Donnerstag, 18. Juli 2024

Jugendliteratur als Initiationsgeschichten


Vorbemerkung

Philip Pullmans Erzähltexte seiner Serie His Dark Materials werden im Allgemeinen als Literatur für Kinder zwischen 9 und 13 geführt. Ich kann die Gründe für diese Einordnung nicht nachvollziehen, weil die Implikationen der Themen von The Subtle Knife und besonders von The Amber Spyglass die Erfahrungen und die Urteilsfähigkeit von Kindern arg strapazieren. Vielleicht hängt diese Zuordnung allein damit zusammen, weil in den Erzähltexten sprechende Tiere und Hexen vorkommen, und Fantasy mit Märchen verwechselt wurde.
Die Unterschiede zwischen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur sind fließend, unterliegen dem historischen Wandel sowie dem unterschiedlichen persönlichen Entwicklungsstand der Leser*innen, weshalb sie nur allgemein definiert werden können. Die Altersscheidegrenze von Kinder- und Jugendliteratur liegt im deutschen Sprachraum zwischen 12 und 14 Jahren. In den Vereinigten Staaten sind Jugendbücher (Young Adult Books) an mindestens 14- bis 16-Jährige adressiert, im englischsprachigen Raum existiert der Begriff Middle Grade Fiction für Kinder der mittleren Klassenstufen der 10- bis 12-jährigen. Abseits von jeglichem Genre-Gerangel und Altersgrenzen fand Philip Pullman ein farbenprächtiges Bild für seine bevorzugte Zielgruppe, das einer Graphic Novel entsprungen sein könnte:

My ideal . . . is the old notion of sitting in a marketplace, where all kinds of other transactions are going on around me. People are buying food and selling food, and somebody doing tricks over there in the corner, and the pickpocket over there, and there’s a public hanging over in the corner, all sorts of stuff. And there I am on a bit of carpet with a hat in front of me, telling a story. And whoever wants to stop and listen is welcome to do so. I do not put up a sign saying ‘this story is only for twelve-year-olds’ or ‘no children welcome here’ or ‘only women need be interested in this story’ or anything like that. I don’t want to exclude anyone, because as soon as you say ‘this story is for such and such a group’, what you’re actually saying as well is ‘this story is not for anybody else’. I don’t want to do that. I would like to tell the sort of story which brings children from play and old men from the chimney corners, as somebody used to say. I’d like to tell a story which is entertaining and interesting, in necessarily different ways, but nevertheless to all kinds of people and all different age groups.1

So faszinierend diese Tausend-Und-Eine-Nacht-Vorstellung von der Verbreitung einer Geschichte für alle Altersgruppen auch ist, es gibt Grenzen des Verständnisses und des Nachvollzugs, die nicht alein vom Lebensalter, wohl aber mit der Lebenserfahrung und der persönlichen Reife zusammenhängen. Diese Szene, die an orientalische Märchenerzähler und ihr Publikum erinnert, relativiert Pullman, wenn er in seiner Einleitung in James Carters Sammelband Talking Books schreibt, dass am Beginn von His Dark Materials der Gedanke steht, er vertaut dies seinem Verleger David Ficking an, dass er wanted to do Milton`s Paradise Lost for teenagers, per definitionem junge Erwachsene zwischen 13 und 19 Jahren.2 Obwohl damit eigentlich alles gesagt ist, möchte ich diese Zitate ergänzen, und der Klassifizierung von Erzähltexten wie His Dark Materials als Kinderliteratur ausdrücklich widersprechen, die ich aus drei Gründen für unhaltbar und falsch halte,

  • weil der komplexe naturwisenschaftliche, philosophische, theologische sowie ethische Hintergrund der Serie eher Themen der Oberstufe als der Mittelstufe behandelt (deshalb erscheinen einige Klassiker oder Sagen für Kinder in bearbeiteten Neufassungen beziehungsweise Nacherzählungen);
  • weil die Coming-Of-Age-Thematik als Kern jeder portal quest fantasy eher der Adoleszenz als der Kindheit entspricht und
  • weil Fantasy-Literatur Kinder, Jugendliche und Erwachsene nicht gleichermaßen anspricht, was die Empfehlung für eine Altersgruppe obsolet macht wie ich folgenden ausführen werde.

1 Charles N. Brown, An interview with Philip Pullman [ www.avnet.co.uk/amaranth/Critic/ivpullman.htm ].
2 Pullman, Philip, ‘An introduction to . . . Philip Pullman’ in James Carter (ed.), Talking Books: Children`s authors talk about the craft, creativity and process of writing (Routledge, 1999), p.187–188.

Jugendliteratur als Initiationsgeschichten

Obwohl fiktionale Jugendliteratur (young adult fiction) eine Kategorie der Belletristik ist, die sich an Leser*innen im Alter zwischen 13 und 19 Jahren richtet, sind etwa die Hälfte der Leser*innen Erwachsene. In einer an gesellschaftlich verbindlichen Initiationsritualen verarmten Epoche überbrückt Jugendliteratur mittlerweile den Übergang zwischen Romanen für Jugendliche und für Erwachsene. Damit hat sie eine gesellschaftlich bedeutende Funktion übernommen, für die es in der Vergangenheit eindeutig zuständige Institutionen gab. Sie bildet aber nicht nur einen Übergang zwischen zwei literarischen Gattungen, sondern unterstützt, oft als einziges Institut, Jugendliche auf ihrem unwägbaren Weg ins Erwachsenenleben. Jugendliteratur bildet eine mediale Schnittstelle: Sie füllt den liminalen Zwischenraum zwischen zwei Phasen des Lebenszyklus: Adoleszenz (juvenile biografische Phase) und Erwachsenalter (adulte biografische Phase). Es ist unzweifelhaft, dass ein gelungener Abschluss der Adoleszenz, der Lebensphase, in der ein Mensch geschlechtsreif wird, die körperliche Entwicklung beendet hat und die Gehirnentwicklung weitgehend abgeschlossen ist, er emotional sowie sozial gereift sein sollte, für die gesamte Biografie des Erwachsenen von unschätzbarer Bedeutung ist. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Interesse vieler Erwachsener an dieser literarischen Gattung. Es mutet an, sie spürten, dass ihnen eine wichtige Erfahrung in ihrer Jugend vorenthalten wurde.
Literatur für Jugendliche oder Erwachsene unterscheidet sich prinzipiell nicht, sondern korreliert lediglich mit den unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnissen sowie der Lebenswelt der Leser*innen. Die in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsene Zahl der Publikationen lässt sich grob in zwei Themenbereiche gliedern:

  • Geschichten über Freundschaft, erste Liebe, Beziehungen und Identität (beispielsweise Philip Reeve oder Katherine Arden aber auch andere);
  • Geschichten, die besondere Herausforderungen der Jugend thematisieren wie Coming-of-Age-Geschichten oder Bildungsromane (beispielsweies Neil Gaiman, Philip Pullman, oder Leigh Bardugo aber auch andere).

In Literatur, Theater, Film und Videospiel ist eine Coming-of-Age-Geschichte das Genre, das vom sozialen Übergang und der psychischen Entwicklung der Figuren von der Jugend ins Erwachsenenalter erzählt, die biografische Phase der Adoleszenz, die mittlerweile in Alltagssprache und Wissenschaft wie selbstverständlich als coming of age bezeichnet wird: beginnend mit dem Ende Kindheit, der Pubertät als Zenit und dem Übergang ins Erwachsenenleben als Ausklang. Gemeinsam ist diesen Geschichten, dass sie in der Vergangenheit spielen, emotionale Veränderungen und die Entwicklung der Identität thematisieren, sowie narrativ Dialog (Figurenrede) und inneren Monolog (Gedankenbericht und Bewusstseinsstrom) mehr betonen als die Handlung. Der Bildungsroman, die klassischen Coming-of-Age-Geschichten, sind seit Goethes wegweisender Erzählung Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) fester Bestandteil der Literaturszene. Der Bildungsroman, oder wie er auch heißt Entwicklungsroman, ist als literarisches Genre heute eine spezifische Untergattung von Coming-of-Age-Geschichten, wozu auch der sogenannte Künstlerroman gehört, der die Selbstentfaltung eines Künstlers thematisiert. Narrativ konzentrieren sich Coming-of-Age-Geschichten auf die psychische und moralische Entwicklung ihrer Figuren. Sie schildern die Herausforderungen eine eigene Identität zu finden und eine individuelle Persönlichkeit zu werden. Der Diskurs von Coming-of-Age-Geschichten schildert das Heranwachsen, das Erwachsenwerden einer anfangs naiven Figur auf die Suche nach Antworten auf die Fragen des Lebens. Das Genre besitzt große Ähnlichkeiten mit dem Märchenmotiv des Dummlings, woraus es sich wohl auch entwickelt hat: ein jüngster, reichlich naiver Sohn, der in die Welt hinausgeht, sich dort auf einer Queste bewähren muss, um sein Glück zu finden. Oft beginnt die Geschichte mit einem emotionalen Verlust, die eine oder mehrere der Figuren, mittlerweile häufig ein Mädchen und ein Junge, die durch eine schicksalhafte Begegnung oder ein mysteriöses Geschehen aneinander gebunden sind, dazu bringt, sich auf die Reise, eine Queste, zu begeben.

Die Struktur moderner Coming-of-Age-Geschichten entspricht den drei rituellen Phasen der Übergangsriten (rite de passage), die die Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner beschrieben haben:1

  • Trennungsphase: Eine literarische Figur verlässt ihr Zuhause und ihre vertraute Welt, verliert ihren bisherigen Status und wird mit Unbekanntem und Verstörendem konfrontiert.
  • Schwellenphase oder Liminalität: Eine literarische Figur gerät in den ambivalenten Zustand der Statuslosigkeit (betwixt and between), in dem die alltäglich tragenden Bindungen und Strukturen aufgehoben sind, sie nicht mehr sind, was sie waren, und noch nicht, was sie werden müssen.
  • Wiedereingliederung: Nachdem die literarischen Figuren alle Herausforderungen bewältigt, alle Konflikte gelöst und sie eigenständige, selbstbewusste Persönlichkeit geworden sind, haben die Protagonist*innen den Übergang in die Welt der Erwachsenen vollzogen.

Van Gennep und Turner hatten in ihren Forschungen beobachtet, dass eine Person im Verlauf des gesellschaftlichen Lebens verschiedene Übergänge zwischen zwei Lebensstadien oder sozialen Zuständen vollzieht, zwischen Jugend und Erwachsensein, zwischen Ledig- und Verheiratetsein, zwischen esoterischer und heimisch-vertrauter Welt, alle mit dem Prestige einer Einweihung umgeben. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen, so van Genneps Fazit, wurden in nicht-industrialisierten Gesellschaften als potentiell gefährlich betrachtet und mussten rituell bewältigt werden. Victor Turner überführte diese Auffassung mit seinem vierstufigen Modell des sozialen Dramas in die moderne westliche Kultur:

  • Bruch mit der sozialen Norm;
  • Krise und Konflikt;
  • Versuch der Konfliktlösung durch ein Ritual;
  • Wiedereingliederung oder Spaltung.2

Auch im sozialen Drama geht es um die persönliche Reife einer literarischen Figur, die Selbstverwirklichung des Individuums, das sich allmählich durch die Bewältigung von Konflikten und Herausforderungen zwischen der Hauptfigur und der Gesellschaft einstellt. Lösungen und Werte der Figur, die an ihren Fehlern und Enttäuschungen wächst, werden von ihr erst nach mühsamem Ringen akzeptiert und schließlich von die Gesellschaft sanktioniert.3 Franco Moretti, ein italienischer Literaturhistoriker, weist daraufhin, dass der Hauptkonflikt im Bildungsroman der Mythos der Moderne mit seiner Überbewertung von Jugend und Fortschritt ist, da er mit der statischen teleologischen Vision von Glück und Versöhnung kollidiert, die am Ende von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und sogar Jane Austens Stolz und Vorurteil zu finden ist.4
In der letzten Phase des sozialen Dramas sind die jungen Erwachsenen nicht länger in den Wirrungen der liminalen Phase (Pubertät und Adoleszenz) gefangen, da rituell erlöst. Als Erwachsene erleben sie mit Beendigung der Übergangszeit ihr akademisches Prekariat, den Eintritt ins Berufsleben, sowie ihre ersten verbindlichen Beziehungen. Aus den bisher dargelegten Gründen bevorzuge ich den eindeutigen Terminus Initiationsgeschichten für dieses Genre, der beim Namen nennt, um was es in diesen Erzählungen geht.
In der modernen Fantasy-Literatur für Jugendliche, besonders in den beiden letzten Jahrzehnten, werden diese entwicklungspsychologischen Prozesse in den populären Medien Buch und Film immer intensiver fokussiert und öffentlich diskutiert. Die wichtigsten, und wohl auch die populärsten Portal-Quest-Fantasy-Erzähltexte mit einer Coming-Of-Age-Thematik des ausgehenden 20. und 21. Jahrhunderts, sind

  • Philip Pullmans Doppeltrilogie His Dark Materials und The Book of Dust,
  • Neil Gaimans Erzählungen Coraline, Neverwhere sowie The Ocean at the End of the Lane sowie
  • Leigh Bardugos Trilogie Grishaverse,

Werke, die nicht nur als Buch, sondern mit zwei Ausnahmen auch als Film verfügbar sind.

1 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les Rites de Passage), Frankfurt a.M., 1986; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., 1989.
2 Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M., 2009.
3 Herbert W. Jardner, Das letzte Licht der Sonne, insbesondere das letzte Kapitel: Heldenreise und soziales Drama.
4 Carol, Lazzaro-Weis, The Female Bildungsroman. Calling It into Question, NWSA Journal, Vol. 2.1, 1990:16–34.

Copyright 2024. All Rights Reserved

Der Weblog-Beitrag Jugendliteratur als Initiationsgeschichten ist urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalt dürfen nicht kopiert und nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte gewerbliche Nutzung ist untersagt.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen