von christlicher Passion und Erlösungsglauben die ätzenden Brennnesseln aus, und bringt mit ihnen Schmerz und Leid als Quelle der Erlösung ins Spiel, wovon die grimmsche Version wiederum nichts weiß. Juliet Marillier vermischt die Pflanzen von Grimm und Anderson in ihrem Roman. Sie übernimmt von den Grimms den Namen der Pflanze (Starwort = Miere), ergänzt um Schmerz, Leid und Läuterung als Mittel zur Erlösung wie bei Anderson, was letztlich zu dem kuriosen Missverständnis bei der Übersetzung führt, die die harmlose Miere der Qualen beschuldigt, die Sorcha erleiden muss.
Das Motiv des glücklichen Endes
Ein weiterer, dramatischer Unterschied zwischen der Lir-Sage und ihre drei Adaptionen liegt in der Unterschiedlichkeit des Happy Ending. Die Sage von den Kindern Lirs kennt kein Happy End in unserem Sinn, denn sie schließt nicht mit: Sie leben glücklich bis an Ende ihrer Tage. Diese Wendung, dieses Bedürfnis, ist kulturspezifisch und eine Innovation der Volksmärchen und der romantischen Kunstmärchen. In ihrem Fantasy-Roman Tower of Thorns legt Juliet Marillier ihrem Erzähler Grim die Antwort auf diese Frage in den Mund: About happy endings. Folk like a story to finish well. Doesn’t matter if that’s true to life or not. [...] Thing is, the story’s like a different world. While you’re in it, anything can happen. The stupid get wise, the ugly get handsome, the poor find pots of gold, the swineherd marries the lady of the house. Only, as soon as the tale’s over, that’s all gone. You’re back in this world.33 Ein Happy End gibt es nur in Erzählungen, nicht im wirklichen Leben. Deshalb brauchen Menschen die Erzählungen, damit die Hoffnung nicht stirbt. Was unterscheidet die mittelalterliche, keltische von unserer abendländisch-christlichen Kultur, dass die Frage eines glücklichen Endes in ihren Erzählungen nicht so relevant ist.
Das anscheinende Happy Ending der Sage Das Schicksal der Kinder Lirs, das darf nicht übersehen werden, ist eine nachträgliche, christliche Manipulation. Der Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach der Unterschiedlichkeit des Happy Ending liegt aber bereits im Begriff Oidheadh im Titel der Sage, der nicht nur als Schicksalsschlag, sondern auch als Tod oder Trauer übersetzt werden kann. Ohnehin durchzieht die Sage, anders als die drei Adaptionen, bereits von Beginn an eine melancholische Atmosphäre der Vergeblichkeit, die durch das christlich geprägte Happy End gebrochen wird. Vermutlich ist dieser Sachverhalt so zu erklären, dass dieser Beinahe-Fatalismus des alt-irischen Originals für die christlich sozialisierten Autor*innen unerträglich war, deren Weltbild auf dem Glauben an die Vorherbestimmung zur Erlösung, dem Versprechen des Golgathaopfers, beruhte.
Die eigentlich spannende Frage, die sich aus dem Fehlen eines Happy Ends ergibt, liegt in der unterschiedlichen Akzentuierung des Schicksalsverständnisses, der Qualität des Schicksalsglaubens, der beiden kulturellen Systeme. Der keltische und der christliche Schicksalsglaube unterscheiden sich grundlegend in ihrer Weltsicht, ihrem Gottesverständnis und ihrer Vorstellung von menschlicher Freiheit. In der keltischen Mythologie ist das Schicksal oft mit göttlichen oder übernatürlichen Kräften verbunden. Ein zentrales Konzept ist die Geis, ein persönliches Tabu oder eine Verpflichtung, deren Bruch tragische Konsequenzen nach sich ziehen kann. Das Schicksal (Geis) wurde als vorbestimmt und durch übernatürliche Kräfte gelenkt aufgefasst, konnte aber durch Orakel, Weissagungen oder magische Praktiken aufgedeckt oder beeinflusst werden. Das Leben konnten durch Flüche, Schwüre oder Prophezeiungen vorherbestimmt sein, wodurch der freie Wille begrenzt wurde. Menschen konnten durch Rituale oder Magie versuchen, das Schicksal zu beeinflussen, aber diese Mächte waren oft unberechenbar. In der keltischen Weltanschauung war der Tod Teil des zyklischen Weltbildes. Die Kelten glaubten an die Wiedergeburt und eine jenseitige Welt (wie die Anderswelt, Tír na nÓg). Ihr Schicksal endete nicht mit dem Tod, sondern setzte sich in anderen Formen oder Welten fort.
Das Táin Bó Cúailnge (Der Rinderraub von Cooley) ist ein zentrales Werk der alt-irischen Mythologie, das vom Helden Cú Chulainn erzählt, dessen Leben und Tod durch Prophezeiungen bestimmt ist. Die Geschichten betonen die Unvermeidlichkeit des Schicksals, das eng von der Geis und von magischen Geboten abhängt, die sein Verhalten bestimmen. So ist es ihm verboten, Hundefleisch zu essen, was schließlich zu seinem Tod führt. Sein Schicksal ist unausweichlich, und er stirbt einverstanden aufrecht an einen Stein gebunden. Keltische Märchen handeln oft von Begegnungen mit der Anderswelt, magischen Wesen und Prüfungen, die das Schicksal der Protagonisten beeinflussen. Sie spiegeln den Glauben an eine zyklische Weltordnung und die Möglichkeit, durch Mut und Klugheit das eigene Schicksal zu gestalten.
Die christliche Schicksalsvorstellung hat diese Einstellung dem Schicksal gegenüber überwunden. Im christlichen Kontext wird das Schicksal als Teil des göttlichen Plans betrachtet, wobei der Mensch durch freien Willen und moralisches Handeln Einfluss auf sein ewiges Schicksal nehmen kann. Im Zentrum steht die göttliche Vorsehung, ohne den freien Willen des Menschen aufzuheben. Sein Schicksal ist weniger starre Vorherbestimmung, sondern göttlicher Plan, den der Mensch durch sein Handeln mitgestalten kann. Letztlich geschieht alles in Übereinstimmung mit Gottes Willen. Trotz dieser absoluten, göttlichen Macht bleibt der Mensch frei und verantwortlich für sein Handeln. Er kann sich für das Gute oder das Böse entscheiden, selbstverantwortlich und frei. Auch Leid und Unglück haben im christlichen Verständnis einen tieferen Sinn, wie etwa zur Prüfung oder Läuterung des Glaubens. In der christlichen Lehre bestimmen Lebenswandel und Glaube das ewige Schicksal des Menschen. Der Weg des Schicksals ist linear, nicht länger zyklisch: Himmel, Hölle und Fegefeuer sind die Optionen für die Seele: keine Wiedergeburt, sondern ewiges Leben oder Verdammnis, und erst recht keine ewige Wiederkehr. Mit dem Tod endet das Leben auf der Erde, und die Seele geht, nach christlicher Überzeugung, in die Herrlichkeit Gottes ein, wo sie für alle Zeit verweilt. Das Schicksal wird nicht länger von blinder Macht oder dem Zufall bestimmt, sondern ist in die Hoffnung auf Erlösung und ewiges Leben durch Jesus Christus eingebettet.
Das althochdeutsche Gedicht Muspilli aus dem 9. Jahrhundert beschreibt den Weltuntergang und das Jüngste Gericht. Es thematisiert die Verantwortung des Einzelnen für sein Seelenheil und die Konsequenzen göttlicher Gerechtigkeit. Auch Goethe konfrontiert Faust mit Fragen von Wissen, Macht und Erlösung. Der Prolog im Himmel stellt Fausts Schicksal als Teil eines göttlichen Plans dar, wobei sein Streben und seine Entscheidungen letztlich zu seiner Erlösung führen. Auch Dante wird in der Göttlichen Komödie von göttlicher Vorsehung durch die drei Reiche des Jenseits geführt (Hölle, Fegefeuer, Paradies). Auch John Miltons episches Gedicht Paradise Lost, dessen Thematik Phillip Pullman in seiner Trilogie His Dark Materials kongenial neu aufgelegt hat, erzählt vom Fall Luzifers und der Menschheit im Spannungsfeld zwischen göttlicher Vorsehung und freiem Willen erzählt. Obwohl Franz Kafkas Der Prozess kein religiöser Erzähltext ist, reflektiert sein Roman christliche Schicksalsvorstellungen durch die undurchdringliche, schicksalhafte Justiz, einem unsichtbaren Gericht, dem Josef K. ausgeliefert ist, ohne seinen Verstoß gegen ein Gesetz zu kennen.
Der keltische und der christliche Schicksalsglaube teilen die Vorstellung einer Vorherbestimmung, nur ist diese nicht von gleicher Qualität, und führt auch nicht ans gleiche Ziel. Das aufgepfropfte Happy End der Taufe in Das Schicksal der Kinder Lirs wirkt atmosphärisch wie ein Fremdkörper. Es passt besser zu den Adaptionen der Sage, die bereits mit dem Versprechen der magischen Hemden und der Prüfung des Schweigegebots auf ein glückliches Ende hinweisen, narrative Motive, die dem alt-irischen Modell fehlen. Es ist diese christliche Melange aus Bestimmung und freiem Willen, die bei Grimm, Anderson und Marillier die Erlösung der Brüder bewirken. In der keltischen Ur-Version erfüllen die Kinder Lirs ihr Schicksal bis zum bitteren Ende, dass ihnen durch den Fluch vorherbestimmt und auferlegt wurde. Eine Lösung des Verwandlungszaubers ist nicht vorgesehen. Melancholie und Akzeptanz, und nicht die Hoffnung auf eine Erlösung, bestimmen die Atmosphäre der alt-irischen Sage, eine Stimmung, die die christliche Taufe aufhebt. Die Hingabe an das Schicksal, ohne eine eigene Wahl, weitaus kompromissloser als bei den Kelten, durchzieht die alt-germanische Literatur als ein strenger, nicht zu wendender Fatalismus. Der Schicksalsglaube der Germanen war auf ein kosmisch-fatalistisches Ende bezogen, fest bestimmt durch die Nornen, dem selbst die Götter unterworfen waren. Die Seherin weissagt im eddischen Gedicht: Ich sah Balder, dem blutenden Gott, Oðins Sohne, Unheil bestimmt: ob der Ebne stand aufgewachsen der Zweig der Mistel, zart und schön. Ihm ward der Zweig der zart erschienen, zum herben Harmpfeil: Höður schoss ihn; und Frigg weinte in den Fensälen um Walhalls Weh – wißt ihr noch mehr.34 Ein Bild des »webenden Schicksals« das auf die Nornen verweist, die die Lebensfäden spinnen und durchtrennen. Der alt-germanische Fatalismus betont ausdrücklich, dass niemand seinem Schicksal entkommen kann.
Die Omnipotenz eines Happy Endings in unserer Kultur stellt eine äußerst spannende Frage: Lässt sich das Happy End in zeitgenössischen, literarischen und filmischen Erzählungen als ein Zeichen des Unbehagens, vielleicht sogar der Unfähigkeit, Tragik, Trauer und Tod zu ertragen, bewerten. Das Heilsversprechen eines paradiesischen, jenseitigen Lebens nach dem Tod, letztlich die Überwindung des Tods, liegt der keltischen und germanischen Weltanschauung ferner als der Mond. Eine oberflächliche Betrachtung der Populärkultur zeigt, dass das Happy End nahezu allgegenwärtig ist. Liebesfilme enden mit einer glücklichen Vereinigung, Abenteuer mit einem Triumph der Held*innen, und in Beziehungsdramen kehrt am Ende Harmonie ein. Diese Erzählungen vermitteln das Gefühl, dass das Gute schließlich über das Böse siegt und dass jedes Leid seinen Sinn hat. Ein solches Muster ist nicht nur ein kommerzielles Kalkül der Unterhaltungsindustrie, sondern spiegelt auch ein tief verankertes Bedürfnis der Menschen nach Hoffnung wider. Das Konzept der poetischen Gerechtigkeit, das sich bereits in der Poetik des Aristoteles findet, besagt, dass Tugend belohnt und Laster bestraft werden muss, eine Plotstrategie die dann konsequent im Happy Ending resultieren muss. Diese Vorstellung unterstützt einen Gerechte-Welt-Glauben, die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die davon ausgeht, dass die Welt gegen alle Widerstände gerecht ist und jeder das erhält, was er verdient. Dieses Prinzip kann erklären, warum Happy Ends in Buch und Film seit Jahrzehnten ein Garant für erfolgreiche Erzählungen sind. In literarischen und filmischen Erzählungen beansprucht das Happy End eine zentrale Stellung als Schluss der Erzähltexte, eine conditio sine qua non, die so weit führt, dass ein Verstoß den Misserfolg garantiert, und ein Buch oder ein Film floppt: kein Kassenschlager wird. Erzähltexte, die sich dem Diktat des Happy Ends verweigern, sind authentischer und ehrlicher, aber weniger erfolgreich. Denn nur das Happy Ending verspricht dem Publikum Trost, eine Wiederherstellung der Ordnung und einen Ausweg aus dem Chaos des Erzählten. Diese Dominanz des glücklichen Endes könnte als Ausdruck eines kulturellen Unbehagens gegenüber Tragik, Trauer und Tod verstanden werden.
Der britische Schriftsteller John R.R. Tolkien hat der Notwendigkeit des glücklichen Endes mit seinem Konzept der Eukatastrophe widersprochen und einen theologisch-philosophischen Rahmen gegeben, der über einen bloßen Eskapismus hinausgeht, ohne die menschliche Sehnsucht nach Sinn und Hoffnung aufzugeben. In seinem Essay Über Märchen führt er das Konzept der Eukatastrophe ein, ein plötzliches, unerwartetes glückliches Ereignis, das in einer ansonsten tragischen Geschichte eintritt.35 Damit ermöglicht er eine narrative Strategie, die, wie das Happy End, eine Dyskatastrophe verhindert, um eine Erzählung positiv zu beenden, ohne in seichte Oberflächlichkeit oder mangelnde Plausibilität abzurutschen. Für Tolkien ist das Happy End nicht bloß ein seichter Trost, sondern das Abbild einer metaphysischen Wahrheit: der Glaube, dass jenseits des Sichtbaren ein höherer Sinn existiert. In Tolkiens eigenen Erzählungen, etwa in Der Herr der Ringe, wird die Eukatastrophe nicht als naive Wendung inszeniert, sondern als überraschendes Aufleuchten von Gnade und Hoffnung inmitten größter Dunkelheit, besonders deutlich ausgeführt in Gandalfs Sturz in die Klüfte von Moria oder Frodos Versagen am Orodruin, dem Schicksalsberg in Mordor. Mit dem narrativen Konzept der Eukatastrophe begründet Tolkien die moderne epische Fantasy, in der der Held, trotz allem und aus allem siegreich hervorgeht, sodass der Leser oft den Kopf schüttelt, weil er es nicht glauben kann. Häufig erfordert das Happy Ends allerdings einen bis ins Unerträgliche reichenden suspense of disbelief, sodass sich im Rezipienten vages Unbehagen bis offener Widerspruch breitmacht.
In der scheinbar aussichtslosen Situation an der Schlucht im Schicksalsberg, nach einer langen, entbehrungsreichen Quest, weigert sich Frodo, den Einen Ring in die vulkanischen Feuer zu werfen. Anstatt den Ring zu zerstören, wird er von seiner Macht, einer suchterzeugenden Habgier, überwältigt und beansprucht den Ring für sich. Gollum, der Frodo und Sam gefolgt ist, greift Frodo an, beißt ihm den Finger ab, entreißt ihm den Ring und stürzt vor Freude über seinen vermeintlichen Sieg tanzend in die Schlucht: der Moment der Eukatastrophe. Anstatt dass Gollum mit dem Ring entkommt oder Frodo ihn zurückgewinnt, wird die Macht des Einen Rings dort vernichtet, wo er einst geschmiedet wurde. Die Zerstörung des Rings ist nicht das Ergebnis von Frodos Stärke oder Willen, oder Gollums Verschlagenheit, sondern eine unerwartete Fügung, die wie eine göttliche Fügung wirkt. Tolkien versteht die Eukatastrophe als Moment, in dem sich eine plötzliche und wunderbare Gabe ereignet. Der scheinbare Feind Gollum wird unwissentlich zum Retter der Welt. Selbst im Augenblick völliger Verzweiflung, Frodos Versagen, führt eine höhere Macht die Quest zum Erfolg. Als Katholik konnte Tolkien nicht mit der pessimistischen Vorstellung leben, dass das Gute am Ende nicht siegt, und mit dem Bösen untergeht, und entscheidet sich, trotz allen Widersprüchen, für die optimistische Lösung: die Eukatastrophe, das Happy Ending, auch gegen jede realistische Erwartung. Tod, Trauer und Tragik werden ausgeblendet oder durch oberflächliche Lösungen entschärft. In dieser Sichtweise sind Happy Ends eine Art Realitätsflucht, eine Vermeidung der existenziellen Fragen, die das Leben aufwirft, denn im wirklichen Leben verursacht die Dyskatastrophe, die plötzliche, tragische Wendung zum Schlechten, häufig den Gang der Ereignisse. Im Orodruin erliegt Frodo dem Moment der Dyskatastrophe, die plötzlich und überraschend, eigentlich unvermeidlich, eintritt, wie das Schicksal in den alt-irischen Erzähltexten, ein Moment der Trauer, Verzweiflung oder Angst bei den Figuren oder Zuschauer*innen, der nur durch den Trick der Eukatastrophe (Gollums Eingreifen), des Happy Endings, gewendet wird.36
Das utopische Potenzial des Happy Ends ermöglicht es dem Publikum Wunschvorstellungen zu erleben oder der Realität zu entfliehen. Insbesondere Hollywood-Blogbuster oder romantische Komödien bedienen die Erfüllung von Sehnsüchten, die gesellschaftliche Ideale widerspiegeln. Ein Narrativ, das fordert, dass eine Erzählung, das eigene Leben, gegen jeden Widerstand, sogar gegen jede Logik und Vernunft, gut enden muss. Tolkien bedient mit seiner Forderung nach einem Happy End beziehungsweise seiner Eukatastrophe diesen Wunsch des Publikums. Aus seiner Perspektive ist das Happy End keine Vermeidung der Tragik, sondern eine Bestätigung, dass das Gute, auch wenn es lange verborgen bleibt, letztlich triumphiert. Tolkiens Eukatastrophe-Konzept ist auch anderen klassischen Erzählungen nicht fremd. So etwa in Dostojewskis Die Brüder Karamasow, wo trotz allen Leids die Hoffnung auf Erlösung bleibt. Das Happy End besteht nicht die Leugnung der Dunkelheit, sondern in ihrer Überwindung.
Die Hypothese, dass das Happy End Ausdruck der Unfähigkeit ist, Tragik, Trauer und Tod zu ertragen, scheint nur auf den ersten Blick zutreffend. Es ist gewiss wahr, dass Happy Ends oft zur oberflächlichen Beruhigung des Publikums dienen. Doch zugleich können sie, richtig eingesetzt, eine tiefere Wahrheit über den menschlichen Existenzkampf und die Hoffnung auf einen Sinn jenseits des Leids vermitteln. Es liegt in der Kunst der Autorin*innen, ob das Happy End zum leeren Klischee oder zur erlösenden Botschaft wird. Letzten Endes aber bleibt das Happy End aber ein Symptom eines kulturellen Eskapismus, wenn auch als ambivalentes Phänomen. Es fungiert als Flucht vor der Realität, aber auch als Ausdruck eines tiefen menschlichen Bedürfnisses nach Hoffnung und Sinn. J.R.R. Tolkiens Konzept der Eukatastrophe hebt diesen Aspekt hervor und zeigt, dass das Happy End in einer Erzählung auch eine spirituelle Dimension besitzt. Letztlich offenbart das Happy End mehr über die menschliche Psyche, als seine Kritiker*innen ihm zutrauen. Es ist ein Spiegel der ewigen Spannung zwischen dem Leiden der Welt und der Sehnsucht nach Erlösung, der Grund, warum das ursprüngliche Ende der alt-irischen Sage vom Schicksal der Kinder Lirs, wie immer es ausgesehen haben mag, im christlichen Milieu nicht überleben konnte.
Anmerkungen
1 Juliet Marillier, Dreamer's Pool, The Blackthorn and Grim Novels 1, New York, 2014:344. → Zurück
2 Juliet Marillier, Die Tochter des Waldes, München, 2003. Die Autorin der Sevenwaters-Hexalogie, Juliet Marillier, ist eine neuseeländische Schriftstellerin, bekannt für ihre historischen Fantasy-Romane, die oft auf keltischen Mythen und Folklore basieren. Sie studierte Musik und Sprachen an der Universität Otago und arbeitete viele Jahre als Musiklehrerin und Dirigentin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre musikalische Ausbildung zeigt sich in ihrer literarischen Arbeit durch ihre rhythmische Sprache und stimmungsvollen Beschreibungen. Ihre Erzählungen zeichnen sich durch starke weibliche Figuren, sorgfältige historische Recherchen und die Verbindung von Magie und ihrer Präsenz in einem historischen (chronologischen) Setting aus. Juliet Marillier Sevenwaters-Hexalogie erzählt von Ereignissen, die mehreren Generationen einer Familie zustoßen, die im Wald von Sevenwaters leben, einem irischen Túath von Ulster (Ulaidh) im Nordosten der Insel, gegenüber dem britischen Northumbria. Jeder Roman erzählt von einer Generation, und den Konflikten und Herausforderungen, von denen die aufeinander folgenden Generationen betroffen werden. Diese konfrontieren die Familienmitglieder, insbesondere die heranwachsenden Töchter transgenerational. Die Geschichte vom Schicksal der Familie von Sevenwaters beginnt mit Sorcha, der jüngsten Tochter Colums, des Ri, eines keltischen Kleinkönigs, und ihren sechs Brüdern, und setzt sich mit ihrer Tochter Liadan, ihrer Nichte Fainne sowie ihren Enkelinnen Clodagh, Sibeal und Maeve fort, allesamt homodiegetische Ich-Erzählerinnen. → Zurück
3 Die Bücherregale ihrer Lieblingsbuchhandlung erleichtern den Leser*innen heutzutage die Wahl, denn die ausgestellten Bücher sind systematisch in unterschiedlichen Genres geordnet. Was diese Ordnung nicht verrät, sind die formalen, inhaltlichen und stilistischen Merkmale. Das Genre ist meistenteils eine Marketingstrategie der Verlage, die den thematischen Erwartungen der Leser*innen entgegenkommt, um sie als Kund*innen zu gewinnen, die nicht wirklich etwas über einen Erzähltext aussagt. Um Form, Funktion und Struktur eines fiktionalen Erzähltexts zu verstehen, ist die Frage nach der Textsorte erheblich besser geeignet als die nach dem Genre. → Zurück
4 Juliet Marillier, Der Sohn der Schatten, München, 2002:7. Ihr Debütroman, Daughter of the Forest (dt. Die Tochter der Wälder, 2003), Bd.1 der Sevenwaters-Hexalogie erschien 1999 und bildet den Auftakt zu einem drei Generationen umfassenden Familienepos. → Zurück
5 Die Filid (Sing. File), altirisch Seher oder Wissender, waren Gelehrte, Dichter und spirituelle Berater, die sich von den Barden unterschieden, die hauptsächlich für die Unterhaltung und das Lob von Herrschern zuständig waren. → Zurück
6 Der erste Roman der Sevenwaters-Hexalogie enthält diverse Binnenerzählungen, die Sagen und Mythen des keltischen Irlands aufgreifen, und die Sorcha im Verlauf des Geschehens erzählt. Beispielsweise die Geschichten von Culhan und der Schwertbrücke oder von Isha und dem magischen Becher, ein Auszug der Sage von Deirdre und Naoise, die den Plot des zweiten Sevenwaters-Romans strukturiert, der das Schicksal von Niamh und Ciarán erzählt, zwei Episoden des Cú Chulainn-Mythenkreises, Volkstümliches über das Fair Folk der Sídhe (der Tuatha Dé Danann) oder die Selkies. → Zurück
7 Die mythische Geschichte der Protagonisten, der Eroberung Irlands und ihrer 197 Jahre währenden Herrschaft, erzählen die Mythen von der südlichen und der nördlichen Schlacht von Mag Tuired. → Zurück
8 Rónán Ó Domhnaill, Alte irische Mythen und Legenden, Weinstadt, 2012:13-16. Die irische Überlieferung Das Schicksal der Kinder von Lir (Oidheadh Clainne Lir) gehört zum mythologischen Zyklus Irlands und wurde in den Lebor na hUidre (Das Buch der dunklen Kuh, 12. Jh.) und dem Lebor Laignech (Das Buch von Leinster, 12. Jh.) verschriftlicht. → Zurück
9 Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, Erster Teil, KHM 49, München, 1981:280-286. → Zurück
10 Veröffentlicht in seiner Sammlung Eventyr, fortalte for Børn, Märchen, erzählt für Kinder. Es gibt weitere Adaptionen dieses narrativen Motivs, die ich in diesem Zusammenhang nicht berücksichtige: Brüder Grimm, Die sieben Raben (KHM 25), in der alternativ Schwäne als Raben auftreten. Alethea Kontis, Dearest: In diesem Fantasy-Roman adaptiert Alethea Kontis das Märchen Die wilden Schwäne und integriert es in ihre Woodcutter Sisters-Serie. William Butler Yeats, The Twelve Wild Geese: Dieses Werk von Yeats erzählt die Geschichte einer Schwester, die ihre zwölf in Wildgänse verwandelten Brüder erlösen will. Oder Václav Vorlíček, Die Seekönigin: Dieser tschechisch-deutsche Märchenfilm aus dem Jahr 1998 basiert auf Motiven aus Tschaikowskis »Schwanensee« und erzählt die Geschichte von Prinzessinnen, die in Schwäne verwandelt wurden. → Zurück
11 Im Original Oidheadh Clainne Lir: Oidheadh bedeutet im Altirischen sowohl Tod als auch Trauer oder Schicksalsschlag, und weist auf eine leidvolle Geschichte hin. Clainne ist der Genitiv von Clann und bedeutet Kinder oder die Nachkommen. → Zurück
12 Die Geschichte von Étaín und Midyr ist in zwei Hauptquellen der irischen mittelalterlichen Literatur überliefert: Das Gelbe Buch von Lecan (Leabhar Buidhe Lecain), ein Manuskript aus dem 14. Jahrhundert, enthält die wichtigsten Versionen von Tochmarc Étaíne. Ein weiteres mittelalterliches Manuskript mit einer Fassung der Erzählung ist das Weiße Buch von Rhydderch (Leabhar Bán Rúairc). Zusätzlich sind Fragmente der Erzählung in Lebor na hUidre (Das Buch der dunkelfarbigen Kuh aus dem 12. Jh.) erhalten, einem der ältesten irischen Manuskripte. Ebenfalls in der Sammlung Early Irish Myths and Sagas von Jeffrey Gantz (1981). Vgl.a. Ingeborg Clarus, Keltische Mythen. Der Mensch und seine Anderswelt, Olten, 1991:101ff. → Zurück
13 In einer Fußnote teilt Rónán Ó Domhnaill mit, dass der Name Ibhormheith »Eibebeere« bedeutet, ein interessanter Name, der eng mit den Träumen (Visionen) des Aonghus zusammenhängt. Die Giftigkeit der europäischen Eibe ((Taxus) ist bereits Thema der griechischen Mythologie: Die Jagdgöttin Artemis tötet mit Eibengiftpfeilen die Töchter der Niobe, die sich ihr gegenüber ihrem Kinderreichtum gerühmt hatte. Auch die Kelten verwendeten Eibennadelabsud, um ihre Pfeilspitzen zu vergiften und Julius Caesar berichtet in seinem Gallischen Krieg von einem Eburonen-Stammesfürsten, der lieber mit Eibengift Selbstmord beging, als sich den Römern zu unterwerfen. Zur Giftigkeit der europäischen Eibe äußern sich Paracelsus, Vergil und Plinius der Ältere. Dioskurides berichtete von spanischen Eiben mit einem so hohen Giftgehalt, dass sie schon denen gefährlich werden konnten, die nur in ihrem Schatten saßen oder schliefen. Juliet Marillier, Der Sohn der Schatten, München, 2011:39ff. Die Hauptquelle für die Erzählung Aislinge Óenguso ist im Leabhar Bhaile an Mhóta, dem Book of Ballymote, aus den 14. Jh. erhalten. Fragmente sind auch im Leabhar Buidhe Lecain, dem Yellow Book of Lecan, ebenfalls aus den 14. Jh. zu finden. → Zurück
14 S. Fußnote 9, KHM 49; ATU 451 (Aarne-Thompson-Uther-Index). → Zurück
15 Für die literarischen Formen Märchen und Kunstmärchen vgl. Stefan Neuhaus, Märchen, Tübingen, 2005:3-7 sowie 7-8. → Zurück
16 Bekannte, immer noch populäre Kunstmärchen schrieben auch E. T. A. Hoffmann der in Der Sandmann, Nussknacker und Mausekönig oder Das fremde Kind Realität, Fantasie und eine düstere Symbolik miteinander verwob sowie Wilhelm Hauff in Das kalte Herz oder Zwerg Nase mit seiner eigenen Mischung aus Sozialkritik, Ironie und düsteren Wendungen. Eine zeitgemäße, darüber hinaus originelle Interpretation von Wilhelm Hauffs Kunstmärchen Das kalte Herz verfasste Ulrich Grober in Der leise Atem der Zukunft. Vom Aufstieg nachhaltiger Werte in Zeiten der Krise, München, 2018. Im 20. Jahrhundert war es Michael Ende, der in Erzählungen wie Momo oder Die unendliche Geschichte zum Kunstmärchen zurückkehrte. → Zurück
17 Nicht zu vergessen die beiden Erzählungen von Aonghus` Traum und Midhirs Werbung um Étáin. Wenn man will, lässt sich die Lir-Sage auch als eine Sage lesen, in die Elemente eines Verwandlungsmärchens integriert sind. → Zurück
18 Zur Symbolik der Pflanzen, aus denen die magischen Hemden gewebt werden, sowie zur Herkunft der magischen Hemden, die in der Lir-Sage fehlen, siehe Kapitel 6: Vom Weben magischer Hemden. → Zurück
19 Zur Kategorie der immersive fantasy vgl. Farah Mendleson, Rhetorics of Fantasy, Wesleyan University Press, Middletown, 2008:58-113. → Zurück
20 Juliet Mariller, Die Tochter des Waldes, Sevenwaters, Bd.1, München, 2000:176-177. → Zurück
21 Marillier, Sevenwaters Bd.1, 2000:177-181. Ein weiterer Roman von Juliet Marillier, Dreamer`s Pool, Bd.1 ihrer Serie Blackthorn and Grim Novels (New York, 2014) steht ebenfalls in der Tradition der Verwandlungsmärchen. → Zurück
22 Marillier, Sevenwaters Bd.1, 2000:182-185. → Zurück
23 Es gibt zahlreiche alt-germanische und nordische Mythen, Märchen und Sagen, in denen Verwandlungsmotiv und magische Kleidung eine Rolle spielen. Besonders häufig tauchen Tierhäute, Zauberumhänge oder Schwanenfedern als Mittel zur Verwandlung auf: Fafnirs Verwandlung durch Gier nach einem verfluchten Schatz in einen Drachen (Völsunga-Saga und Edda); die Tarnkappe des Zwergenkönigs Alberich verleiht Siegfried / Sigurds Unsichtbarkeit und die Fähigkeit, seine Gestalt zu verändern (Nibelungenlied und Völsunga-Saga); Loki verwandelt sich oft mithilfe magischer Kleidung oder Zauber in andere Wesen (z. B. in eine Stute, um Sleipnir zu gebären; Odin besitzt einen Mantel, mit dem er sich in einen Adler verwandeln kann (Edda, Sagen). Volksmärchen, mit germanischen Wurzeln: Der Hirschkönig (Ein Jäger stiehlt das Fell eines magischen Hirsches und verwandelt sich in das Tier); deutsche Sagen oder Grimms Märchen über den Tarnmantel des Zwergenvolkes, der Unsichtbarkeit oder Verwandlung ermöglicht (König Laurin); die mittelalterliche Sage Der Werwolf von Thüringen (Ein Ritter zieht sich ein Wolfsfell über und verwandelt sich in einen Werwolf, um Rache zu nehmen); ähnliche Erzählungen gibt es in nordischen Sagen auch über Bären und Berserkr (Hrólfs saga kraka); die nordirischen, germanischen Feenmärchen vom Wechselbalg: Feen oder Trolle entführen Kinder und ersetzen sie durch magische Doppelgänger, die manchmal besondere Kleidung tragen oder bestimmte Gegenstände benötigen, um ihre wahre Gestalt zu enthüllen. → Zurück
24 Während die Kombination von Verfluchung, magischen Hemden oder Kleidung und Gestaltwandel nicht vorkommen, spielt magische Kleidung in der alt-irischen Mythologie schon eine Rolle, und zwar als Schutz- oder Tarnzauber: In der Erzählung Aided Chlainne Tuireann (Das Hemd von Labraid Loingsech) besaß Labraid Loingsech, ein mythischer König, ein besonderes Gewand, das ihn unverletzlich machte. In der Táin Bó Cúailnge wird Cú Chulainn mit übernatürlichen Attributen beschrieben, darunter seine Kampfbekleidung. Es gibt Erzählungen, in denen er magische Kleidung oder eine spezielle Rüstung trägt, die seine Kräfte verstärken. Und auch von den Gewändern der Túatha Dé Danann heißt es, dass es magische Kleidung war. Das Lebor Gabála Érenn (Das Buch der Eroberungen Irlands) erzählt, dass sie Umhänge oder Gewänder trugen, die sie unsichtbar oder unverwundbar machten. → Zurück
25 Eine der berühmtesten Schwanenverwandlungen ist beispielsweise von Zeus überliefert, der sich in einen Schwan verwandelt, um Leda, die schöne Königin von Sparta, zu verführen. Leda bringt daraufhin zwei Eier zur Welt, aus denen Helena von Troja, Klytämnestra, Kastor und Polydeukes (die Dioskuren) schlüpfen; eine Erzählung, die den Schwan als Symbol göttlicher Schönheit, Verführung und Schicksal zeigt. Kyknos, Sohn des Apollon, betrauert den Tod seines Freundes (oder Liebhabers) Phaethon so sehr, dass ihn die Olympier ihn in einen Schwan verwandelten. Schwäne stehen auch in Verbindung mit Aphrodite und Apollon, dessen Schwan manchmal seinen Sonnenwagen zog; Symbole der Schönheit, Poesie und göttliche Harmonie. Für die Schwanenverwandlung des Orpheus siehe unten. → Zurück
26 Es erscheint mir keine allzu verwegene Vermutung zu sein, dass ein intrinsischer Zusammenhang zwischen dem Nesselhemd aus dem Herakles-Mythos oder mit Glaukes Hochzeitskleid aus der Argonautensage mit den magischen "Brennnesselhemden" in Andersons Kunstmärchen Die wilden Schwäne besteht. Und ob nicht das Brennen auf der Haut und die Verletzungen Sorchas aus der gleichen Quelle stammen. → Zurück
27 Das Nesselhemd des Kentauren ist neben Glaukes Hochzeitskleid nur das bekannteste Beispiel magisch wirksamer Kleidung in der griechischen Mythologie. Medea, die verlassene Gattin von Jason, rächte sich an dessen neuer Frau Glauke, indem sie ihr ein magisch behandeltes Hochzeitskleid schenkte. Sobald Glauke das Gewand anzog, begann es Feuer zu fangen und ihre Haut zu verätzen. Das goldene Fell des Widders Chrysomeles (das sogenannte goldene Vlies) war nicht nur ein Schatz, sondern auch ein magisches Kleidungsstück, das seinem Besitzer Schutz und königliche Macht verlieh. Ebenfalls die Rüstung des Achilles, von Hephaistos geschmiedet, die er von seiner Mutter Thetis erhielt, und später dem Odysseus zufiel. Die Tarnkappe des Hades (Kyneé), die Perseus im Kampf mit Medusa unsichtbar machte, oder die undurchdringliche Haut des Nemeischen Löwen, die Herakles als Rüstung trug, und die ihn unverwundbar machte, sind weitere Beispiele magischer Schutzkleidung, die zwar ihren Träger töten aber nicht verwandeln können. → Zurück
28 In skandinavischen Märchen und Sagen gibt es zahlreiche volkstümliche Variationen des Motivs der Schwanenjungfrauen, die den Prolog der Völundarkviða aufgreifen: Ein Jäger oder ein junger Mann entdeckt eine Gruppe von Frauen, die sich in Schwäne verwandeln können. Sie legen ihre Schwanengewänder am Ufer eines Sees ab, um zu baden und sie erleiden das Schicksal ihrer Schwester in der eddischen Version. Dieses Märchenmotiv ist auch in slawischen, deutschen und keltischen Erzählungen verbreitet. Das Grimm`sche Märchen Die sechs Schwäne ist Thema dieser Studie, aber auch in anderen deutschen Märchen gibt es magische Federmäntel, die Verwandlungen ermöglichen, ähnlich den nordischen Schwanenjungfrauen (beispielsweise die Volksmärchen Der geraubte Federmantel oder Die Wolfsfedern sowie aus der Sammlung Ludwig Bechstein Das Märchen von den drei Federn und Der kleine Vogel sowie sein Kunstmärchen Das Märchen vom Zaubervogel). → Zurück
29 Über die Katasterismen des griechischen Chiron und des alt-nordirischen Aurvandillr habe ich in anderen Blogbeiträgen auf gruenesonnen.blogspot.com erzählt. → Zurück
30 Etymologisch bezieht sich der Name Veðrfölnir auf ein semantisches Feld, das Wetter, Sturm, Wind oder Jahreszeit (veðr) sowie verblassen, erbleichen, welken, altern oder auch absterben (fölnir, abgeleitet von fölna) umfasst. Veðrfölnir sitzt zwischen den Augen des Adlers auf Yggdrasil, am höchsten Punkt der kosmischen Welt der eddischen Dichtung. Seine Position zwischen den Augen des Adlers macht ihn zu einem Teil des kosmischen Wahrnehmungsapparats, einen Intellekt, der die Dinge in feinerem Maßstab beobachtet. Der "vom Wetter Gebleichte“ steht metaphorisch für Vergänglichkeit, Weisheit, Alter oder kosmische Beobachtung. In seiner Position auf Yggdrasil verkörpert er wie der Adler Aspekte des Wissens und der Allsicht aus einer anderen, subtileren Perspektive. Veðrfölnir ist mit dem Falken verwandt, der Geschwindigkeit, Klarheit und Schutz symbolisiert. In der ägyptischen Mythologie ist Horus, der Gott des Himmels und der Könige, ein Falke. Der Falke steht für Scharfsinn, göttlichen Schutz und den Blick des Himmels. Im Schamanismus gilt er als Visionär und Wegweiser zur Erleuchtung. Zur mythologischen Rolle und Funktion vgl.a. Herbert W. Jardner, Die Óðinn-Texte, Blogbeitrag Grüne Sonnen, 2024. → Zurück
31 Claude Levi-Strauss, The Story of Asdiwal (La Geste d`Asdiwal), St. Bonavente University. Lévi-Strauss geht auf die Asdiwal-Mythe auch im vierten Band seiner Mythologica-Reihe ein: Bd.IV, Der nackte Mensch 2 (orig. L`Homme nu), 1964 Frankfurt a.M., 1971:521ff. → Zurück
32 Zitiert nach Marillier: deut. Fassung SW 1, 2003:7 / bzw. engl. SW 1 Ebook, 1999:Pos.159. → Zurück
33 Juliet Marillier, Tower of Thorns, Ebook, New York, 2015:53-54. → Zurück
34 Völuspá, Strophe 20 und 21. Die Edda, Zweiter Band, Götterdichtung und Spruchdichtung, übertragen von Felix Genzmer, Düsseldorf und Köln, 1983:38. → Zurück
35 Der Trost des Märchens hat noch einen anderen Aspekt als die phantastische Befriedigung uralter Wünsche. Sehr viel wichtiger ist der Trost, den der glückliche Ausgang gewährt. Fast möchte ich die Behauptung wagen, daß jedes vollständige Märchen glücklich enden muß. Zumindest will ich aber sagen, daß die Tragödie die echte Form des Dramas ist, sein höchster Zweck; und das Gegenteil gilt vom Märchen. Da wir für dieses Gegenteil offenbar kein Wort haben, möchte ich es die Eukatastrophe nennen. […] Die Eukatastrophe ist ihrem Wesen nach nicht »eskapistisch« oder »wirklichkeitsflüchtig«. In ihrem märchenhaften – oder sekundärweltlichen – Rahmen ist sie eine plötzliche und wunderbare Gabe: Mit ihrer Wiederholung ist niemals zu rechnen. Sie verleugnet das Dasein der Dyskatastrophe, des Leidens und des Misslingens, denn deren Möglichkeit ist die Voraussetzung für die Freude der Erlösung; sie verleugnet (dem Augenschein zum Trotz, wenn man so will) die endgültige Niederlage, und insofern ist sie Evangelium, gute Botschaft, und gewährt einen kurzen Schimmer der Freude, der Freude hinter den Mauern der Welt, durchdringend wie das Leid (J.R.R. Tolkien, Über Märchen, in: J.R.R. Tolkien, Die Ungeheuer und ihre Kritiker. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart, 1987: 197). Eine vollkommen andere Weltanschauung äußert sich in der alt-germanischen Weltanschauung: Losing is a vital part of the Norse belief structure, expressed in the myth of Ragnarok, preserved both in the poem Voluspá and in Snorri`s expansion of it in his Prose Edda. [...] And in that battle – and this is not at all like Armageddon – our side, the good guys, will lose. [...] But this does not make them want to negotiate, still less change sides. Refusal to give in is what’s important. It’s only in ultimate defeat that you can show what you’re really made of (Tom Shippey, Laughin' shall I die. Live and Deaths of the Great Vikings, Ebook, London, 2018, Pos. 309-317). Vgl. zu diesem Thema auch Herbert W. Jardner, Túrin und Frodo. Tolkiens Theorie des Muts, Blogbeitrag Grüne Sonnen. → Zurück
36 Shakespeare verzichtet in seinen Tragödien auf eine Lösung der Konflikte durch den eukatastrophischen Moment, weshalb Tolkien sein Werk auch nicht mochte: Die Prophezeiungen der Hexen führen Macbeth in seinen Untergang – eine klassische Dyskatastrophe. Die Manipulation durch Jago führt zur tödlichen Eifersucht und dem tragischen Tod Desdemonas. → Zurück
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