Dienstag, 23. Januar 2024

Das letzte Licht der Sonne


Was wir als Realität bezeichnen, ist nichts anderes
als eine Ansammlung fadenscheiniger Ähnlichkeiten,
die von Gewohnheiten zusammengehalten werden.

Philip Pullman

Wie wir uns erinnern, verändert auch, wie wir gelebt haben.
Wir machen Geschichten aus unserem Leben.

Guy Gavriel Kay

Die historische Fantasy des Guy Gavriel Kay

Paratexte sind eine Informations- und Marketingstrategie von Autor und Verlag, um ihren Leser*innen eine erste Verstellung davon zu vermitteln, was sie vom Inhalt eines Buchs erwarten können. Wer von beiden im Einzelnen für Titel, Klappentext, Autorenvita, Vorwort oder Leitmotiv verantwortlich ist, lässt sich den Texten selbst nicht entnehmen.
Der Buchtitel, dazu gehört auch die Illustration von Vorder- und Rückseite, ist der prominenteste Paratext, und allein für den ersten Eindruck verantwortlich. Deshalb vergibt auch kein Autor einen Titel leichtfertig, ein Verlag schon. Zwischen dem ursprünglichen Titel des Autors, The Last Light of the Sun, und dem Titel der deutschen Übersetzung, Die Fürsten des Nordens, besteht kein inhaltlicher Zusammenhang. Er ist eine Umdeutung.1

1 Für meine Studie verwende ich Guy Gavriel Kay, Die Fürsten des Nordens, Piper Verlag München, 2007 (engl. Original: The Last Light of the Sun, Toronto, 2004.

Der Originaltitel bezieht sich auf den gälischen Kulturkreis (das moderne Wales und Irland) im Westen der erzählten Welt, während der deutsche Buchtitel undifferenziert den Adel des Nordens, die Fürsten der drei Kulturen der Nordseeanrainer benennt. Einen erweiterten Blick über den inhaltlichen Hinweis des Titels hinaus bieten Klappentext und Rückseite des Buchs, die auf reißerische Weise genretypische Klischees bedienen: die Beutezüge der Wikinger sowie die magische Atmosphäre eines Portals in eine andere Welt. Dazu die Illustration in dunklem Blau und Schwarz: ein Drachenboot steuert auf ein gigantisches Felsentor zu. Hinter der Einfahrt leuchtet ein gelbes Licht, das ein dramatischer, wolkenschwerer Himmel beinahe erdrückt. Wer denkt bei diesem Bild nicht an Tolkiens Graue Anfurten oder vergleichbare Portale. Diese Motive sind nicht repräsentativ für G.G. Kays Roman, der weitaus mehr thematisiert. Allerdings deuten sie wichtige Geschehnisse der Erzählung an, denn sie schaffen Motivierungen für die Handlungen der Figuren. Zusätzlich beschwören diese Paratexte die Autorität von Zeugen wie J.R.R. Tolkien, M. Zimmer Bradley, D. Gemmell oder G.R.R. Martin, sodass die Gattung ist eindeutig bestimmt erscheint: Bei dem Roman Die Fürsten des Nordens handelt es sich um ein Erzählwerk der Fantasy.
Der Titel des englischsprachigen Originals, The Last Light of the Sun, transponiert eine doppelte Bedeutung: eine geografische sowie eine spirituelle. Einerseits weist er darauf hin, dass der reale Autor das Zentrum der Erzählung in der gälischen Kultur der Cyngael im Westen der narrativen Ökomene verortet, in Brynnfell, wo der Konflikt, in den die Figuren der Geschichte verwickelt sind, kulminiert und schließlich gelöst wird. Dort verlöschen am Abend die letzten Strahlen der untergehenden Sonne im Meer, jenseits des bewachten Rheden-Walls, der die angelsächsischen Anglcyn vor Überfallen und periodischem Viehdiebstahl ihrer gälischen Nachbarn schützt. Andererseits bezieht er sich mit dem Verweis auf das Licht der Sonne auf die jaditische Religion der Anglcyn und Cyngael, die den Sonnengott Jad verehren, dessen Licht verlöscht, wenn er Abend für Abend in die Unterwelt hinabsteigt, um in der Nacht die Mächte der Finsternis zu bekämpfen, die die Menschheit bedrohen. Die Cyngael, die nur oberflächlich bekehrt sind, sowie die der Alten Religion anhängenden Erlinger, sind Gegenstand der Missionierung Aeldreds, König der Anglcyn. Zugegeben, diese impliziten Informationen werden erst allmählich während der Lektüre deutlich, was aber die Veränderung des Titels nicht rechtfertig. Auch Das letzte Licht der Sonne wäre als angemessene und korrekte Übersetzung möglich gewesen, und als Buchtitel angemessener. Doch G.G. Kays Roman bildet bei weitem keine Ausnahme. Deutsche Herausgeber lieben es, Buchtitel willkürlich und de gusto zu verändern.
Unter der Voraussetzung, dass jeder Text etwas Gemachtes, fiktiv ist, steht er gleichzeitig im Gegensatz zur Realität der Leser*innen. Ein Fantasy-Roman, wie Die Fürsten des Nordens erzählt eine Geschichte, die weder faktual noch authentisch, sondern fiktional ist. Die Erzählung schildert keine erzähllogisch fingierte Wirklichkeitsaussage wie einst für phantastische Erzählungen vermutet, sondern besitzt als fiktionaler Text einen Referenzpunkt in der realen Welt der Leser*innen, die die Regeln der erzählten Welt akzeptierten, mit den Ereignissen mitfiebern, sich mit dem Schicksal der Figuren identifizieren und bereit sind, an Tolkiens Grüne Sonne zu glauben. Fiktional besonders deshalb, weil es den Leser*innen in ihrer realen Lebenswelt unmöglich ist, die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen ihrer Mitmenschen unmittelbar zu erfahren. In der figuralen Innenwelt können sie diese während der Lektüre unmittelbar miterleben. Vom Bann der Lektüre verzaubert, unterscheidet kaum jemand zwischen den Mitteln des Erzählens und der erzählten Welt. Samuel Taylor Coleridge hat schon 1817 von einer Suspension of Disbelief gesprochen, der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit, die Bereitschaft die literatische (oder filmische) Fiktion vorübergehend und im Widerspruch zu jeglicher Faktizität zu akzeptieren. Wer nicht über diese Fähigkeit verfügt, Tolkiens Glauben an eine Grüne Sonne, ist unfähig für den Kunstgenuss, den Fantasy-Erzählungen verschaffen.

Der Autor und sein Genre

Der reale Autor, der nicht mit den Erzähler*innen seiner Erzählungen identisch ist, ist der kanadische Erzähler Guy Gavriel Kay, Verfasser einer Serie von Romanen, die eine erzählte Welt teilen. Seit seinem Debüt, die Trilogie The Fionavar Tapestry, (1984-1989; Die Herren von Fionavar), hat er sich eine kohärente Welt für seine Erzählungen geschaffen, deren Korrelat die bedeutenden frühmittelalterlichen Kulturen Europas sind:

  • der griechisch-byzantinische Osten der Spätantike (in The Sarantine Mosaic, 1998-2001);
  • al-Andalus, der arabische Südwesten der iberischen Halbinsel (in The Lions of al-Rassan, 1996);
  • die germanischen Nordseeanrainer-Kulturen Englands und Skandinaviens sowie die gaelisch-keltischen Kulturen in Wales und Irland (in The Last Light of the Sun, 2004).

Alle diese Erzählungen spielen zu unterschiedlichen Zeiten in derselben fiktiven Welt, in der nach dem Untergang des römischen Imperiums (Rhodias bei Kay) Kulturen der von den Römern Barbaren genannten Völker ihre Nachfolge angetreten haben. Auch die Religionen der erzählten Welt sind dem historischen Vorbild nachgebildet: der Jadismus dem Christentum, der Asharismus dem Islam sowie die Alten Religionen den ethnischen Religionen der keltischen Gaelen und skandinavischen Wikinger. Die Epoche, in der sich die in Die Fürsten des Nordens geschilderten Geschehnisse ereignen, lässt sich chronologisch nicht einordnen, die erzählte Zeit bleibt unbestimmt, während die erzählte Welt dieselbe ist wie in G.G. Kays The Lions of Al-Rassan und The Sarantine Mosaic.
Trotz der gleichen erzählten Welt fällt eine Chronologie der verschiedenen Romane schwer. Ein vager Hinweis auf das Mosaik, das Crispin am Ende von The Sarantine Mosaic geschaffen hat, sowie die Werke von Rustem impliziert, dass seither Jahrzehnte, vielleicht aber auch Jahrhunderte vergangen sind; selbst eine relative Chronologie bleibt unbestimmt. Ein Gespräch über die Zeit von Leontes lässt vermuten, dass die Ereignisse in The Last Light of the Sun ungefähr dreihundert Jahre später stattfinden. Asharitische Kaufleute aus Al-Rassan und Verweise auf das Khalifat von Al-Rassan in der Beschreibung von Firaz ibn Bakir platzieren das Geschehen in Die Fürsten des Nordens chronologisch entweder vor oder während die Ereignisse in The Lions of Al-Rassan. Wie dem auch sei, G.G. Kays Romane spielen im frühen europäischen Mittelalter, und zwar nach dem Untergang des römischen Imperiums, was eine Zeit zwischen 500 und 1000 nahelegt, befände man sich in der realen historischen Zeit. Anscheinend bilden die Jahrhunderte zwischen dem Aufstieg des Islam, der islamischen Eroberung der iberischen Halbinsel und den Beutezügen der Wikinger den chronologischen Rahmen für G.G. Kays Romane, was auch die Religionen in diesen Erzählungen nahelegen. So entsteht das Bild einer erzählten Zeit und Welt, dass im Rahmen der Fiktion so real-historisch wie möglich erscheint. Kays Absicht ist es, den Leser*innen diese vergangene Welt so detailliert wie möglich nahezubringen: Lebensbedingungen und Weltanschauung im Rahmen einer spannenden und unterhaltsamen Geschichte.
G.G. Kays Werke kombinieren historische Vorbilder mit erfundenen Figuren, Handlungen und Ereignissen, mit einem pseudo-historischen Weltbild und imitiertem, kulturspezifischem Überzeugungssystem, immer dort, wo die historische Überlieferung nicht ausreicht, eine spannende, am Authentischen angelehnte Geschichte zu erzählen. Damit bewegt er sich in den Spuren Tolkiens, der sein narratives und wissenschaftliches Lebenswerk einer Mythologie für England gewidmet hat, das genau das bezweckt: die reale Geschichte da plausibel zu ergänzen, wo die historischen Quellen schweigen. Wie viele seiner Bücher spielt auch Die Fürsten des Nordens in einer Welt, die sich auf reale Zeiten, Ereignisse, Orte und Menschen stützt, das charakteristische Merkmal seiner Romane. Allerdings erweisen sich die Orte, der gesamte diegetische Raum G.G. Kays, als unbestimmte, fiktionalisierte reale Orte, die nur lose in der realen historischen Welt verankert sind. Seine Ortnamen funktionieren als kognitive Trigger, die ein geographisches und kulturelles Hintergrundwissen des Lesers aufrufen, das die expliziten Rauminformationen des Textes ergänzt. [...] die aber doch durch ihren realistischen Charakter und durch spezifische Beschreibungen den Eindruck erwecken, als handele es sich um die literarische Darstellung eines konkreten realen Ortes.2

2 Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, Ebook, München, 2019:190.

Die erzählte Welt in Die Fürsten des Nordens spiegelt die Epoche der Wikingerinvasionen im angelsächsischen England, insbesondere Wessex und Ost-Anglien. G.G. Kays Erzählung schildert den Versuch des jungen Erlingers Bern Thorkellson sich als Krieger zu beweisen, die Versuche seines Vaters, seine Fehler wiedergutzumachen, einen jungen Prinzen, der nach Rache sucht, und den Versuch eines Königs, sein Reich in ein zivilisierteres (sic. christliches) Land zu verwandeln, das den Angriffen äußerer Feinde standhält und seinen Untertanen Frieden bringt. Die Hauptthemen, die seine Figuren motivieren, sind Rache, Gewalt, das Vergehen einer Ära, die Aussöhnung der Kulturen sowie die Liebe, insbesondere die zwischen Vater und Sohn.
Für Erzähltexte der Fantasy wie Die Fürsten des Nordens hat Farah Mendlesohn in Rhetorics of Fantasy die Kategorie der immersive fantasy definiert, die eine erzählte Welt beschreibt, die functions on all levels as a complete world. In order to do this, the world must act as if it is impervious to external influence. Im Sinne dieser Definition ist die erzählte Welt der historischen Fantasy des G.G. Kay eine nach außen geschlossene Welt nach dem Vorbild der frühen mittelalterlichen Kulturen Europas, die nach deren Weltbild und Überzeugungen funktioniert.
Im Rahmen der historischen Fantasy ist die Erzählung Die Fürsten des Nordens außerdem ein Beispiel sogenannter Schemaliteratur.3 Schemaorientiertes Erzählen ist eigentlich charakteristisch für mündliches (fiktionales wie faktuales) Erzählen sowie für Literatur aus dem Grenzbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, aber auch für die Trivial- und Unterhaltungsliteratur der Belletristik und Genreliteratur. Schemaliteratur folgt nicht der ästhetischen Norm der Innovation, sondern derjenigen der schemabezogenen Variation. Anstelle von Originalität demonstriert sie Kompetenz im Sinne der normgerechten Verwendung gattungsspezifischer Regeln. Auf der Leser*innenseite ist sie durch eine Erwartungshaltung bestimmt, die vor allem an der Erfüllung eines Grundmusters und an der Wahrnehmung geringer Differenzen zwischen den Variationen dieses Grundmusters interessiert ist.

3 Was Schemaliteratur bedeutet, wird offensichtlich, wenn man den Siegeszug des seriellen Erzählens in der Fantasy seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet, das eigenständige Romane (Standalone Novels) in der Fantasy immer mehr zurückdrängt. Zwar gab es in den Jahrzehnten vorher ebenfalls serielles Erzählen in Heftromanen / Groschenromanen (Dime Novels oder Pulp Magazines), eine Form der Trivialliteratur (Schundliteratur), ein Genre der Stereotype und einfachen sprachlichen Mittel, oft wöchentlich reproduziert und wenig variiert, in denen Helden wie beispielsweise der FBI-Agent Jerry Cotton, der Weltraumabenteurer Perry Rhodan oder der Geisterjäger John Sinclair, im Zentrum einer Erzählung stehen und ständig neue Abenteuer erleben müssen, die dem gleichen Plot folgen. Die Struktur des Skripts steht fest, die Autoren sind austauschbar, die Handlung wird in einem seriellen Exposé vorgegeben. Bei den Liebesromanen, die ebenfalls zahlreich unter den Heftromanen vertreten sind, dominieren die Arztromane. Auch unter den Comics (Comic Strip), Erzählungen in einer Folge von Bildern, ist serielles Erzählens seit langem üblich, in Form von Tages- oder Wochenstrips als regelmäßige Folge von drei bis fünf Bildern (oder als Cartoon) in Tages- oder Wochenzeitungen oder Zeitschriften, aber auch in Form von Heftromanen wie beispielsweise Robert E. Howards Conan the Cimmerian oder Hal Fosters Prinz Eisenherz, aber auch in periodisch fortgesetzten Bildergeschichten, in Heften wie U-Comix oder Schwermetall.
Zu den frühen Fantasy-Zyklen in Buchform gehören beispielsweise die Sword and Sorcery-Klassiker von Fritz Leiber, Fafhrd and the Gray Mouser (1972-1997) oder Michael Moorcooks Multiverse-Erzählungen, beispielsweise die Abenteuer von Elric of Melniboné (1961-1964), Jerry Cornelius (1968-1977) oder Corum Jhaelen Irsei (1. Trilogie: 1971; 2. Trilogie: 1973-1974): Moorcocks Eternal Champions. In der Kategorie Fantasy lassen sich zwei verschiedene Formen aktuellen seriellen Erzählens unterscheiden:

  • cineastische oder literarische Serien, von denen Jahr für Jahr eine Fortsetzung erscheint, in der dieselben Figuren in derselben erzählten Zeit und Welt, sich ähnelnde Abenteuer erleben, der einzelne Plot kaum unterscheidbar, lediglich eine Variation des vorausgegangenen ist. Kriminalerzählungen, unter denen sich eigenartigerweise zunehmend der Plot des Serienmords etabliert hat, bilden das bekannteste Beispiel für dieses narrative Modell auf dem deutschen Buchmarkt. Die seit Jahrzehnten über bundesdeutsche Bildschirme flimmernde ARD-Serie Tatort ist wohl das berüchtigtste Beispiel einer Serie schemabezogener Variation, deren Machern die Kreativität verlorengegangen ist. Es ist kaum vorstellbar, dass eine sonntäglich ausgestrahlte Serie noch immer ihre Kosten einspielt, immerhin sind es angeblich 160.000 Euros für eine Stunde Drehzeit.
  • cineastische oder literarische Serien, deren Geschehen sich in derselben erzählten Welt ereignet, seltener auch in derselben erzählten Zeit, deren Variationen aus unterschiedlichen Plots, neuen Figuren und Handlungen sowie aus Erzählungen bestehen, die innerhalb der einen Serie abgeschlossen sind. Beispiele für die aktuellen, teilweise unvollendeten Fantasy-Zyklen sind Brandon Sandersons Romane und Serien der Cosmere-Erzählungen, beispielsweise die Serien Mistborn (2006-2008) oder The Stormlight Archives (2010-2020) oder die eigenständigen Romane Elantris (2005) oder The Emperor´s Soul (2012), Scott Lynch Gentlemen-Bastards (2006-2013), Peter V. Bretts Demon Cycle, aber auch die Romane von Guy Gavriel Kay, beispielsweise die dreibändige Serie The Fionavar Tapestry (1984-1986) oder die eigenständigen Romane Under Heaven (2010) und River of Stars (2013), deren Geschehen sich in der Song-Dynastie im 12. Jahrhundert ereignet, gehören in diese Kategorie (für eine vollständige Liste der Fantasy-Literatur siehe Farah Mendlesohn und Edward James, A Short History of Fantasy, Middlesex University Press, 2009:261ff.).

Serielles Erzählen bietet nicht unbedingt nur Vorteile für eine Erzählung. Positiv ist die Gelegenheit, Figuren und Geschehen ausführlich und detailliert darzustellen, den Figuren und der Handlung angemessen Raum zu geben, Nebenfiguren und deren Funktion für die Erzählung besser zu profilieren, Nebenschauplätze zu würdigen oder Motive einzubeziehen, die das eigentliche Geschehen motivieren oder ihm vorausgehen. Sind Figuren und Welten stimmig konstruiert, und ist der Autor ein guter Erzähler, fantasievoll und erfindungsreich, gibt es kaum Nachteile für ein serielles Erzählen. Ein wesentliches Problem liegt allerdings auf der Seite der Produktion, weil Verlage und Filmgesellschaften die Serien, die sie unter Vertrag genommen haben, willkürlich absetzen oder Fortsetzungen nicht mehr verfilmen oder übersetzen, wenn diese nicht die monetären Erwartungen (oder Notwendigkeiten?) der Verleger und Produzenten erfüllen. Ein Ärgernis für Autor*innen und Rezipient*innen, die sich in ihrem Vertrauen und ihren Erwartungen getäuscht sehen.

In der folgenden Analyse lassen sich Spoiler leider nicht vermeiden. Leser*innen, die The Last Light of the Sun oder Die Fürsten des Nordens noch nicht gelesen haben, sollten vor der Lektüre der folgenden Ausführungen bedenken, ob sie diesen Roman vorher lesen wollen, bevor sie meiner Argumentation weiter folgen.

Eine kommentierte Synopsis der erzählten Welt

Inhaltlich gliedert sich der Roman Die Fürsten des Nordens in drei Teile, die als Interlacement gestaltet sind, und die abwechselnd vom Schicksal der drei Erzähler, Hauptprotagonisten und Figuren der erzählten Welt, handeln. Diese narrative Technik arrangiert die drei Handlungsstränge des Erzähltextes kapitelübergreifend als drei interagierende Kulturen nach dem Vorbild: germanisch / Wikinger (Islendinga Sögur); gaelisch-keltisch (Mabinogion); angelsächsisch (Anglo-Saxon Chronicle). In diesem Setting repräsentieren die diesen Kulturen angehörenden Hauptfiguren unterschiedliche Weltanschauungen: der Erlinger Bern Thorkellson und die Seherin Andrid den Alten Glauben, der auf magischen und polytheistischen Überzeugungen beruht; der Cyngael Alun ab Owyn und Aeldreds Tochter Kendra, beide ambivalent zwischen den konkurrierenden Überzeugungen der ethnischen Religiosität des Alten Glaubens und dem neuen Jadismus schwankend; der Angclyn-König Aeldred und der Priester Ceinion, überzeugte Vertreter des monotheistischen Jadismus. Jeder der drei Handlungsstränge repräsentiert einen fiktionalen kulturellen Hintergrund, sodass der Roman, entsprechend der Interlacement-Struktur, intern dreigeteilt ist.
Bern Thorkellson, ein junger Erlinger, ist Sklave auf Rabady Island in Vinmark, seit sein Vater Thorkell in betrunkenem Wutanfall, wie sein Vorbild, der im isländischen Landnámabók historisch belegte Egill Skallagrímson, einen Mann getötet hat. In einer Winternacht stiehlt Bern das Pferd eines Verstorbenen, schwimmt ans Festland, und flieht nach Jormsvik, einer von Elite-Erlinger-Söldnern bewohnten und befestigen Stadt hoch Norden. In einem Initiationsduell erringt Bern den Sieg, und wird in die Reihen der Jormsvikinger aufgenommen. Als geachteter Krieger schließt er sich einem Beutezug an, der von Vinmark nach Anglcyn aufbricht, um Ruhm und Reichtum zu erwerben.
Weit im Westen, in Cyngael, erreichen Alun ab Owyn und sein Bruder Dai, zwei Prinzen der Provinz Cadyr, das Haus von Brynn ap Hywll, einem berühmten, in die Jahre gekommenen Kämpfer, der mit Frau und Tochter auf Brynnfell, einem Gutshof in der Provinz Arberth lebt. Begleitet werden sie von dem berühmten jaditischen Geistlichen Ceinion. In der gleichen Nacht überfällt der historisch belegte Sohn des legendären Wikingerführers Ragnar Lodbrok, Ivarr Ragnarson (der Knochenlose; Ívarr inn beinlausi) mit einem Trupp marodierender Erlinger das Gut. Er will Rache an Brynn nehmen, der seinen Großvater erschlagen und das berühmte Schwert des Volgan erbeutet hat. Dai ab Owyn wird in dem Scharmützel erschlagen, seine Seele von einer Fee geraubt, die sie ihrer Königin zum Geschenk macht. Sein Bruder Alun, der den Seelenraub beobachtet, verfolgt die Fee; der Beginn einer Beziehung in der Zwischenwelt des Alten Glaubens, in der Jads Sonne nicht scheint. Berns Vater Thorkell, der an dem Angriff teilgenommen hat, wird gefangen genommen, leistet Brynns Frau Enid einen Eid, und wird ihr Gefolgsmann.
Anglcyn, das dritte Reich, wird von König Aeldred regiert, der sein Königreich vor einer Invasion durch die Erlinger trotz einer Niederlage bewahren konnte. Aeldred hat mittlerweile ein starkes Reich aufgebaut und in friedlichen Jahren begonnen, Manuskripte zu sammeln und die Wissenschaft zu fördern. Aeldreds Berufsarmee schwächte in einer späteren Schlacht die Erlinger, sodass ein fragiler Friede möglich wurde. Dennoch suchen die Jormsvikinger, unter ihnen Bern Thorkellson auf seinem ersten Beutezug, die Südküste Anglcyns heim. Die Söldner aus Jormsvik werden von Aeldreds Kriegern besiegt und in die Flucht geschlagen. Bern und Thorkell haben während der Kämpfe ein kurzes, nicht gerade freundliches Wiedersehen. Sein Vater warnt ihn vor der bevorstehenden Niederlage, doch Bern beschließt trotz der Warnung bei den Erlingern zu bleiben. Aus Scham, ohne Beute heimzukehren, brechen diese nach ihrer Niederlage nach Westen auf, um in Brynnfell zu beenden, was Ivarr Ragnarson im vergangenen Winter nicht gelungen ist.
Um die Bewohner von Brynnfell zu warnen, durchqueren Alun, Thorkell und Aeldreds ältester Sohn unter vielen Gefahren einen Geisterwald, der Cyngael und Anglcyn trennt. Zur gleichen Zeit wie die Erlinger erreichen sie Brynnfell. Da sie zahlenmäßig unterlegen sind, entscheidet ein Zweikampf, in dem Thorkell als Champion der Cyngael fällt. Aufgefordert von Thorkells letzten Worten brechen die Erlinger auf und ändern erneut den Kurs, um ein unverteidigtes Kloster in Feerieres (sic. Bretgane) zu plündern, um nicht gedemütigt und ohne Beute erfolglos nach Jormsvik zurückzukehren. Mit großem Reichtum beladen ziehen sie vor Winterbeginn in Jormsviking ein.
Nachdem die Erlinger abgezogen sind, holen Brynn und Alun das Schwert des Volgan aus seinem Versteck im Geisterwald. Mit diesem Schwert erlöst Alun die Seele seines Bruders, und all die anderen verstoßenen Liebhaber, die die Feenkönigin vor Dai in ihrer Gewalt hatte. Diese Entscheidung beendet auch Aluns Beziehung zu der Fee, die ihm ihre Unterstützung entzieht.
Das latente Leitmotiv des Romans ist der langsame kulturelle Wandel, die kontinuierliche Veränderung der Lebenswelten und Überzeugungssysteme, die Zerstörung der überlieferten Traditionen, die Hegemonie von Zivilisation contra Wildnis und Aberglaube, die zugunsten einer neuen Lebensweise zurückgedrängt werden. Selbst die letzte Bastion der alten Welt, das abgelegene Habitat der Jormsvikinger, fällt schließlich unter die zentrale Herrschaft eines Königs. Die meisten Figuren der Erzählung begrüßen diese Änderungen, die mehr Ordnung und Wohlstand mit sich bringen, eine zentralistische Regierung und einen monotheistischen Glauben, eine Entwicklung, die den sozialen und kulturellen Wandel vom frühen Mittelalter zum Hochmittelalter spiegeln. Doch dies ist nur der narrative Rahmen, vor dessen Hintergrund sich eine Initiationsgeschichte ereignet, wie sie in fiktionalen Jugendromanen üblich ist.

Guy Gavriel Kays historische Fantasy und die reale Weltgeschichte

Die Handlung in Die Fürsten des Nordens schildert eine kulturelle Entwicklung, das Wachsen der jaditischen (sic. christlichen) Zivilisation, die die archaische Wildnis ethnischer Religiosität zurückgedrängt, sodass selbst so gesetzlose Orte wie das von grausamer Tyrannei geprägte Jormsviking und der mysteriöse Geisterwald, das Reich der Feen, schließlich unter die Herrschaft eines ordnenden Königs fallen, Änderungen, die Ordnung und Wohlstand versprechen. Die Religion von Jad soll durch ihre gelehrten Kleriker und eine Verschiebung der Macht in die Hände eines absolut regierenden Monarchen die zivilisierende Rolle spielen. Das historische Vorbild, auf das der Autor in Die Fürsten des Nordens rekurriert, ist offensichtlich:

  • Aeldred, orientiert sich eindeutig an der Biografie Alfred des Großen.
  • Die Erlinger-Kultur repräsentiert die der Wikinger. Die Cyngael und Anglcyn basieren auf den Walisern bzw. den Angelsachsen. Rheden scheint ein Pseudonym des angelsächsischen Königreichs Mercia zu sein und der Rheden Wall erinnert an die römischen Grenzwälle Britanniens.
  • Die den Erlingern verhasste Hauptreligion des Jadismus gründet auf dem Christentum, dass auch in The Lions of Al-Rassan und The Sarantine Mosaic die kultur-verändernde Kraft darstellt.

Als Genre gehört G.G. Kays Die Fürsten des Nordens in die Kategorie der historischen Fantasy, die fantastische Elemente wie Magie und übernatürliche Phänomene in eine realistische historische Umgebung integriert. Sein Roman weist zahlreiche Überschneidungen einzelner Unterkategorien der Fantasy auf wie Arthurische, Keltische, Mittelalterliche oder Dark Fantasy, die sich in seinem Erzähltext in den Überlieferungen realer Kulturen spiegeln. Die hauptsächlichen Analogien zur realen Geschichte repräsentieren aber die Hauptfiguren der Erzählung:

  • Aeldred, König der Anglcyn, imitiert den angelsächsischen König Alfred (Ælfred) den Großen, Gründer eines gegen die zahlreichen Eroberungszüge der skandinavischen Wikinger durch ihn vereintes England. Unter seiner Herrschaft wurden Verwaltungs- und Militärreformen eingeführt, deren narrative Reflexe auch in Die Fürsten des Nordens thematisiert werden. Ealhswith beziehungsweise Elswith heißt die Frau des fiktionalen wie des historischen Königs, Æthelweard oder Athelbert sein Sohn. Æthelflæd, Alfreds älteste Tochter und spätere Herrin von Mercia, ist das Vorbild für Aeldreds älteste Tochter Judit, die gemäß der Erzählung, nach Rheden (Mercia) verheiratet werden soll. Die einzige Frau der Anglcyn, eigentlich des ganzen Romans, die als Hauptfigur eine wichtige Funktion für die Erzählung spielt, ist Aeldreds jüngere Tochter Kendra. Auf ihre vermittelnde Rolle im zentralen Konflikt der Geschichte gehe ich gesondert ein. In der Folge hat sich auch der britische Schriftsteller Bernard Cornwell in seiner seriellen historischen Fiktion The Uthred oder Saxon Chronicle (2007-2021) der Vita Alfreds des Großen angenommen, die als The Last Kingdom von BBC America verfilmt und seit 2015 von Netflix als Video-Stream angeboten wird.
  • die Erlinger (Wikinger) Bern Thorkellsohn und sein Vater Thorkell Einarson, sowie der bereits verstorbene Siggur Volganson, Besitzer eines begehrten Schwerts, dessen Tod die Beutezüge der Erlinger motiviert, sind Figuren sowohl aus einer isländischen Saga als auch aus Werken der Geschichtswissenschaft wie beispielsweise Ragnarr Loðbrók, Sven Gabelbart, Erik der Rote oder Egil Skallagrimsson (mögliches Vorbild für Thorkell Einarson). Seherinnen wie Andrid finden sich zahlreich in den norrönen Überlieferungen, die der eddischen Volüspá ist nur die prominenteste unter ihnen.
  • Alun ab Owyn, Ceinion von Llywerth und Brynn ap Hwyll, die Hauptfiguren der (gaelischen) Cyngael gibt es auch im keltischen Mabinogion und den alt- und mittelirischen Sagen und Erzählungen des Ulster-Zyklus. Der bedeutende Kämpfer und Held der Sage vom Rinderraub von Cooley, Cú Chulainn, zentraler Held einer epischen Dichtung des Ulster-Zyklus, aber auch Pwyll, Fürst von Dyfed, aus dem ersten Zweig des Mabinogi, sind brauchbare Vorbilder der Cyngael-Figuren. Die gut profiltierten, in der Geschichte aber nur Nebenfiguren, Rhiannon met Brynn und ihre Mutter Enid, passen ebenfalls in Bild historischer oder folkloristischer Vorbilder.

Eine Kategorie der historischen Fiktion ist der historische Roman, dessen Handlung in einem Umfeld spielt, das wirkliche vergangene Ereignisse schildert, also faktual erzählt, aber trotzdem fiktional ist, da er neben historischen Begebenheiten durch erfundene Figuren, Motive und Handlungen charakterisiert ist. Allerdings fehlt das Element Magie, das definierende Kriterium der historischen Fantasy. Die Kombination historischer und fiktionaler Elemente ist nicht so neu wie das Genre Fantasy. Man findet sie in der westlichen Literatur seit dem frühen 19. Jahrhundert in den Werken von Sir Walter Scott, Honoré de Balzac, James Fenimore Cooper oder Leo Tolstoi.

Die erzählte Welt in G.G. Kays Fürsten des Nordens imitiert, wie bereits erwähnt, die drei mittelalterlichen Kulturen der Nordseeanrainer des modernen Großbritanniens und Skandinaviens. Seine Erzählung basiert auf den gegenseitigen, historisch überlieferten Beziehungen dieser Kulturen sowie auf größtenteils erfundenen Interaktionen der Hauptfiguren. Den historischen Hintergrund bezieht der Autor aus den Beschreibungen der modernen Geschichtswissenschaft, aus zeitgenössischen Chroniken wie der anonymen Anglo-Saxon Chronicle oder der nordischen Heimskringla des Snorri Sturluson. Aber auch die keltische Folklore des angelsächsischen Englands und Wales wie die Sagenkreise um Arthur und das Mabinogion, das altenglische Epos Beowulf, die isländischen Sagas und Eddas sowie die mittelalterlichen Heldenepen gehören zu seinen Quellen. Kays Roman ist deshalb auch Mittelalterliche Fantasy, weil sich in ihm Aspekte mittelalterlicher Geschichte sowie ein populäres Mittelaltertum finden lassen. Sword and Socery, Märchen, High oder Low Fantasy sind weitere Subgenres, aus denen sich G.G. Kay ausgiebig bedient. Wie gezeigt, handelt es sich bei G.G. Kays Fürsten des Nordens nicht allein um herkömmliche Fantasy, die durch real Unmögliches, magische Praktiken und übernatürliche Figuren charakterisiert ist. Sein Roman ist historische Fantasy, kein historischer Roman, denn mit dem Genre Fantasy verbindet sich das genredefinierende Merkmal Magie eine das Geschehen motivierende Rolle spielt, die immer wieder handlungsbestimmend ist: beispielsweise in Berns rituell verursachter (vorgetäuschter) Unsichtbarkeit, an die er aber glaubt, im Seelenraub der Fee und in den späteren Ereignissen im Geisterwald, Vorstellungen, die in den nordischen Kulturen allgemeingültige Überzeugungen waren, sodass die Grenze zwischen historischer Fantasy und historischem Roman zumindest strapaziert wird. Wie sich zeigen wird, handelt es sich bei seinem Roman um einen hybriden Erzähltext. Die Fürsten des Nordens ist kein historischer Roman, denn der Autor kommt nicht ganz ohne das Übernatürliche der Fantasy aus. Deshalb ist auch die Behauptung des Verlags, dass es sich um historische Fantasy handelt, auch der einzig vernünftige Paratext.
Die übernatürlichen Geschehnisse in Kays Roman finden sich in allen drei Teilen der Erzählung. Sie zerreißen die Illusion der Leser*innen immer wieder neu, historische Begebenheiten zu verfolgen, appellieren an irrationale Ängste, die Kay geschickt zur Spannungssteigerung nutzt. Unheimliche Atmosphären eines Geisterwalds, der seit Generationen als unpassierbar gilt, will man Leben und Seele nicht gefährden, monströse Ungeheuer und unheilvoll spukende Kobolde (Spruach) und Feen bringen die Hauptfiguren in krisenhafte Situationen, in denen sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln und die geltenden Überzeugungen ihrer Lebenswelt in Frage stellen. Zu diesen Geschehnissen gehören.

  • der Raub von Dai ab Owyns Seele durch eine Fee;
  • Alun ab Owyns (reale) Begegnung und Kommunikation mit einer Fee;
  • die beiden Feenprozession in einem Teich des Geisterwalds;
  • die spukenden Spruach;
  • die Bedrohung durch ein monströses, stinkendes Monster im Geisterwald;
  • die grün leuchtenden Seelen der verstoßenen Liebhaber der Feenkönigin;
  • die telepathisch anmutende Fähigkeit Aluns und Kendras miteinander zu kommunizieren.

Allerdings sind dies marginale Ereignisse, die vor allem dazu dienen, den schwindenden, magisch-polytheistischen Alten Glauben in eine konkurrierende Spannung zum neuen, dem Christentum ähnelnden Glauben zu setzen. Wären Die Fürsten des Nordens ein historischer Roman, historische Fiktion, dann müsste der Autor die konflikthafte Auseinandersetzung der Figuren mit den konträren Weltanschauungen - Jadismus und Alter Glaube - theologisch und philosophisch fundierter führen. Für historische Fantasy ist schemaorientiertes Erzählen, die normgerechte Verwendung gattungsspezifischer Regeln, üblich und meistens ausreichend, um der Erwartungshaltung der Leser*innen zu genügen. Letzten Endes dient auch die Gliederung der Fantasy durch Verlage und Literaturkritik in Subgenre diesem Zweck.

Erzählte Zeit und erzählte Welt

Wer eine Geschichte zu erzählen hat, braucht zuerst ein kohärentes Wordbuilding, ob vergangen, gegenwärtig oder zukünftig, an erfundenen oder realen Welten orientiert, eine Welt und eine Zeit, in der sie sich ereignen und entfalten kann.
Es bestehen zwei Möglichkeiten die erzählte Zeit zu gestalten, in der sich eine Geschichte ereignet: inhaltlich und grammatisch. Die erzählte Welt einer fiktionalen Geschichte ist eine Konstruktion realer Autor*innen, derjenigen, die die Ereignisse und Handlungen textextern erfinden, und durch entsprechende Erzählinstanzen kontrollieren. Manche gehen so weit und werden durch einen ihrer Erzähler selbst Figur der erzählten Welt wie Robert Jordan durch Thom Merrilin oder J.R.R. Tolkien durch Eriol, Ælfwine und andere.4

4 Im folgenden verwende ich zur Kennzeichnung der besprochenen Stellen drei Abkürzungen: Buchtitel [DFDN], Teil [T], Kapitel [K], Abschnitt [A].

Die erzählte Zeit,5 in der sich das Geschehen in Die Fürsten des Nordens entfaltet, beträgt ein Jahr - vom Ende des Winters bis zum Beginn des folgenden Frühlings.

5 Die Erzählzeit des Romans, die nicht die erzählte Zeit ist, ergibt sich aus den Seitenzahlen oder der individuellen Lesedauer und entspricht mit 536 Seiten dem Umfang eines epischen Romans. Ganz genau ließe sich die Erzählzeit von Die Fürsten des Nordens in einem Hörbuch ermitteln, das es allerdings nicht gibt, denn der Vorleser benötigt nämlich genau die Zeit, die zum Lesen des Buchs erforderlich ist.

Bern Thorkellsons und Alun ab Owyns Aufbruch findet im Frühling statt, einem Symbol für Wiederauferstehung und Neubeginn, der Anfang von etwas Neuem in ihrem Leben, den die beiden Helden auch im Sinn haben. Mit Beginn des Frühlings trifft Firaz ibn Bakir, ein Händler aus dem Kalifat Al-Rassan ein, an einem grauen Frühlingsmorgen (T1, K1, A1). Während ibn Bakir auf Kunden wartet, bemerkt er eine Unruhe im Ort, die durch den Diebstahl des Pferds Gyllir verursacht wird, das dem verstorbenen Halldr Dünnbier gehört und mit ihm auf dessen Schiffsbestattung verbrannt werden soll.6 Der Winter war vorüber, ließ aber die Erde noch nicht aus den Krallen (T1, K1, A1), doch die Händler aus Übersee sind bereits eingetroffen. An einem grauen Frühlingsmorgen flieht Bern Thorkellson mit Gyllr über die Meerenge nach Jormsvik. Später, in Brynns Halle, der nächste Winter steht bevor, erinnert sich seine Tochter Rhiannon daran, wie alles anfing, am Ende des Frühlings (T1, K1, A1 und A2 sowie T3, K16, A8). Aeldred, König der Angclyn, ereilt am Beginn des Frühlings sein Golgatha. Er verliert eine Schlacht im Süden seines Reichs (Wessex) gegen ein Erlingerheer und muss in die Sümpfe (von Beortferth) fliehen: Als es Frühling wird, hausen fast zweihundert Mann [der Rest seines Heers] auf der Insel (T2, K6, A6).

6 Ibn Bakir ist durch den historischen Ahmad ibn Fadlān inspiriert, der im 10. Jahrhundert einen Reisebericht verfasste, mit eindrucksvollen Schilderungen der warägschen Rus, denen er in der Gegend um Bolgar begegnete, wo an der Wolga eine ihrer Schiffsbestattungen stattfand, eine Szene, die auch den Film Der 13. Krieger von John McTiernan und Michael Crichton (1999) einleitet.

Den Sommer der erzählten Zeit verfolgen die Leser*innen im Süden Englands, in Aeldreds Festung Elswerth. In einer Spätsommernacht in Elsferth (T2, K6, A1) findet ein Überfall marodierender Jormsvikinger statt. Es ist noch immer Sommer als der Konflikt dem Höhepunkt entgegensteuert. Die Leser*innen befinden sich in der Mitte der Erzählung. Die militärische Auseinandersetzung von König Aeldred mit den plündernden Erlingern, denen er im Frühling noch unterliegt, entscheidet er im Sommer gegen die Jormsvikinger unter Ivarr Ragnarson siegreich für sich. Doch jetzt in jener Spätsommernacht in Elsferth. [...] Drachenschiffe glitten, von Ingavins Wind getragen, auf dem sommerlichen Meer durch die Nacht (T2, K6, A1 und K11, A3). Nach Ivarrs Tod, der Flucht der Erlinger nach Westen sowie dem Aufbruch von Alun, Thorkell und Aethelbert, Aeldraes ältestem Sohn, in den Geisterwald, denkt Kendra, Aeldreds jüngere Tochter, an ihre erste Begegnung mit Alun zurück, als der junge Mann gestern Morgen gerade an der Stelle den Fluss überquert hatte, wo sie und die anderen müßig auf der Sommerwiese lagen (T3, K13, A4). Der Ritt durch den Geisterwald und der Zweikampf in Brynnfell, im Spätsommer und Herbst im dritten Teil der Geschichte, leitet den Schluss ein. Auch Alun ab Owyn, Thorkell Einarson und Atheberth, Aeldreds Sohn, reiten im Spätsommer, wenn die Ernte eingefahren wird, durch den Geisterwald nach Arberth.
Bei Anbruch des Winters kehrt Bern Thorkellson mit den überlebenden Jormsvikingern, nach dem erfolgreichen Beutezug in Ferrieres, und wohlhabend geworden, nach Jormsvik zurück, wo er seine Angelegenheiten regelt, und schließlich nach Rabady heimkehrt, von wo er ein Jahr zuvor aufgebrochen ist. Es wurde ein guter Winter für Jormsvik (T3, K16, A7) [...] Ein ganzes Jahr war vergangen, und war er wieder hier (T3, K17, A2 und K15, A5). Auch Ceinion, der Hohepriester der Cyngael, der für den Winter in Elsferth blieb, zieht nach dem ereignisreichen Jahr Bilanz und er wusste selbst nur zu genau, dass er seit dem letzten Frühling gealtert war. [...] Er hatte wie versprochen den Winter hier verbracht und wollte nun, da es wieder Frühling wurde, heimkehren zu seinem Volk (T3, K17, A6).
Im ersten Teil des Romans Die Fürsten des Nordens, zu Beginn des Frühlings, verlassen zwei Hauptfiguren der Erzählung, Bern Thorkellson und Alun ab Owyn, ihre Heimat, in einer Zeit des Wachsens des Neubeginns. Die Schlacht König Aeldreds mit den Jormsvikingern und der gewagte Ritt durch den Geisterwald, sind die zentralen Ereignisse des Sommers. Eine Zeit der Reife, bevor der Winter naht, bestimmt den zweiten Teil der Erzählung. Der dritte Teil, der Winter, eine Zeit der Ruhe und Besinnung, schildert die befriedigende Lösung aller Konflikte.

Über die Geografie von G.G. Kays Erzählung wurde bereits viel gesagt. Der geografische Raum gehört, neben der Zeit, der Handlung und den Figuren zu den wichtigsten Mitteln von Kays erzählter Welt. Jeder reale Raum wird allein durch die erfundenen Figuren und die imaginären Ereignisse zu einer fiktionalen Welt. Gleichwohl trachten Autor*innen danach, ihre Anderen Welten so zu konstruieren, dass sie irgendwie mit der realen Geografie ihrer Leser*innen harmonieren. Schauplätze können real oder erfunden, möglich oder unmöglich sein, meist sind sie eine Kombination realer und fiktionaler Orte. Die Geografie einer Erzählung, ihr diegetischer Raum, ist, neben der Zeit, der Handlung und den Figuren, ein konstitutiver Bestandteil jeder erzählten Welt (Diegese). Der fiktionale Raum in Kays Roman ist so konstruiert, dass spezifische Beschreibungen den Eindruck erwecken, als handele es sich um die literarische Darstellung eines konkreten realen Ortes. Auf diese Weise gewinnen auch Erzählungen wie Die Fürsten des Nordens ihren vorgeblich realistischen Charakter. Letztlich wird jedoch jeder reale Raum fiktionalisiert, weil in ihm erfundene Figuren existieren und imaginäre Ereignisse stattfinden. Die erzählte Welt, das Worldbuilding von Die Fürsten des Nordens, knüpft auf diese Weise an die primäre Realität der Leser*innen beziehungsweise deren historische Kenntnis und Vorverständnis an. G.G. Kay hat seine fiktionale Welt nicht durch die Verwendung realer Ortsnamen (Toponyme) in der realen Geografie verankert. Wie bereits erwähnt, funktionieren seine Ortsnamen als kognitive Trigger, die assoziativ an geografisches und kulturelles Wissen der Leser*innen anknüpfen.

Erzähler*innen als Figuren der erzählten Welt

Die Kunst fiktionalen Erzählens liegt in der Bewältigung der Schwierigkeit, runde Charaktere als Subjekte zu entwerfen, die sich bemühen, ihre Situation und ihr Verhalten für die Leser*innen nachvollziehbar zu reflektieren und sich die Konsequenzen ihres Handelns bewusst zu machen, womit der Autor es seinen Leser*innen erleichtert, an ihre realen, lebensweltlichen Erfahrungen anzuknüpfen. G.G. Kay präsentiert seine Figuren als offene Erzähler (overt narrators), schildert umfangreich und ausführlich ihre inneren Prozesse: ihr Wissen und ihre Vermutungen über das narrative Geschehen, die Interpretation ihrer Wahrnehmungen, ihrer Gedanken und Gefühle, ihrer Ängste und Hoffnungen, ihrer Mutmaßungen und Vorurteile über Unverstandenes. Eine besondere Herausforderung besteht darin, etwas über das Innenleben der Figuren mitzuteilen. Erzähltechnisch verwendet er dazu die narrativen Mittel des Gedankenberichts und der erlebten Rede, die den größten Teil der Erzählung in Anspruch nehmen. Außerdem nutzt er diese Mittel dazu, um die innerpsychischen Motive und Prozesse seiner Figuren zu profilieren. Weniger ihr äußeres Erscheinen, als ihre innere Befindlichkeit rückt als charakterisierendes Merkmal in den Vordergrund.7

7 Für die Terminologie der Erzähltextanalyse vgl. Martínez und Scheffel, Einführung, 2019 [1999], Wolf Schmidt, Elemente der Narratologie, Berlin 2014 sowie Silke Lahn und Jan Christoph Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart und Weimar, 2013.

Erzähler*innen und Figuren in Kays erzählter Welt sind identisch. Bern Thorkellson, Alun ab Owyn und die anderen sind offene, homo- oder autodiegetische Erzähler*innen, Point of View-Erzähler*innen beziehungsweise personale Reflektorfiguren, durch deren Augen Leser*innen an dem Geschehen teilnehmen, über ihre Schulter schauen, sodass es ihnen leichtfällt, sich zu identifizieren. Abwechselnd, kapitelweise, erzählen sie von sich synchron ereignenden Geschehnissen. Jedes Kapitel ist in identifizierbare Abschnitte gegliedert, der Inhalt von einem oder mehreren Erzähler*innen repräsentiert. Diese Erzähler*innen sind Figuren der erzählten Welt, sodass nur gelegentlich ein auktorialer Erzähler, eine Stimme aus dem Off, zu Wort kommt, die sich nahtlos in das Geschehen einfügt. Die meiste Zeit wissen die homodiegetischen Erzähler*innen, denn sie sind die direkten Aktanten des Geschehens, selbst sehr genau, was erzählt werden muss, was wichtig oder vernachlässigbar ist. Auf eine Weise, die ihrem Charakter, ihrer Verstrickung in das narrative Geschehen, entspricht, verwenden die Erzähler*innen, als Haupt- oder Nebenfiguren, für ihren Bericht eine direkt-indirekt gemischte Figurenrede, autonome Gedankenzitate als innerem Monolog oder Gedankenberichte, Passagen mit Tempuswechsel zur Perspektivierung der Raum-Zeit-Differenz in variabel interner Fokalisierung, die den Leser*innen eine intime Mitsicht ermöglicht sowie die erwähnten heterodiegetischen Einsprengsel (als nullfokale Episoden) in denen Belehrendes, Daten und Informationen, Philosophisches, Kulturelles, Historisches, Mythologisches oder allgemein Menschliches aus einer quasi-auktorialen Position mitgeteilt wird. In figuraler Erzählperspektive, nachahmender Handlung (Mimêsis),8 um Aristoteles zu zitieren, sagt der Autor, nicht zu vergessen, dass er es ist, der durch seine Figuren spricht, großenteils nicht mehr, als seine Protagonisten wissen, denn sie sind die Figuren seiner erzählten Welt. Dass bedeutet auch, dass die Figuren sprechen, und das Geschehen möglichst authentisch in direkter Rede wiedergeben, sodass nur wenig Vermittlungsarbeit der Erzählinstanz erforderlich ist. Die Figuren erzählen retrospektiv, weshalb das Präteritum die geeignete grammatische Form ist. Es ist ein Phänomen fiktionaler Literatur, dass die Leser*innen trotz des Präteritums im Augenblick der Lektüre einer Gegenwärtigkeitsillusion verfallen. Käte Hamburger spricht in diesem Zusammenhang von der Zeitlosigkeit der Fiktion. Während der Erzähler in der Heterodiegese ohne Einschränkung außerhalb der erzählten Welt in keinem zeitlichen Verhältnis zu ihr steht, handelt es sich in homodiegetischen Erzähltexten wie in Die Fürsten des Nordens um eine echte Vergangenheitsform, um eine vorgetäuschte, fingierte Wirklichkeit, um erneut Käte Hamburger zu zitieren.9

8 In der Poetik (Kapitel 1–5: Zur Dichtung allgemein) hat Aristoteles definiert, dass alle Dichtung Mimêsis (die nachahmende Darstellung der Wirklichkeit) ist. Nachgeahmt, lehrt er, werden handelnde Menschen, deren Absichten, Charakter und Handlungen, die sich zum Besseren oder zum Schlechteren auswirken. Diese Nachahmung ist dem Menschen einerseits angeboren, andererseits bereitet sie ihm Freude und, in der Form der Dichtung ein gemäßes, charakteristisches Vergnügen (oikea hedone).

9 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart, 1968 [1957].

In grammatischer Perspektive fallen zwei verschiedene Tempi auf, die an unterschiedliche Erzählinstanzen gebunden sind. Den größten Teil der Geschichte erzählen Bern, Alun oder Aeldred in der dritten Person des epischen Präteritums. Doch es gibt eine entscheidende Ausnahme, einen Tempuswechsel, der sich auf einige wenige Kapitel und auf nur zwei Erzählinstanzen beschränkt, für die der Autor das sogenannte historische Präsens reserviert hat. Die Funktion des historischen (oder dramatischen) Präsens in Die Fürsten des Nordens, auf die ich in diesem Zusammenhang noch ausführlich zu sprechen komme, dient dazu, bestimmte Handlungssequenzen durch das Präsens besonders hervorzuheben, die Szene zu intensivieren und eine besondere Relevanz für das Geschehen zu signalisieren. Allgemeine Reflexionen des Erzählers, der sich aus seiner Mitsicht des Geschehens unmittelbar an die Leser*innen wendet, lassen sich durch einen Tempuswechsel hervorheben. Gleichzeitig dient dieses narrative Mittel der Vergegenwärtigung des Erzählten, der Rezeptionslenkung und Spannungserzeugung.

Die Fürsten des Nordens als Märchensaga

Auf den ersten Blick ist die Verwandtschaft von Die Fürsten des Nordens mit Erzählgattungen wie Märchen und Sage nicht offensichtlich, da dem Roman wegen seiner Komplexität die inhaltliche Formelhaftigkeit von folkloristischen Erzähltexten fehlt. Shemaorientiertes Erzählen ist eigentlich für mündliches, fiktionales Erzählen charakteristisch, doch auch für die Trivial- und Unterhaltungsliteratur der Detektiv- und Abenteuergeschichten, und besonders für Fantasy und Science Fiction seit dem späten 18. Jahrhundert üblich, Erzähltexte die im Allgemeinen als Genreliteratur klassifiziert werden. Und nur auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich, wenn ich mich für meine Analyse der erzählten Welt von G.G. Kays Roman der Kriterien bediene, die Vladimir Propp in der Morphologie des Märchens (1927), Joseph Campbell in Der Heros in tausend Gestalten (1949) oder Jürg Glauser in Isländische Märchensagas (1998) entwickelt haben.
Kurt Schier hat den Begriff Märchensaga für bestimmte isländische Texte eingeführt, um den pejorativen Terminus lygisögur des altisländischen Genres zu ersetzen.

Mit „Märchensagas“ wird hier – in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks – eine sehr umfangreiche Gruppe von Geschichten bezeichnet, die gegen Ende des 13. Jhs. mit isländischen Neuschöpfungen in der Art der übersetzten Riddarasögur ihren Anfang nahm, sich dann unter dem Einfluss der Abenteuersagas (Fornaldarsögur) und unter reicher Verwendung internationaler Erzählstoffe mehr und mehr von den Vorbildern löste und bis an die Schwelle unseres Jahrhunderts in Island am Leben blieb. [...]; immer mehr wird die Handlung in eine märchenhafte Phantasiewelt verlegt, in der geographische Namen im Grunde nur noch phantastische Chiffren ohne realen Bezug sind.10

Seine Intention erscheint vor diesem Hintergrund verständlich. Die klare Definition des Begriff von Hellmut Rosenfeld weist dabei den Weg:

Im Bereich der Dichtung kann das Wort »Legende« Geschichten mit parabolischem, wunderbarem oder märchenhaftem Inhalt von realistischeren Kurzgeschichten, Lehrfabeln und Parabeln abgrenzen, die andererseits nicht die Seinsweise wirklicher Märchendichtung erreichen.11

Auf dieser Basis hat Jürg Glauser in seiner Analyse der Gattung Märchensaga herausgefunden, dass diese in einem hohen Grad Erzählschablonen als zentrale Bausteine verwendet. Er versteht darunter narrative Elemente, die weitgehend schematisch geformt, und deren Plots fast ebenso stark schematisch gestaltet sind. Solche inhaltlich und sprachlich in hohem Maße fixierte Motivketten bilden das grundlegendste narrative Mittel des Erzählers einer Märchensaga wie auch der Autor*innen der Genre- beziehungsweise Schemaliteratur. Dabei fand Jürg Glauser einen Satz von Erzählschablonen, die in altisländischen Märchensagas immer wieder anders kombiniert präsent sind: Heldenjugend, Festanlässe, Beratungsszenen, Botenfahrten, Empfänge, Reisen und Schlachten.12 Auf der Grundlage der von Jürg Glauser gefundenen Kriterien für dieses Genre macht es prinzipiell keine Schwierigkeiten, diesen Terminus auch für G.G. Kay Roman zu übernehmen. An den Begriff Märchensaga anknüpfend, ist der Weg zu den Analysen von Vladimir Propp, die er in Morphologie des Märchens vorgelegt hat, nur noch ein kurzer Weg. In seiner Untersuchung von Märchen unterschiedlicher Herkunft und Provenienz arbeitet Propp ein Phänomen heraus, dass er Funktion nennt. Er versteht darunter die Aktion einer handelnden Person, die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird.13

10 Kurt Schier, Sagaliteratur, Tübingen, Stuttgart, 1970:105.
11 Hellmut Rosenfeld, Legende, Stuttgart, 1982:2
12 Jürg Glauser und Gert Kreutzer (Hg.), Isländische Märchensagas, Bd.1: Ritter- und Heldenerzählungen aus Islands Spätmittelalter, München, 1998:103ff.
13 Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, Frankfurt.a.M., 1975:241-276.

Vladimir Propp hat in seiner Untersuchung einunddreißig Funktionen und sieben Handlungskreise ermittelt, wobei, wie ich finde, einige von ihnen zusammengefasst werden können. Für seine Funktionen ermittelte er jeweils bestimmte Aktanten (Rollen / Rollenspieler): Antagonist (Schadenstifter), Schenker (Lieferant), Helfer, gesuchte Figur (z.B. Prinzessin) und ihr Vater, Sender, Held, falscher Held usw. Propps Funktionen bilden dabei, wie Glausers Erzählschablonen, die grundlegende narrative Einheit, ein Molekül, dass aus Atomen zusammengesetzt ist. Die Struktur eines Märchens, so Propp, lässt sich als eine Kombination von Funktionen beschreiben, wobei sich drei Hauptfunktionen hervorheben: der Auszug von zu Hause, die Erfüllung einer Aufgabe sowie die glückliche Heimkehr. Diese Funktionen entsprechen auf einer tieferen Ebene den drei Funktionen der Initiations- und Lebenszyklusrituale, wie sie Arnold van Gennep und Victor Turner für die Ethnologie beschrieben haben.

Heldenreise und soziales Drama

Die von Joseph Campbell auf der Basis der Jung´schen Psychoanalyse beschriebene, mythische Reise des Helden ist seit Menschengedenken der literarische Topos, der aus uralten Erzählmustern gute Geschichten werden lässt.14 Ari Hiltunen enthüllt den Grund für die Popularität dieses narrativen Modells: Durch experimentelle Forschungen und Erkenntnisse aus dem Bereich der Gehirnphysiologie konnte nachgewiesen werden, dass es einen durch das Zusammentreffen von Mitleid, Furcht und Katharsis verursachten Gefühlszustand gibt, der möglicherweise etwas Bedeutungsvolles und allgemein Gültiges über jenes Verlangen enthüllt, das wir von guten Geschichten erwarten.15 Es handelt sich um einen Irrtum zu glauben, dass die fiktionalen Erzählungen der Heldenreise fiktionale Jugendliteratur (young adult fiction) sind, die sich nur an Leser*innen im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren richten. Etwa die Hälfte der Leser*innen dieses Genre der Belletristik sind Erwachsene. Doch Die Fürsten des Nordens sind keine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Trotzdem entspricht der Plot des Romans den drei rituellen Phasen der Übergangsriten (rite de passage), die die Ethnologen Arnold van Gennep16 und Victor Turner beschrieben haben:

  • Trennung: Eine literarische Figur verlässt ihr Zuhause und ihre vertraute Welt, verliert ihren bisherigen Status und bricht ins Unbekannte auf.
  • Schwelle oder Liminalität: Eine literarische Figur gerät in den ambivalenten Zustand der Statuslosigkeit (Turner nennt ihn anschaulich betwixt and between), in dem die alltäglich tragenden Bindungen und Strukturen aufgehoben sind, sie nicht mehr sind, was sie waren und noch nicht, was sie werden müssen.
  • Wiedereingliederung oder Re-Integration: Nachdem die literarischen Figuren alle Herausforderungen bewältigt, alle Konflikte gelöst und sie eine eigenständige, selbstbewusste Persönlichkeit geworden sind, haben sie den Übergang aus der temporären Statuslosigkeit in die Welt der Erwachsenen vollzogen. Sie sind nun in der Lage, erwachsene Rollen und Positonen in ihrer Gruppe oder Gesellschaft zu bekleiden.

Van Gennep und Turner hatten in ihren ethnologischen Forschungen beobachtet, dass eine Person im Verlauf des gesellschaftlichen Lebens verschiedene Übergänge zwischen Lebensstadien oder sozialen Zuständen vollzieht, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Ledig- und Verheiratetsein, zwischen esoterischer und heimisch-vertrauter Welt, zwischen Leben und Tod, jede von ihnen mit dem Prestige einer Einweihung umgeben. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen, so van Genneps Fazit aufgrund ethnografischer Daten, wurden in nicht-industrialisierten Gesellschaften als potenziell gefährlich betrachtet und mussten rituell bewältigt werden. Victor Turner erweitere van Genneps Modell mit seinem vierstufigen Modell des sozialen Dramas und überführte es in die moderne westliche Kultur. Turner gliedert sein Konzept des sozialen Dramas, als ursprüngliche und alle Zeiten überdauernde Form gesellschaftlicher Auseinandersetzung, in vier Phasen, in denen sich dieser Prozess eskalierend entwickelt:17

  • Phase 1: Bruch mit der sozialen Norm (van Genneps Trennungshase);
  • Phase 2a: Krise und Konflikt (erste Stufe von van Genneps liminaler Phase);
  • Phase 2b: Versuch der Konfliktlösung durch ritualisierte Handlungen (zweite Stufe von van Genneps liminaler Phase);
  • Phase 3: Wiedereingliederung oder Spaltung (van Genneps Re-Integration).

Der Bruch sozialer Normen (in Phase 1: z.B. Berns Diebstahl von Gyllir; Aluns und Dais versuchter Viehdiebstahl auf Brynnfell; Aeldreds Niederlage und Exil in den Sümpfen) führt zu einer sich zuspitzenden individuellen, sozialen oder spirituellen Krise (in Phase 2a und b: z.B. Berns Vertreibung von Rabady; der Überfall auf Brynnfell; Aluns Verlust seines Bruders; Berns Aufnahme unter die Jormsvikinger; Aluns Quest zur Rettung der Seele seines Bruders an die Feenkönigin), die eine Bewältigung erfordert. Die Figuren leben in dieser Phase fernab ihres bisherigen Alltags, entkommen auf diese Weise der Sozialstruktur ihrer Gemeinschaft, einem zuletzt für sie undurchschaubar gewordenen Geflecht aus Konflikten und Herausforderungen, die aus einer gestörten Ordnung resultieren. Durch das Heraustreten aus dieser Struktur in eine, wie Turner sagt: Anti-Struktur, geraten sie in eine Konfrontation mit sich selbst, mit alternativen Herausforderungen und Lösungen, insbesondere in eine andere Art des Zusammenseins mit anderen Figuren oder Nebenfiguren - Turner nennt diesen statuslosen Zustand Communitas – bis sie nach ihrer Quest verändert und erlöst in die alten Strukturen zurückkehren, die ihnen beim Aufbruch erdrückend schienen. Durch ihre erfolgreich absolvierte Quest (Suche) erwerben die Figuren jedoch die Fähigkeit diese Strukturen anders zu handhaben.18
In der liminalen zweiten Phase erwerben Individuen oder soziale Gruppen mit Hilfe von rituellen Akten (Beschwörung, Divination, Evozierung urzeitlichen Wissens oder esoterischer Kenntnisse, magische Praktiken etc.), beziehungsweise Helfern (Magier oder Schutzgeister), eine gewisse Reflexivität, die schließlich zur Reintegration in die Gemeinschaft oder zur Anerkennung des unlösbaren Bruchs im sozialen Drama führt (z.B. in Phase 3: Aeldreds Sieg über die Jormsvikinger; die Rettung und Bestattung von Dais Seele; die Lösung der zentralen Konflikte in Brynnfell). Victor Turner formuliert in seiner Theorie das Drama-Modell als performativen Prozess, der Merkmale sozialen Handelns aufweist, das bühnenähnliche dramatische Motive sowie Strategie- und Darstellungsaspekte der Interaktion im Vordergrund rückt. Es fällt deshalb auch leicht, sein aus Strategien des Spiels und des Theaters gewonnenes Modell auf Werke der Schemaliteratur wie die Erzähltexte der Fantasy zu übertragen, da sie oft eine schwere gesellschaftliche Krise thematisieren, die die Protagonisten lösen müssen; einerseits um ihre Persönlichkeit zu entwickeln und zu einer neuen Identität oder zu einem veränderten Status zu finden, andererseits um ihre aus dem Gleichgewicht geratene Welt vor der Zerstörung durch destruktive Mächte zu schützen und zu retten. Ihr Engagement besteht in der Vermittlung, darin, Bewältigungsmechanismen und Lösungen in Gang zu setzen, die geeignet sind, die Streitigkeiten, die das Gemeinwesen bedrohen, beizulegen. Ihre Motivation zielt darauf ab, gestörte soziale Beziehungen zu erneuern, Löcher im sozialen Gewebe zu stopfen, wie Turner es formuliert. Das soziale Drama endet - wenn überhaupt jemals von einem Schlussakt gesprochen werden kann - entweder mit der Versöhnung der streitenden Parteien oder mit der Feststellung unüberwindbarer Gegensätze.
In Turners Modell lässt sich die persönliche Reife literarischer Figur angemessen beschreiben, die Selbstverwirklichung des Individuums, das sich allmählich durch die Bewältigung von Konflikten und Herausforderungen zwischen Hauptfigur und Gesellschaft einstellt. Lösungen und Werte der Figuren Aeldred, Bern oder Alun, die an ihren Fehlern und Enttäuschungen wachsen, werden von ihnen erst nach mühsamem Ringen akzeptiert und schließlich von der Gesellschaft sanktioniert.19 Obwohl Die Fürsten des Nordens kein Bildungsroman ist, prominieren jugendliche, meist männliche Hauptfiguren auf einer Quest, mit den Ausnahmen Thorkell, Brynn und Aeldred, sodass eine Klassifizierung, neben der historischen Fantasy, als fiktionale Jugendliteratur (young adult fiction) nicht ausgeschlossen ist. In der letzten Phase des sozialen Dramas, im dritten Teil des Romans, sind die drei Hauptfiguren Bern, Alun und Aeldred, nicht länger in den Wirrungen der liminalen Phase gefangen, die Konflikte, die zu einem sozialen Bruch führten, sind gelöst und überwunden. Da der literarische Topos der Heldenreise nicht nur in der fiktionalen Jugendliteratur einen prominenten Plot darstellt, bevorzuge ich deshalb den eindeutigeren Terminus Initiationsgeschichten für dieses Genre, der beim Namen nennt, um was es in diesen Erzählungen geht.

14 Die Phasen der Heldenreise, durch die Zeiten vielfach variiert: Ruf, Weigerung, Aufbruch, erste Prüfungen, übernatürliche Helfer, schwere Prüfungen, neue Prüfungen, Initiation, Verweigerung der Rückkehr, Abschied aus der Unterwelt, Heimkehr und Herr in zwei Welten: So kann das Abenteuer beginnen. Ein Versehen, dem Anschein nach der läppischste Zufall, offenbart eine ungeahnte Welt und verstrickt den Menschen in ein Kräftespiel, dem sein Verständnis nicht gewachsen ist (Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M., 1999:55-229; hier: S.56).
15Ari Hiltunen, Aristoteles in Hollywood. Das neue Standardwerk der Dramaturgie, Bergisch Gladbach, 2001:102.
16 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les Rites de passage), Frankfurt a.M., 1986 [1909]
17 Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst im menschlichen Spiel, Frankfurt a.M., 1989:12-13; Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., 1989
18 Victor Turner hat dieses Phänomen in mehreren Publikationen diskutiert, und in Bezug auf westliche Kulturen an der Tradition der Pilgerfahrt untersucht. When such a load can no longer be borne, it is time to take the road as a pilgrim (1978:7). Wie die Figuren in Die Fürsten des Nordens verlässt auch der Pilger seine gewohnten, ihn belastenden Strukturen, und lebt eine Zeitlang als Schwellenwesen in der Liminalität. Dennoch erkennt er an, weiter ein Teil dieser Strukturen zu bleiben, denn er weiß im Aufbruch um seine Rückkehr. Seine Pilgerfahrt ist von Beginn an ein Ausstieg auf Zeit, denn er seeks temporary release, er strebt keinen dauerhaften Bruch an (1978:9 und 15). Seine Reise dient der Selbstvergewisserung with the capacity for free choice, and within the limens of his religious orthodoxy [...] a living model of human brotherhood and sisterhood, eben dem Zustand, den Turner als Communitas bezeichnet (1974:207). (Victor Turner, Dramas, Fields and Metaphors. Symbolic Action in Human Society, Ithaca und London: Cornell University Press, 1974; Turnervictor und Edith Turner, Image and Pilgrimage in Christian Culture, New York: Columbia University Press 1978).
19 Franco Moretti, ein italienischer Literaturhistoriker, weist auf diesen Sachverhalt hin, wenn er den Hauptkonflikt im Bildungsroman als einen Fehltritt der Moderne bezeichnet, weil deren Überbewertung von Jugend und Fortschritt mit der statischen teleologischen Vision von Glück und Versöhnung kollidiert (Moretti zitiert in: Carol Lazzaro-Weis, The Female Bildungsroman. Calling it into Question, NWSA Journal, Vol. 2.1, 1990:16–34.

Betrachtet man nun G.G. Kays Roman Die Fürsten des Nordens unter dieser Perspektive, zeichnen sich Vladimir Propps Funktionen, van Genneps Initiationsphasen der Figuren sowie die einzelnen Stationen des sozialen Dramas deutlich sichtbar ab. In den folgenden Abschnitten werde ich diese Struktur, die dem Plot des Romans inhärent ist, an einigen aussagekräftigen Beispielen erörtern:

  • Exposition / Quest / Trennungsphase (DFDN, T1, K1-5):
    Der zentrale Auslöser des Geschehens, mit dem die Figuren immer wieder konfrontiert werden, besteht in einem Bruch, in einer doppelten Schädigung, einem Tabubruch, der eine Verbotsverletzung aufgrund einer Mangelsituation verursacht: auf Rabady der Raub des Pferds Gyllr des verstorbenen Halldr Dünnbier, das mit diesem verbrannt werden muss, was der Verletzung der sozialen Ordnung entspricht, in Brynnfell der Überfall der Erlinger und in dessen Folge der Raub von Dai ab Owyns Seele, worin eine Verletzung der spirituellen Ordnung besteht. In der ersten Phase des Plots sind die Figuren gezwungen zu handeln, eine Entscheidung zu treffen, ein auslösendes Ereignis zu akzeptieren, und die Herausforderungen, die es mit sich bringt, anzunehmen. Eine plötzlich und unerwartet eintretende Situation nötigt sie, aufzubrechen, was ihre innere Einstellung irreversibel verändert. Die ersten Weggefährten gesellen sich bereits während der Exposition zu den Hauptfiguren, Helferfiguren bieten von Beginn an ihre Unterstützung an, im Fall Bern Thorkellson die Völva Andrid, später sein Vater Thorkell Einarson, im Fall Alun ab Owyn eine namenlose Fee und Brynn ap Hywll, wobei mit diesen beiden erwachsenen Figuren zusätzlich eine konflikthafte Vater-Sohn-Beziehung ins Spiel kommt, ein weiteres Argument für den fiktionalen Jugendroman.

Die Trennungsphase der Exposition, die erste Phase des Plots des Romans, entfaltet sich gleich im ersten Handlungsstrang der Erzählung (T1, K1, A1 - 2) und wird von einer der drei Hauptfiguren, dem homodiegetischen Erzähler Bern Thorkellson repräsentiert, einem Erlinger und Mitglied einer Kultur, die den nordischen Wikingern nachempfunden ist. Der Schauplatz ist Rabady, eine Insel im Norden der erzählten Welt. Den historischen Rahmen bilden ein Markt, auf dem Firaz ibn Bakir, ein Kaufmann aus Fezana, und Andrids Seiðr im Frauenhof (T1, K1, A1 und A3 - 4) die Handlung quasihistorisch einkleiden.20
Die Verletzung der sozialen Ordnung verursacht Bern Thorkellson mit dem Diebstahl des Pferds eines Verstorbenen, dass traditionsgemäß mit dem Leichnam verbrannt werden muss, ergänzt durch fiktionale Elemente: seine unmögliche Flucht über die nächtliche Meerenge sowie seine rituell herbeigeführte Unsichtbarkeit, deren Kontext den Lebensbedingungen der Epoche der Wikinger entspricht. Die Verletzung der sozialen Ordnung resultiert im weiteren Geschehen in dem veränderten Verhalten Bern Thorkellsons, der fliehen muss, und Heimat und Familie verliert, ein zutiefst verstörendes Ereignis für die Figur, das den weiteren Verlauf der Erzählung motiviert.
Der zweite Handlungsstrang (T1, K2) führt die Brüder Dai und Alun ab Owyn ein. Alun, die zweite Hauptfigur des Romans und Angehöriger der Kultur der Cyngael, die den gälischen Kulturen von Wales und Irland nachempfunden ist, begleitet seinen älteren Bruder Dai nach Brynnfell, wo sie die Rinder des Gutshofs stehlen und nach Hause treiben wollen; ein zweiter Diebstahl, und eine weitere Verletzung der sozialen Ordnung, wovor sie Ceinion von Llywerth, eine der wichtigen Nebenfiguren des Romans, rechtzeitig bewahrt (K2, A1).21 Der Schauplatz des Geschehens ist Brynnfell, wo die Brüder, da niemand von ihrem Plan erfährt, gastfreundlich aufgenommen werden. Der Überfall einer marodierenden Bande Erlinger ertränkt das Fest, das für die Brüder veranstaltet wird, in Blut und Tränen (T1, K2, A6). Aluns Bruder wird erschlagen, und seine Seele von einer Fee geraubt (T1, K3, A1 und 5). Der Verletzung der sozialen Ordnung (geplanter Raub und Überfall) resultiert in einer Verletzung der spirituellen Ordnung, dem Seelenraub und Aluns psychischer Krise durch den Verlust des Bruders.
Während des Überfalls auf Brynnfell findet sich eine namenlose Fee, die dritte Hauptfigur der Erzählung, auf einem Hang oberhalb des Gutshofs ein, und beobachtet das Gemetzel der Erlinger. Als Dai fällt, ergreift sie die Initiative (T1, K3, A1), und bemächtigt sich seiner Seele, die sie ihrer Königin zum Geschenk machen will, damit sie in deren Gunst steigt. Mit ihrem Begehren verursacht die Fee eine Schädigung der spirituellen Ordnung, die Übertretung der Grenze zwischen der Welt der Menschen und dem Reich der Feen, eine Verletzung der Alterität, das Eigene und Fremde betreffend: zwei unvereinbare Kulturen - Menschen und Feen - werden unzulässig miteinander vermischt.
Diese Verletzung der natürlichen Ordnungen markiert der Autor durch eine eigene narrative Technik. Im dritten Kapitel (T1, K3, A1) betritt die namenlose Fee im bisher weitgehend pseudohistorisch auftretenden Roman die Bühne der erzählten Welt, und offenbart sich den Leser*innen als vierte wichtige Hauptfigur (point of view). Um die Wahrnehmung und Perspektive der Fee auf die Ereignisse im Gutshof wiederzugeben, wechselt der Autor ins historische Präsens. Die Kapitelabschnitte, in denen die Leser*innen der Fee zum ersten Mal begegnen, erzählt sie allein, als extradiegetische Figur der erzählten Welt. Kommt eine andere Figur mit ins Spiel, wechselt die grammatische Form zurück ins epische Präteritum und die entsprechenden Erzähler*innen fahren in der dritten grammatischen Person fort. Die Feen-Kapitel des Romans zeichnen sich deshalb durch eine doppelte Erzählperspektive aus: die perzeptive Perspektive der Fee in historischem Präsens, die Welt der Menschen, Aluns perzeptive Perspektive im Kontakt mit der Fee, im Präteritum. Die unterschiedlichen grammatischen Tempi symbolisieren die Abgrenzung und Differenz der beiden Welten, als parallele Realitäten, als Raum-Zeit-Differenz, die durch den Übergriff der Fee verletzt wird. Später wird sie sich diesen Vorwurf von ihrer eigenen Königin anhören müssen (T1, K3, A5).
Die Passage, die die Fee in die Erzählung einführt (T1, K3, A1), teilt außer ihrer Wahrnehmung zusätzlich spezifisches Wissen über die Beziehung der Feen zur Welt der Menschen mit, in der Szene oberhalb von Brynnfell als innerer Monolog geschildert. Die Fee ist nicht zufällig vor Ort, was spätere Stellen im Roman nahelegen. Der Überfall, der sich in dieser Nacht ereignet, und besonders einer der Gefallenen, eröffnet ihr unerwartete Möglichkeiten. Die Funktion des historischen Präsens ermöglicht es der Erzählerin (der namenlosen Fee), als Alter Ego des Autors, allgemein Gültiges oder historische, philosophische sowie moralische Überzeugungen oder Bedingungen zu formulieren oder hervorzuheben. Die Erzählerin wendet sich in diesem Abschnitt aus ihrer Reflexion heraus an die Leser*innen. Das historische Präsens ermöglicht ihr spezifische Handlungssequenzen, um eine Passage besonders hervorzuheben, eine Szene zu intensivieren oder ihre zentrale Relevanz zu signalisieren, deshalb dramatisches Präsens genannt, das Vergegenwärtigung des Erzählten, der Rezeptionslenkung und Spannungserzeugung dient. Diese grammatische Form, die keine spezifische Situationen bezeichnet, sondern im Jetzt abläuft, und zeitlose und verallgemeinernde Aussagen macht, wird deshalb auch gnomisches oder generisches Präsens genannt.
Das dritte Kapitel endet mit einer weiteren fiktionalen Sequenz, die erneut den Rahmen eines historischen Romans sprengen würde: Alun und einige Männer von Brynnfell werden im Geisterwald Zeuge einer Feenprozession, in der Alun seinen Bruder (dessen Seele) an der Seite der Feenkönigin vorüberziehen sieht, ohne ihn erreichen zu können (A7, 8). Im fünften Kapitel begegnen sich Alun und die namenlose Fee ein weiteres Mal auf dem Hang oberhalb von Brynnfell (T1, K3, A3), die im dritten Teil des Romans eine entscheidende Rolle bei der Erlösung der Seele seines Bruders spielen wird (T3, K12, A und 4).

20 Vgl. dazu erneut die Islendinga sögur sowie Ibn Fadlān als historisches Vorbild des Kaufmanns Firaz ibn Bakir.
21 Das Vorbild ist das Heldenepos Der Rinderraub von Cooley (Táin Bó Cúailnge) eine mittelalterliche irische Überlieferung, die in mehreren Versionen von einem Krieg zwischen den Ländern Connacht und Ulster erzählt. Im Zentrum dieses Krieges stehen die Krieger-Königin Medb von Connacht, ein Stier als Verkörperung der Königsmacht sowie der junge Held Chú Chulainn.

  • Katharsis / Konflikte und Lösungen / Schwellenphase (DFDN, T2, K6-11):22
    Im zweiten Teil der Fürsten des Nordens sind die Würfel gefallen, die Protagonisten auf den Weg zu ihrer Bewährung gebracht und die letztendliche Katharsis eingeleitet, der Höhepunkt jeder fiktionalen Erzählung, die Tolkien als Eukatastrophe bezeichnet.23 Im Verlauf des zweiten Teils, dem Höhepunkt der Erzählung, der liminalen Schwellenphase, wenn nichts mehr sicher ist, hat sich die alte Ordnung aufgelöst und eine neue Ordnung muss erst noch erworben werden. Dann befinden sich die Figuren auf der Quest nach Propps »gesuchter Figur« (beziehungsweise »gesuchtem Gegenstand«); in diesem Fall der Vertreibung der Erlinger, der Rettung von Dai ab Owyns Seele und der Schließung der Grenze zwischen den parallelen Welten der Menschen und Feen. Auf ihrer Suche nach Lösungen treten die Figuren Herausforderungen und Prüfungen gegenüber, besiegen Gegner und widrige Situationen, damit die anfängliche Schädigung, Verbotsverletzung oder Mangelsituation behoben werden kann, die natürliche Ordnung wieder hergestellt wird, und ihre Welt anschließend wieder heil ist.

22 Katharsis ist ein vielseitig verwendeter Begriff, dessen zentrale Bedeutung sich auf eine psychische Reinigung bezieht. Die Verwendung von Katharsis in der Literatur geht auf die aristotelische Poetik zurück (K6, 1449b26) und bezeichnet das Erleben heftiger, teils numinoser Affekte (wie Mitleid, Jammer, Furcht, Schrecken und Schauder) mit dem Ziel der Reinigung, dem Durcharbeiten dieser Affekte, wie die Psychoanalyse diesen Prozess nennt. In der Psychologie bezieht sich der gleiche Begriff auf das Ausleben innerer Konflikte, verursacht durch verdrängte Impulse und Emotionen, deren Bewusstwerdung zu einer Reinigung / Heilung der gestörten psychischen Funktionen führen soll. Es ist dieser Prozess, der im Fokus der (literarischen) Heldenreise steht, auf der sich ihres Selbst bewusste gewordene Figuren nun ihren Beitrag zu einer Heilung der gestörten natürlichen Ordnung beitragen können.
23 Seinen Roman Die Fürsten des Nordens hat G.G.Kay 2004 geschrieben, in einer Zeit, in der der finale Akt einer Fantasy-Erzählung meistens noch mit einem Sieg des Guten über das Böse endete, sodass die natürliche Ordnung der Gesellschaft und der Welt wieder hergestellt war (vgl. Robert Jordans Zyklus The Wheel of Time, zusammen mit Tolkiens Der Herr der Ringe, das klassische Beispiel). Dies hat sich inzwischen geändert, und dystopische Romane (Tolkiens Dyskatastrophe) scheinen zuzunehmen (vgl. beispielsweise Margaret Atwoods MaddAddam Trilogy). Was Tolkien unter der Eukatastrophe einer Erzählung versteht, hat er in Über Märchen theoretisch ausgeführt und im dritten Band von The Lord of the Rings am Beispiel seiner Hauptfigur, Frodo Beutlin, exemplifiziert, der den Ring der Macht zwar zerstört, dabei aber an Leib und Seele zerbricht: Die eukatastrophische Erzählung ist die echte Form des Märchens und sein höchster Zweck. Der Trost des Märchens, die Freude über den glücklichen Ausgang [happy ending] oder richtiger, die gute Katastrophe, die plötzliche Wendung zum Guten, [...]: Mit ihrer Wiederholung ist niemals zu rechnen. Sie verleugnet nicht das Dasein der Dyskatastrophe, des Leidens und Mißlingens, [...] sie verleugnet die endgültige, allumfassende Niederlage, und insofern ist sie Evangelium, gute Botschaft, und gewährt einen kurzen Schimmer der Freude, der Freude hinter den Mauern der Welt, durchdringend wie das Leid (J.R.R. Tolkien, Über Märchen, in ders.: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart, 1987:197-198).

Die zweite Phase des Plots steigert die Spannung der Erzählung und macht sie zunehmend dramatischer. Die Details, die Begegnungen, die Konflikte, Prüfungen und Herausforderungen, die allmähliche Entwicklung der Figuren, treiben die Erzählung auf ihren Höhepunkt zu, wobei es lange Zeit offenbleibt, ob sie erfolgreich sind oder scheitern. Die Figuren müssen sich selbst und ihrer Bezugsgruppe zuerst beweisen, ob sie fähig sind, die bevorstehenden Aufgaben zu meistern.
Die zweite Funktion einer Märchensaga, die Bewährung oder Meisterung von schwierigen Prüfungen, insgesamt Stationen der liminalen Schwellenphase, in der die Figuren temporär zu Schwellenwesen werden, schildern mit ansteigender Dramatik drei Episoden des zweiten Teils in Die Fürsten des Nordens, charakteristische Textpassagen für das Spiel des Autors mit Erzählperspektive, grammatischer Person und Tempus der erzählten Ereignisse.
Das erste Beispiel eröffnet den zweiten Teil des Romans (T2, K6, A2 - 9). Die Leser*innen begegnen erstmals Aeldrid, dem König der Anglcyn, den in Fieberträumen Erinnerungen an kaum vergangene Ereignisse heimsuchen. Aeldred liegt krank darnieder, erzählt ein (namenloser) auktorialer Erzähler, in der dritten Person Präteritum, und es macht den Eindruck, dieser blickt von außen in das Zimmer, und berichtet distanziert, was er beobachtet (K6, A1). In den folgenden Abschnitten des Kapitels ergreift Aeldred selbst das Wort. Im Stil einer Chronik erinnert er sich an die Ereignisse der Schlacht, die er gegen die Erlinger verlor. Für dieses »Selbstgespräch« im Fieber, eine Gemeng aus Gedankenbericht und direkter Figurenrede, wechselt Aeldred die grammatische Person, wie im ersten Teil die Fee (T1, K3, A1), und fährt im historischen Präsens fort, was den Leser*innen den Eindruck vermittelt, die Schlacht ist, während sie atemlos lesen, noch immer im Gange. Erst als Aeldred zu Bewusstsein kommt (T2, K6, A9) wechselt er zurück ins Präterium.24

24 Wen erinnert der Inhalt des sechsten Kapitels nicht an Ælfred den Großen, von dem Bernward Cornwell in der Uhtred-Saga (und im Film The Last Kingdom) erzählt, wie er sich in den Sümpfen von Beortferth von seiner Niederlage erholt. Auch Aeldred, gzeichnet von der verlorenen Schlacht und der Flucht seiner letzten Getreuen, muss seinen Fyrth zuerst neu organisieren, bevor er die Erlinger aus seinem Reich vertreiben kann.

Die beiden adeligen Anglcyn, die Protagonisten des ersten Abschnitts, Osbert und Aeldred, agieren in diesem Kapitel nicht wirklich als Figuren der erzählten Welt, sondern über sie und das Geschehen, mit dem sie konfrontiert sind, berichtet eine externe Erzählinstanz wie aus einer Chronik im historischen Präsens. Während Aeldred im Fiebertraum in die Vergangenheit zurückdriftet, kommentiert ein heterodiegetischer, nullfokaler Erzähler, über mehrere Abschnitte (T2, K1, A2 - 9) den Inhalt seiner Träume im historischen Präsens und fasst Aeldreds Erinnerungen als Chronik zusammen, die detailgetreu Alfred des Großen (auch Ælfred) Niederlage gegen eine Wikingerinvasion in Wessex in den Kämpfen bei Reading, Englefield und Ashdow (866) ähnelt. Kurz vor Ende des Kapitels (T2, K1, A 10 - 13) verlässt der heterodiegetische Erzähler die Bühne des Geschehens und Aeldred kehrt als Erzähler in die fiktionale Realität der Figuren zurück. Die letzten Abschnitte des sechsten Kapitels werden im Präteritum erzählt, der Chronikbericht ist beendet, die Protagonisten, Elswith und Aeldred, sind wieder Figuren in der erzählten Welt.

Die wichtigste Station der liminalen Phase in Berns Lebenslauf stellt die Versöhnung mit seinem Vater Thorkell Einarson dar, genau zu der Zeit, als Aeldred den Mörder seines Vasalls Burgred, (den historischen) Ivarr Ragnarson verfolgen lässt. Diese Versöhnung ist für Berns psychische Entwicklung essenziell, da er die Schulden, die Thorkell in Rabady gemacht hat, als Sklave abarbeiten musste. Doch wie sein Vater, der durch seine Flucht der Verantwortung für seinen Sohn nicht nachkam und floh, so entzog sich auch Bern der Sklaverei, floh von Rabady und verlor Familie und Heimat. Er [Bern] fand keinen einzigen Moment Zeit, um seinem unterdrückten Zorn, seiner Verbitterung darüber Luft zu machen, wie sehr sein und nicht nur sein Leben verpfuscht worden war. Diese schwere Schuld, die Thorkell auf sich geladen hat, und die dem selbstständigen Leben seines Sohnes im Weg steht, kann nur durch Versöhnung getilgt werden. Gibt es für Bern keine Gelegenheit, sich mit seinem Vater zu versöhnen, kann er seine soziale Position als erwachsener Mann unter den Jormsvikingern nicht finden, und die Entwicklung seiner männlichen Identität bleibt behindert. Auf der Flucht vor Aeldreds Männern versteckt sich Bern im Fluss, und trifft dort unerwartet auf seinen Vater, der seit dem Überfall auf Brynnfell Aluns Mann ist: Bern zückte den Dolch und wartet auf den Tod: wieder im Wasser, nun schon zum dritten Mal. [...] Drei war eine Pforte. Er hatte damit gerechnet, im Meer vor Rabady zu sterben. Und ein zweites Mal in der morgendlichen Brandung vor Jormsvik. Jetzt bemühte er sich erneut, sich in sein Schicksal zu fügen. Dass Wasser ein Symbol für den Übergang in einen anderen Status ist, einen Neuanfang, zelebriert nicht nur die katholische Kirche im Ritus der Taufe, sondern ist ein universelles Symbol. In dieser psychischen Verfassung begegnet ihm sein Vater. Zwar ist die Begegnung gewalttätig, wie es sich für zwei Wikinger gehört, liebevoll aggressiv, doch sie ist auch von Thorkells Rat für seinen Sohn und von der verhaltenen, unausgesprochenen Sorge des Vaters um den Sohn geprägt. Sie trennen sich in Frieden, und Bern fragt sich erstaunt: Fällt es Thorkell nicht reichlich spät ein, sich um seine Familie zu kümmern? (T2, K9, A2).

Während die Biografie der Protagonisten Aeldred und Bern Thorkellson, sowie das Umfeld, in dem sie auftreten, in gewisser Weise eine historische Aura umgibt, ist die dritte Hauptfigur, Alun ab Owyn, eine rein fiktionale Figur ohne historisches Vorbild. Und wie es sich für ein »Märchen« beziehungsweise eine Märchensaga gehört, widmet der Autor dieser Figur, die wichtigste Position in Die Fürsten des Nordens, da dessen Rolle in Kays Erzählung, die Problematik der Alterität am besten repräsentiert.25

25 Das Konzept der Alterität befasst sich mit Fragen der Identität, Differenz und Fremdheit von Kulturen und deren Mitgliedern, insgesamt Kategorien, die eine Verunsicherung, Befremdung oder Bedrohung auslösen, während das Konzept der Alienität sich auf das völlig Andere, Ferne, bezieht, mit dem keine interkulturelle Verständigung möglich ist. Die Kulturen jenseits der Mauer bilden ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen Alterität und Alienität: Die Weißen Wanderer in G.R.R. Martins Epos Das Lied von Eis und Feuer stellen eine alienitäre Spezies dar, während die Wildlinge zwar kulturextern, fremd, dennoch kulturell ähnlich sind. Während Fremdheit eine Beziehung auf Gegenseitigkeit ist, bedeutet Alienität das Fehlen jeglichen Verständnisses. Aus ethnologischer Perspektive ist auf irgendeine Weise entweder alles in irgendeiner Hinsicht fremd oder anders und von der kulturspezifischen Bewertung abhängig. Für Alun repräsentiert das Reich der Feen das Fremde von Aluns eigener Welt (wie auch umgekehrt), und ist insofern keine andere, sondern eine fremde (parallele) Realität. Sie ist die Projektion eigener Wünsche und Ängste im Gewand alternativer Wesen, der Feen, die umgekehrt Aluns Welt als fremde Realität auffassen, in die sie ihre eigenen Projektionen unterbringen: vgl. unten »Ihr fürchtet uns mehr, als wir euch fürchten.« Oder: »Wir haben doch nur diese Welt.« Oder: »Sie waren so unglaublich verschieden, dass Verständnis nicht einmal ansatzweise möglich war.« (T3, K13, A3).

Aluns ab Owyns erste Begegnung mit der namenlosen Fee, ereignet sich nicht nur auf dem Hang oberhalb von Brynnfell, sondern gleichzeitig auf einer Grenze, der Welt der Menschen und der der Feen. In der Erinnerung der Menschen wird das Verbot, das alles in diesem Land regiert, die Grenze zu berühren, geschweige denn, sie zu überschreiten, mit einer Redewendung (Triade26) verbunden: Drei Dinge, die nicht ratsam sind: Sich bei Nacht einem Waldteich zu nähern. Eine heißblütige Frau zu verärgern. Ungewässerten Wein zu trinnken, wenn man allein ist. Für Alun, der durch den Seelenraub der Fee (T1, K3, A1) als Schwellenwesen in einen liminalen Status eingetreten ist, gelten die Regeln seiner alltäglichen Lebenswelt nicht mehr. Ihm ist das Leben bereits unter den Händen zerbrochen [...] wenn die Seele bloß liegt wie eine offene Wunde, dann mag man bereit sein für die Erkenntnis, die die Welt noch nie so recht verstanden hat (T1, K3, A7). In diesem Zustand, unter diesem Bann, ist er bereit, einen Blick in die alternative Realität der Feen zu werfen, ein dramatischer Höhepunkt der Erzählung. Er steht neben seinem scheuenden Pferd in einem Teich und sieht, wie die Prozession der Feen vorüberzieht, seinen Bruder an der Seite der Königin. Später trifft er die Fee zum zweiten Mal auf dem Hang von Brynnfell, die Aluns Veränderung sofort begreift. Die Erzählung wechselt erneut ins historische (dramatische) Präsens: Sie sieht, wie er das Eisen fallen lässt [dessen Anwesenheit die Fee schmerzt], und weiß, was das bedeutet [Aluns Status als Schwellenwesen]. Er stand im Teich, als sie vorüberzogen. Jetzt sieht er sie (T1, K4, A4). Aber er ist nicht nur das. Durch den Tod seines Bruders wurde er zum einzigen Erben von Owyn ap Glynn, Fürst von Cadyr, sein Status, wenn die Reintegration gelingt, und Alun die Prüfungen der Liminalität überlebt. Zurück auf Brynnfell beauftragt ihn Brynn mit der Beseitigung der Schädigung, die wie erörtert in der Störung der spirituellen Ordnung besteht. Er schenkt ihm als Helfer bei seiner Aufgabe seinen Hund Cafall27, möge er . . . helfen, Euch bei uns zu halten, neben der Fee, Vladimir Propps Funktion des Zaubermittels oder übernatürlichem Helfer. Daraufhin verlässt Alun Brynnfell und macht sich allein auf die Suche nach dem Aufenthaltsort des gesuchten Gegenstandes, der in diesem Fall Dais geraubte Seele bedeutet - zwei weitere charakteristische Funktionen der proppschen Märchenanalyse.28

26 Die Walisischen Triaden (Trioedd Ynys Prydein) werden in mehreren Manuskripten aus dem 13. bis ins 17. Jahrhundert überliefert. Es handelt sich bei ihnen um eine Sammlung von Merksprüchen, die auf historische und mythische Traditionen zurückgehen.
27 Cafall ist ein seltener, walisischer Jungenname, der in der walisischen Mythologie wurzelt. Der Name leitet sich von Kaval, Pferd, ab, dort das loyale Pferd von König Artus. Der Legende nach war Kafal ein magisches Pferd, das schneller laufen konnte als jedes andere Pferd und die Fähigkeit zu sprechen hatte.
28 Was Vladimir Propp Funktion nennt, nämlich die Aktion einer handelnden Person, die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird (1975:27), ändert Jürg Glauser in den präziseren Begiff Erzählschablone als zentralem Baustein einer Märchensaga, die aber nichts anderes ist als Propps Funktion.

Das neunte Kapitel des zweiten Teils Der Fürsten des Nordens ist ein zentrales Kapitel bezüglich der Prüfungen von Alun ab Owyn und Bern Thorkellsohn in ihrer liminalen Existenz. Alun begegnet der namenlosen Fee zum dritten Mal (T2, K9, A1). Seit er sie zum ersten Mal traf, bleibt sie in seiner Nähe: Zweimal hatte Alun das seltsame Licht gesehen [...] Er hatte gewusst, dass sie es war (T2, K8, A5). Und dann wurde ihm bewusst, was er tun musste, um die geraubte Seele seines Bruders zu retten. Er betrachtete die Bäume des Geisterwalds, über denen ein blauer Mond hing, der Geistermond: Er musste die Schwelle überschreiten. Das wusste er seit jener Nacht, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte (T2, K8, A5), und betritt den Geisterwald (T2, K8, A6), und die Erzählerin wechselt ins historische Präsens (T2, K8, A7). Der Geisterwald, dort wo Alun ihn betritt, grenzt an Elsferth, wo Aeldred und die Seinen im Palast den Sieg über Ivarr Ragnarsons Erlinger feiern, was so wirkt, als befinde sich das Portal, durch das dieser Wald betreten werden kann, überall dort, wo die Zivilisation endet und die Wildnis beginnt. Alun befindet sich nicht mehr auf der Schwelle zwischen natürlicher und übernatürlicher Welt, auf dem Hang oberhalb von Brynnfell (wie in T1, K4, A5), er ist in die übernatürliche Sphäre der Feen eingetreten, in den mysteriösen Geisterwald, den Menschen seit Generationen meiden, unterwegs nach Brynnfell, um die Bewohner vor dem bevorstehenden Überfall der Erlinger zu warnen. Wird meine Welt noch vorhanden sein, wenn ich dich verlasse, fragt Alun die Fee, und sie antwortet: Ich weiß nicht, was du meinst. Wir haben doch nur diese Welt. Und sie meint damit den Geisterwald, von dem man bei uns erzählt, erwidert ihr Alun, dass Menschen, die mit den Feen gingen, erst hundert Jahre später wieder nach Hause kamen. Geisterwald wurde dieser Wald genannt. [...] Ob das damit gemeint war? In direkter Figurenrede ringen zwei unvereinbare Kulturen, Menschen und Feen, um die Wirklichkeit ihrer Realität (T2, K9, A1), um das Eigene im Fremden und das Fremde in sich selbst zu finden und zu verstehen. Deutlicher lässt sich nicht ausdrücken, was mit Alterität gemeint ist:

»Ihr fürchtet uns mehr, als wir euch fürchten.« [...]
»Vermutlich fürchten wir das, was ihr für uns bedeuten könntet.«
»Was kann ich schon . . . bedeuten? Ich bin einfach hier.«

Lauscht man der Unterhaltung zwischen Alun und der Fee, wird man geradezu auf die Problematik der Alterität gestoßen, die G.G. Kay in diesem Kapitel besonders ostentativ führt. Auf der einen Seite die Zivilisation der Menschen, ihr gegenüber, gefürchtet und ausgegrenzt, die der Feen, der nicht-zivilisierten Wildnis, die zu missionieren sich Aeldred und der Cyngaelpriester Cennion geschworen haben. Es ist das Thema der Liminalität, dem sich Alun und Bern stellen müssen, die Integration des Nicht-Ich in das eigene Selbst, um ganz (und erwachsen) zu werden.
Der gleichen Herausforderung muss sich Aeldreds jüngere Tochter Kendra stellen. Diese wichtige Nebenfigur, die Aluns Prozess aus weiblicher Sicht spiegelt, liebt den Prinzen, weshalb sie durch ihre Gefühle für ihn seine innere Zerrissenheit spürt. Kendra geht hinter Alun her, als dieser das Fest verlässt, ist ihm aber am Rand des Geisterwalds nicht länger gefolgt. Später trifft sie ihn im Zeltlager wieder, als er aus dem Geisterwald zurückkehrt, und er sie fragt: Was tut ihr hier? Doch sie kann ihm nicht sagen, was sie empfunden hat, als sie am Rand des Waldes auf ihn gewartet hat. Wie kann sie von den Veränderungen sprechen, die in ihr vorgehen, von der kaum hörbaren Aura sprechen, einer Musik, die nicht zu hören war, einem Gefühl, das sie noch nie erlebt hatte, das aber so stark war wie der Glaube oder das Begehren? Sollte sie ihm erklären, dass sie sich gezeichnet fühlte, ausgesondert, und das schon seit dem Zeitpunkt, als er heute Morgen vor ihr auf der Wiese gestanden hatte? (T2, K9, A3). In der folgenden Nacht betritt Kendra trotz ihrer Angst vor den unheimlichen Phänomenen den Geisterwald, um ihre eigenen Erfahrungen mit dem, was sie dort vermutet, zu machen, in der Hoffnung, die Ihren zu warnen, denn sie befürchtet das Schlimmste für sie, wenn sie den Geisterwald durchqueren: Er [Alun] war irgendwo in diesen Wäldern, sie spürte es deutlich, und sie schlüpfte an der gleichen Stelle wie er hinein in die Dunkelheit unter die dicht belaubten Äste, in der Hoffnung, zu treffen, wenn auch immer Alun getroffen hatte. Doch sie trifft nicht die Fee, sondern eine grün leuchtende Gestalt, einen Spruach, der nichts mit alledem zu tun hat und ihr nicht helfen kann. Doch eins begreift Kendra durch diese unheimliche Begegnung, noch einmal auktorial erzählt: Ihre Angst war verfolgen, stattdessen empfand sie ein tiefes, andächtiges Staunen. Die Welt würde nie wieder so sein wie früher. [...] Als Aeldreds jüngere Tochter allein im Dunkeln einen schwarzen Wald betrat, in dem es angeblich spukte, bewies sie einen schier übermenschlichen Mut (T2, K13, A4). Frodo Beutlin, der unscheinbarste der Helden Mittelerdes, handelt aus der gleichen Haltung heraus. Er erfüllt seine Aufgabe hingebungsvoll, meist klaglos leidend, und immer zweifelnd, ohne Hoffnung, aber trotzdem nie aufgebend, trotz Verzweiflung und Demoralisierung. Er geht von vorneherein davon aus, dass seine Quest katastrophal endet. Samweis Gamdschie bringt diese paradoxe Situation mit den Adjektiven, gleichzeitig fröhlich und verzweifelt zu sein, auf den Punkt: Und schließlich hatte er die Sache von Anfang an nicht wirklich hoffnungsvoll betrachtet; doch da er ein fröhlicher Hobbit war, brauchte er keine Hoffnung, solange die Verzweiflung hinausgeschoben werden konnte. (Der Herr der Ringe, Bd.2:281 [Carroux]). Hoffnung und Verzweiflung haben mit Tolkiens Theorie des Mutes nichts zu tun, denn wer Hoffnung braucht, läuft Gefahr, dass wenn diese schwindet, die Katastrophe über ihn hereinbricht. Wer aber wie Sam davon ausgeht, dass doch alles bitter endet, bleibt angesichts der Hoffnungslosigkeit unerschütterlich und unerschrocken, beweist einen Mut, der ohne jedes Vertrauen auf das Glück standhalten kann. Und auch Kendras Hoffnung, im Geisterwald jemanden zu treffen, der Alun und ihrem Bruder ihre beunruhigende Vorahnung mitteilen, sie warnen kann, bleibt letztlich vergeblich. In einem weiteren auktorialen Einschub belehrt der Autor seine Leser*innen über Kendras vergebliche Hoffnung: Denn manchmal haben Taten, für die wir unsere ganze Willenskraft zusammennehmen und eine Tapferkeit aufbringen müssen, die kaum zu fassen oder zu beschreiben ist . . . keinerlei Folgen. Für Kendras psychische und soziale Entwicklung ist ihr mutiges Handeln im Geisterwald dennoch wichtig, denn es führt sie aus der Liminalität hinaus in ein selbständiges, verantwortungsvolles Erwachsenenleben. Wie Alun erlebt sie ihren eigenen inneren Prozess, der sie mit ihrem alten Status konfrontiert, ohne dass sie schon weiß, wie sich ihr Leben entwickeln wird. Und sie versteht nun auch, was Alun meinte, als er Es ist ein weiter Weg zu ihr sagte, obwohl sie es gar nicht verstehen wollte.

Zusammen mit dem Erlinger Thorkell und Aeldreds ältesten Sohn und Thronfolger Athelbert (das historische Vorbild ist Ælfred dritter Sohn Æthelweard) durchquert Alun den Geisterwald nach Brynnfell, wo sich das Schicksal der drei Männer erfüllt. Diese Ereignisse führen in den dritten Teil der Fürsten des Nordens, in dem das Geschehen auf die Lösung der Konflikte und die Reintergration der Figuren zusteuert:

  • Enthüllung / Erreichen des Ziels / Wiedereingliederung (DFDN, T3, K12-17):
    In der dritten Phase des Plots haben die Figuren das Ziel ihrer Suche erreicht oder sind gescheitert. Die letzten Komplikationen treten auf, ein letztes Aufbäumen der Gegenspieler gilt es zu bewältigen, bevor diese aufgeben. In einer finalen Konfrontation mit sich selbst (oder dem Antagonisten) erkennen die Figuren den Sinn ihrer Prüfungen und finden den Weg zurück nach Hause.
    In drei Ereignissen, mit denen die drei Hauptfiguren konfrontiert werden, kulminiert das Geschehen des Romans: in Aluns, Thorkells und Athelberts Durchquerung des Geisterwalds und der Rettung von Dais Seele (T3: K12, A2 / K13 A1 - 3 / K14, A4 / K16, A6 und A9), in der finalen Konfrontration mit den Erlingern in Brynnfell (T3, K15, A3 - 5) sowie Berns Raubzug in Ferrieres und seiner Heimkehr nach Jormsvik (T3: K14, A3 - 4 / K15, A3 - 9, 11 / K16, A2, 4 - 5 / K17, A1, 5).


Der Autor leitet diese Ereignisse mit einer weiteren Triade ein, die er Alun in den Mund legt: Drei Dinge erfreuen das Herz eines Mannes. Unter zwei Monden auf einer Frau zu reiten [metaphorisch; seine emotionale Beziehung zu Kendra]. An der Seite seiner Kameraden in den Kampf zu reiten [Durchquerung des Geisterwalds und Konfrontation in Brynnfell]. Nach langer Abwesenheit nach Hause zu reiten [Ende der liminalen Phase]. Auf ihn traf das Dritte zu, und vielleicht auch das Zweite. An das Erste hatte er seit dem Tod seines Bruders nicht mehr gedacht. Und in seinem Herzen war keine Freude (T3, K12, A2). Die psychische oder spirituelle Krise, in der sich die Figuren seit dem Zusammenbruch ihrer vertrauten Welt befinden, erreicht in den letzten Kapiteln des Romans (T3, K12 - 16) ihren Höhepunkt und Abschluss. Erst im letzten Kapitel (T3, K17) fällt die Spannung und die Ereignisse münden in ein ruhiges Fahrwasser. Die gestörte soziale und spirituelle Ordnung ist wiederhergestellt, die Figuren versöhnen sich mit den Umständen und finden ihren inneren Frieden.

Die Episode der Durchquerung des Geisterwalds ist reinste Fantasy. Nichts Historisches haftet ihr an, und selbst quasi- oder pseudohistorische Elemente fehlen. Der Geisterwald gehört in das Reich der Magie, in dem andere Regeln gelten als in der pseudohistorischen Realität der Figuren. Einem historischen Roman fehlt das Element Magie, das für Fantasy-Erzählungen obligatorisch ist, und auch in der historischen Fantasy seinen Platz hat. G.G. Kays Roman besetzt eine mediale, verbindende Position literarischer Kategorien und bildet damit ein hybrides Werk. Der Geisterwald ist ein durch und durch magischer Ort, ein Reich, in dem Magie das bestimmende Merkmal darstellt. Erst einmal im Geisterwald angekommen, können sich die drei Protagonisten der magischen Atmosphäre, die dort herrscht, nicht mehr entziehen. Die Erzählperspektive, die jeder von ihnen nun einnimmt, löst sich von der Realität und wird metaphysisch. Zwar bleiben sie Figuren der erzählten Welt, die homodiegetisch-figural erzählen, doch ihre Aufmerksamt richtet sich weniger wie bisher ihrer realen Umgebung, sondern dem, was sie hinter dem Schleier vermuten, der sich um ihre Realität gelegt hat. Mit Beginn des zwölften Kapitels betreten Alun, Athelbert und Thorkell mit mulmigen Gefühlen den Wald. Thorkell und Athelbert, die bisher nur marginale Nebenfiguren waren, und nur gelegentlich oder in den Kommentaren anderer auftraten, werden unerwartet zu zentralen Figuren des Geschehens, denn sie Aluns proppsche Helfer auf seiner unmöglichen Quest. Die numinose Atmosphäre des Geisterwalds zwingt sie geradezu, sich auf sich selbst als letzte Verankerung in ihrer Realität zurückzuziehen. In dieser labilen, psychischen Verfassung, in denen sie nur ihre eigene Sicherheit besitzen, werden sie mit sich selbst konfrontiert. Diese Situation enthält den letzten Schritt in der Liminalität, in der es sich erweist, ob die Figuren ihre Aufgabe meistern oder ob sie versagen und scheitern. Die drei Figuren treten in die entscheidende Phase ein, die über ihre Wiedereingliederung entscheidet.

Ohne zu ahnen, geraten die Figuren in die abschließende Phase ihrer Katharsis und der Geisterwald wird zum Schauplatz ihrer übriggebliebenen Aufgaben, die abgeschlossen sein müssen, bevor sie aus dem Wald herausfinden:
Thorkell Einarsons Motiv, den Geisterwald zu durchqueren, ist der Eid, den er Brynn ap Hywlls Frau Enid geschworen hat, und die Loyalität, die er ihr schuldet: »Und ich muss euch noch einmal sagen, dass ich Enid diene, der Gemahlin Brynn ap Hywlls, gab der Erlinger seelenruhig zurück.« [...] »Ich habe ihr Treue geschworen.« (T3, K12, A2). Seine Lebensbeichte, ein biografischer Gedankenbericht, die er sich selbst unterwegs ablegt (K13, A1), erscheint rückwirkend wie ein Prolog auf seinen rituellen Tod im Duell vor Brynnfell (T3, K15, A6), das seinem Sohn Bern eine neue soziale Rolle und Identität ermöglicht (T3, K12, A2), während sich dieser noch auf dem Weg nach Brynnfell befindet, um das legendäre Schwert des Volgan, eines Berserkr-Helden der Erlinger, das einst Brynn erbeutete, zurück nach Jormsvik zu holen.
Athelbert, der vor ihrer Reise durch den Geisterwald ein leichtsinniger und unerfahrener Prinz war, erfährt dort die Prüfungen, die seinen Status als Nachfolger Aeldreds bestätigen. Sein Motiv im Geisterwald mit dabei zu sein, resultiert, wie auch Berns Wunsch, nach dem Respekt und der Anerkennung seines Vaters: »Mein Vater hält mich für verantwortungslos. Ich habe ihm für diese Einschätzung gewisse Gründe geliefert.« sowie »Dieser Mann - Ragnarson? - hat einen lebenslangen Freund meines Vaters getötet, einen unserer Anführer, einen Mann, den ich seit meiner Kindheit kannte.« Wenn auch sein Motiv zwischen Rache und Gerechtigkeit schwankt, so ist sein Handeln auf die Anerkennung seines Vaters gerichtet, ein bedeutendes Motiv männlicher Adoleszenz: »Wollt ihr auch etwas von diesem Ruhm?«, fragte Einarson. »Ist es das?« (T3, K12, A2)
Für Alun ist der Ritt durch den Geisterwald die Vorbereitung für die Rettung der Seele seines Bruders, in der Region des Geisterwalds, die an Brynnfell grenzt, wo er vor Monaten in dem mysteriösen Teich gestanden hat, am Ende des dritten Teils des Romans (s.u. / T3, K12, A2) / K13, A4).

In der Wildnis und der Dunkelheit des uralten schwarzen Walds fühlen sich die drei Protagonisten von etwas verfolgt, dass sie nicht ausmachen können, und in ihrer Fantasie bedrohlich bewerten. Wir können schwören, nur noch an den Sonnengott zu glauben, und seine Scheibe zu tragen, aber was ist, wenn es dunkel wird? Wenn die Sonne untergegangen ist und Jad unter der Welt seine Kämpfe führt? »Ich weiß es nicht», sagte Alun. Er spürte immer noch diesen Windhauch, und diese seltsam tönenden Schwingungen des Waldes. Aber es ist nicht ihre Fantasie, die sich an den Rest Rationalität klammert, der ihnen geblieben ist, es sind die übernatürlichen Bewohner des Geisterwalds, die ihnen folgen. In einer weiteren auktorialen Passage, die keiner Figur der erzählten Welt zuzuordnen ist, wendet sich der Autor erneut an seine Leser*innen: In jedem von uns vermischen sich Ängste und Erinnerungen zu vielschichtigen, ständig wechselnden Mustern. Manchmal bleibt uns gerade das Unsichtbare noch lange im Gedächtnis und versetzt uns in Schrecken. Vielleicht gerade dann, wenn das Bewusstsein verschwimmt und wir in den Traum hinübergleiten oder wieder daraus auftauchen. Insgesamt Merkmale eine liminalen Situation, die den Figuren eine psychische Stabilität abverlangt, die sie erst dabei sind auf ihrer Quest zu erwerben. Und der Autor setzt den Schrecken, den sich seine Figuren gerade in ihrer Fantasie ausgemalt haben, als grässliches, stinkendes Monster, ein Zombie, der plötzlich aus dem Wald auf die Lichtung bricht, auf der Alun, Thorkell und Athelbert rasten, in ein Horror-Bild: Alun roch Tod, Verfall, Verwesung. Etwas hatte vor langer Zeit gelebt und war gestorben, bewegte sich aber immer noch durch den Wald und krachte wie ein riesiger Klumpen Fäulnis durch die Bäume. [...] Auch dies war ein Wesen aus der Welt jener Geister. [...] Kein Wesen wie die Feen, sondern weit mehr. Doch es bleibt bei dem Schrecken, der den Protagonisten durch Mark und Bein geht, und das Monster verschwindet wieder, ohne ihnen etwas anzutun. (K13, A2 - 3). Diese Erscheinung ist nur ein Vorspiel und stellt den Auftakt zu einem viel wichtigeren Ereignis dar, dass in einem grünen Leuchten auf der anderen Seite eines Teichs erscheint, eine menschliche oder fast menschliche Gestalt. Eine zweite Gestalt weiter rechts, daneben eine dritte. Diesmal kein Laut, nur dieses hellgrüne Leuchten, mehr geben die Seelen verstoßener Liebhaber der Feenkönigin, die im Teich erscheinen, nicht preis (K13, A3), ein weiteres Vorspiel, dass in einem anderen Teich seinen Höhepunkt erreicht. Schließlich finden die Suchenden aus dem Wald heraus, mit Unterstützung von Aluns Helfern, der namenlosen Fee und dem Hund Cafall, und erreichen rechtzeitig Brynnfell, wo sich die Bewohner auf den bevorstehenden Überfall der Erlinger vorbereiten, wo Thorkell im Zweikampf stirbt, und Bern erwachsen wird.

Aluns letzte Prüfung steht noch bevor, und sie findet statt, nachdem die Erlinger abgezogen sind. Gemeinsam mit Brynn kehrt er zurück an den Teich im Geisterwald, wo er vor Monaten Zeuge der Feenprozession wurde. Plötzlich waren sie wieder da, die grünen Lichtgestalten, die er gesehen hatte, als er mit seinen Gefährten den Geisterwald durchquert hatte. Inzwischen wusste er, wer sie waren und was sie von ihm wollten. Die grünen Wesen waren einmal Menschen, genau wie Dai, sein Bruder. Die Feenkönigin nahm sie sich als Liebhaber, um sie dann, als sie ihrer überdrüssig war, zu verstoßen. Nun irren sie zwischen den Welten umher, nicht wissend, wer sie sind, und wohin sie gehören. Es ist seine Aufgabe, hatte Alun erkannt, sie zu befreien, und die Störung der spirituellen Ordnung zu heilen. Und dieses Mal zuckte er nicht zurück, als er den Aufschrei der Erlösung vernahm. [...] Dies war kein sterblicher Körper gewesen, sondern eine Seele. Diese Wesen waren schon vor langer Zeit gestorben. Seine Klinge durchbohrte nur Rauch. Erinnerungen. Als er fertig war, alle Seelen befreit hatte, hörte er Musik und blickte auf. Zum zweiten Mal sieht Alun die Feenprozession über den Teich ziehen, und er sieht auch die Feenkönigin und seinen Bruder an ihrer Seite, und auch die namenlose Fee begleitet sie. Die Königin wird ihren Bruder freigeben, wenn er dies will, dafür hat die namenlose Fee sich verbürgt. Auch sie hat ein Versprechen gegeben, an dass sie ihre Loyalität Alun gegenüber bindet, aus Aluns Welt zu verschwinden (K16, A6 und 9), um Dais Seele zu befreien. Denn ihr Entschluss, zukünftig die Grenze zwischen den Welten zu achten, und die Erlösung und Rückgabe der geraubten Seelen hebt die Störung der spirituellen Ordnung auf. Alun hebt ein letztes Mal sein Schwert und stieß es in die Brust des Bruders. Er nahm die Seele, das Geschenk der Königin an und schenkte ihr die Freiheit [...]. Als er aufschaut, ist Dai nicht mehr da, und die Feen mit all ihrem Glanz verschwunden. Brynn und Alun bringen das Schwert des Voglan in das Versteckt unter eine Baumwurzel zurück, dass Brynn für diesen Zweck hervorgeholt hat (K16, A7). Für Alun ab Owyn ist die Zeit gekommen, heimzukehren (T3, K16, A7).

Und so endet Die Fürsten des Nordens, ein Roman, dem der Piper Verlag das Genre historische Fantasy umgehängt hat, ein Roman, der, wie gezeigt, viel zu komplex ist, um einer einzigen Genrekategorie zu genügen. Ein Roman, der historische Fantasy ist, aber nicht nur. Genauso gut ist er Märchensaga und fiktionale Jugendliteratur (young adult fiction), und genauso gut portal quest und immersive fantasy.29 Denn nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene finden in dem Roman stimmig gestaltete Identifikationsfiguren, was der Autor mit Figuren wie Aeldred, Thorkell und Brynn berücksichtigt. Was ist unter diesen Umständen die Zuordnung einer Erzählung in eine eindimensionale Gattung wert? Die Antwort gibt Ned Vizzini in seinem Beitrag in einem Sammelband, der George R.R. Martins Song of Ice and Fire aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: More than anything, »genre« is a marketing term. It’s meant to help booksellers shelve product, and thus it doesn’t have much relevance prior to the ascendance of the book as a mass-market product in England in the mid-1800s, where reduced printing costs led to an explosion of garishly illustrated »penny dreadfuls«. These serialized entertainments, marketed as literature to lower- and middle-class readers, forced critics to draw the first line in the genre wars: between »literary« and »popular« fiction.30

29 Farah Mendlesohn, Rhetorics of Fantasy, Wesleyan University Press, 2008.
30 Ned Vizzini, Beyond the Ghetto. How George R.R. Martin Fights the Genre Wars, in: James Lowder (ed.), Beyond the Wall: Exploring George R.R. Martin’s A Song of Ice and Fire. From A Game of Thrones to A Dance with Dragons, Ebook, Dallas, 2012:205.

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