Das Ganze ist das Unwahre.
Aus dieser Erkenntnis ergibt sich unmittelbar,
dass es im falschen Leben kein richtiges gibt.
Theodor W. Adorno
Vorbemerkung
Jede Erzählung, unwichtig ob als Buch oder Film, besitzt immer zwei interdependente, narrative Schichten: die manifeste Textoberfläche sowie einen inhärenten, latenten Untergrund. Es ist wie mit dem menschlichen Bewusstsein, das über zwei unterschiedliche Qualitäten verfügt, gleichzeitig unbewusst und bewusst wahrnehmen und reagieren zu können. Damit ist auch der Gegenstand dieser Studie schon umrissen, die sich mit der latenten, narrativen Dimension in Alejandro Amenábars Film The Others auseinandersetzt.1
Amenábars Film ist ein hochkomplexes, vielschichtiges Werk, dessen Analyse und Interpretation verschiedene Perspektiven ermöglicht, die nicht unbedingt linear verlaufen, sich stattdessen manchmal im Kreis zu drehen scheinen, sich teilweise überschneiden, sich teilweise scheinbar widersprechen. Den Film in seine einzelnen Bestandteile aufgeschlüsselt, legt er Zeugnis von den Gedanken und Intentionen des Autors ab, die er in seinem Film deponiert.
Die Analyse des Films The Others bildet die Fortsetzung meines Projekts über eine verbreitete Erzählinstanz, das ich mit meinem Essay Hollywoods unzuverlässige Erzähler (2023) begonnen habe, und mit weiteren Beiträgen fortsetzen werde. Anders als dieses breit angelegte Essay, mit Martin Scorseses Film Shutter Island als exemplarischem Beispiel, präsentiert die Analyse von The Others eine mehr erzähltechnisch fokussierte Perspektive auf ein konkretes Beispiel des zeitgenössischen Films, das zusätzlich einen Blick auf die parallelen Realitäten der Erzählung wirft.
Alejandro Amenábar ist ein spanisch-chilenischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Komponist, der mit seinem Debut, dem packenden Thriller Tesis (1996), mit dem er den Goya für den besten Film gewann, sowie mit seinem folgenden Film Abre Los Oyos (1997), internationale Bekanntheit erlangte, und seitdem einen sehenswerten Genre-Film nach dem anderen gedreht hat. Amenábars Filme zeichnen sich durch eine sorgfältige Mischung aus Spannung, emotionaler Tiefe und philosophischen Themen aus. Mit The Others gelang ihm 2001 ein bedeutender Erfolg im internationalen Kino, der ihn als einen der führenden Regisseure des psychologischen Horrors etablierte. Neben seiner Arbeit als Regisseur komponiert Amenábar die Musik für seine eigenen Filme oft selbst, ein für die intensive Atmosphäre seiner Werke wichtiges stilistisches Mittel.2
1The Others, Regie und Drehbuch Alejandro Amenábar, Spanien, Frankreich, Italien und Vereinigte Staaten, 2001.
2 Für die komplette Filmografie siehe das entsprechende Wikipedia-Lemma.
The Others: Eine kurze Synopsis
The Others erzählt das Geschehen des Films aus der Perspektive von Grace Stewart (Nicole Kidman in der Hauptrolle), der alleinigen Erzählerin, die mit ihren zwei Kindern, Anne und Nicholas, in einem abgelegenen Herrenhaus auf der britischen Insel Jersey lebt. Die Handlung beginnt mit Grace, als nach dem Verschwinden ihrer Hausangestellten neue Bewohner in das Herrenhaus einziehen. Grace’ Kinder, Anne und Nicholas, leiden an einer seltsamen Krankheit, die sie sehr empfindlich gegenüber dem Tageslicht macht, weshalb das gesamte Haus in schattige Dunkelheit gehüllt ist.
Während sie auf die Rückkehr ihres Ehemanns aus dem Zweiten Weltkrieg wartet, kommt es zunehmend zu merkwürdigen Ereignissen, die das scheinbar ruhige Leben der Familie Stewart stören. Beunruhigendes geschieht im Haus: Türen öffnen sich von selbst, seltsame Geräusche sind zu hören, und Anne behauptet, einen Jungen namens Victor zu sehen, der angeblich ebenfalls im Haus lebt.
Grace vermutet zunächst, dass es sich um Eindringlinge handelt, doch schließlich wird die schockierende Wahrheit enthüllt: Grace Stewart und ihre Kinder sind bereits tot und leben als »Geister« in dem Haus. Die Anderen, die sie wahrnehmen, sind die lebenden Bewohner, die in das Haus eingezogen sind. Diese unerwartete Wendung, die die Zuschauer*innen aber erst sehr spät realisieren, rückt das Geschehen in ein unerwartetes Licht, ein Qualitätsmerkmal, das die Komplexität und psychologische Tiefgründigkeit von Amenábar-Filmen ausmacht.
In meiner Analyse von Amenábars Film beschäftige ich mich mit verschiedenen Aspekten: mit Genre und Plot, mit dem Worldbuilding, der Art und Weise wer wie erzählt sowie abschließend mit der Interpretation der zentralen Themen der Erzählung.
Das Genre des Films
The Others erscheint auf der Leinwand im Kostüm des Mystery- oder Psychothrillers, und sein Autor genießt auch den Ruf, ein Meister des subtilen, psychologischen Horrors zu sein. Doch The Others trägt nicht das Gewand des klassischen Horrorfilms, denn sein Autor, der Regie führte und das Drehbuch schrieb, setzte die Elemente des Horrors, wie Gefühle der Angst und des Schreckens, der Verstörung und des Ekels, des Unheimlichen, des Unerklärlichen, des Übernatürlichen oder die Konfrontation mit extremer Gewalt und dem Bösen, auf subtilere Weise ein als in einem gewöhnlichen Gruselfilm, wie die veraltete, sprechende Bezeichnung des Genres lautet. In Amenábars The Others schweben die Merkmale des Horrors nicht-visualisiert zwischen den Bildern, er bemüht keine Monster in physischer Gestalt, denn die Bühne des Grauens ist die psychische Innenwelt seiner Figuren, die wie ich zeige, als parallele Realität inszeniert ist.
Der Film The Others ist ein Genrehybrid in dem Amenábar gezielt Elemente von Mystery und psychologischem Thriller einsetzt. Darüber hinaus repräsentiert der Film ein Subgenre des Horrorfilms, das nach seinem Schauplatz haunted house horror benannt ist. Populäre Erzählungen des Haunted-House-Horrors sind beispielsweise Shirley Jacksons Roman The Haunting of Hill House (1959), der mehrfach verfilmt wurde, Stephen Kings The Shining (1977), kongenial von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle des Hausmeisters eines Spukhotels erzählt (1980), M. Night Shyamalans The Sixth Sense (1999) oder David Finchers Gone Girl (2014). Diese Werke stehen exemplarisch für dieses Subgenre des psychologischen Horrorthrillers, da sie sowohl die physische als auch die psychologische Bedrohung durch das Haus selbst und seine Bewohner thematisieren. Sie sind alle psychologisch komplexe Erzählungen, gewürzt mit Motiven von Mystery, Inkarnationen des Übernatürlichen, Geheimnisvollen und des Unerklärlichen sowie der Suche, herauszufinden, was Wahrheit und was Täuschung ist, einer Queste, auf der die Zuschauer*innen oft lange im Dunklen tappen.
Alejandro Amenábars Spukhaus-Film ist ein herausragendes Beispiel für seine Virtuosität, raffinierte Erzählweise und tiefgründige Auslotung der psychischen Befindlichkeiten von Menschen in Extremsituationen. Sein Film spielt mit dem Genre des Haunted-House-Horrors, des Spukhausfilms, in dessen Umfeld er das dramatische Schicksal der Familie Stewart als Tragödie inszeniert.
In The Others entsteht die Atmosphäre des Unheimlichen, des impliziten Grauens, durch eine lange aufrechterhaltene Unerklärbarkeit des Geschehens, die das Publikum verunsichert oder ängstigt, bis sie der Erzählerin auf die Schliche kommen und begreifen, was vor sich geht. Ganz im Sinne der Forderung von Aristoteles' Poetik konstruiert Amenabár eine Erzählung, in der Furcht (phobos) und Mitleid (eleos) die Zuschauer zur Katharsis (kátharsis) führen, und ihm die psychisch reinigende, emotionale Erfahrung ermöglichen, das sogenannte charakteristische oder gemäße Vergnügen (die oikeia hedone) sind, deren konstitutive Elemente eben Mitleid mit den Figuren und die Furcht, es könnte ihnen ebenso ergehen.
Alejandro Amenabárs kombiniert in The Others meisterhaft das Motiv des unheimlichen, abgelegenen Hauses, schleichende Bedrohungen und die allmähliche Enthüllung dunkler Geheimnisse. Er vermeidet die üblichen Schockeffekte und setzt stattdessen auf subtile Spannung und die psychologische Komplexität der Figuren.
Haunted-House-Horror ist ein Subgenre des Horrors, das sich auf Spukhäuser und die übernatürlichen Ereignisse konzentriert, die sich an diesen Orten ereignen. Im Zentrum der Erzählungen dieses Genres steht ein altes, abgelegenes und verwahrlostes Gebäude (das unheimliche Spukhaus), das von Gespenstern, Dämonen oder anderen nicht-menschlichen Gestalten heimgesucht wird. Die unheimlichen und bedrohlichen Phänomene, die in diesen Gebäuden auftreten, sind Ausdruck eines Fluches, einer tragischen Vergangenheit oder unerlöster »Seelen«. Ein solches Haus besitzt eine düstere Geschichte, die in der Regel mit Mord, Selbstmord, einem tragischen Unfall oder einer anderen Art von Gewalttat verbunden ist.
Die Architektur dieser Häuser ist oft labyrinthartig, mit dunklen Gängen, geheimen Räumen und knarrenden Böden, die zur gruseligen Atmosphäre beitragen. Essenziell für die Gebäude des Haunted-House-Horrors sind die gruseligen Erscheinungen, die diese Häuser heimsuchen. Ihre Anwesenheit manifestiert sich durch unheimliche Geräusche, wie Schritte oder Flüstern, sich selbst bewegende Gegenstände, plötzliche Temperaturschwankungen oder um die direkte Erscheinung von »Geistern« in physischer Gestalt. Oft handelt es sich bei diesen »Geistern« um die ehemaligen Bewohner des Hauses, die aufgrund unerledigter Angelegenheiten oder eines gewaltsamen Todes nicht zur Ruhe kommen.
Die Protagonisten des Haunted-House-Horrors sind häufig in dem Haus gefangen, sei es durch äußere Umstände wie ein Unwetter oder innere psychologische oder äußere unheimliche Kräfte, die sie daran hindern, das Haus zu verlassen (Isolation und Klaustrophobie). Ihre Isolation ist Medium des Gefühls der Beklemmung und des Unausweichlichen.
In The Others sind nicht die äußeren Umstände des Spukhauses, das lediglich die atmosphärische Kulisse beisteuert, sondern die sukzessive Enthüllung der Vergangenheit seiner Bewohner das zentrale Motiv, die die wahren Ursachen des Grauens allmählich ans Licht bringt, die von Beginn an drohend über dem Geschehen schwebt. Amenabárs Version des Haunted-House-Horrors erzeugt neben den wie übernatürlich wirkenden Phänomenen, die das Leben der Bewohner im Haus manipulieren, das psychologisch basierte Grauen einer tiefgreifenden Atmosphäre des Unheimlichen (psychologischer Horror). Das Grauen entsteht nicht durch das, was die Protagonisten sehen oder erleben, sondern durch ihre eigene innere Zerrissenheit und ihren schwindenden Glauben an die Verlässlichkeit der Realität, die zu Paranoia, Angstzuständen und Wahnsinn führt.
Filmkulisse und Worldbuilding
Die erzählte Zeit von The Others
Die erzählte Zeit kehrt in das ländliche England der 1940er Jahre zurück, mitten in den Zweiten Weltkrieg. Doch die dramatischen Ereignisse dieser Jahre ereignen sich anderswo, sodass die Familie in Unsicherheit über das Schicksal von Grace Stewarts Ehemann lebt, dem Vater der Kinder. Diese spezifisch emotionale Situation von unausgesprochenem, zu erwartendem Verlust, sowie das Fehlen moderner Annehmlichkeiten und Technologien im Haus, verleiht dem Setting die historische Authentizität unterschwelliger Fremdheit. Die Kleidung der Charaktere und die Einrichtung des Hauses wirken altmodisch, sind aber charakteristisch für die Epoche, und erhöhen zusätzlich die Authentizität der erzählten Zeit. Die viktorianischen Möbelstücke unterstützen das Gefühl, dass das Haus und seine Bewohner in einer anderen, vergangenen Welt gefangen sind.
Die Handlung ist streng chronologisch aufgebaut, fügt jedoch Rückblicke und enthüllende Erinnerungen in die Erzählung ein, die die Wahrnehmung der Gegenwart verzerren. Ein solches narratives Mittel unterstreicht die Entfaltung des zentralen Mysteriums weiter, das erst am Ende vollständig aufgedeckt wird.
Die erzählte Welt von The Others, der diegetische Raum, ist ein einsames, abgelegenes Herrenhaus auf der britischen Kanalinsel Jersey. Der reale Drehort, der Palacio de Los Hornillos, gehört zum Dorf Las Fraguas in der Nähe der kantabrischen Gemeinde Arenas de Iguña, südlich von Santander. Der Palast, der zwischen 1897-1904 von Mariano Fernández de Henestrosa y Ortiz de Mioño, Herzog von Santo Mauro, gebaut wurde, besitzt in Spanien besondere kulturelle Bedeutung, weil er die betenden Skulpturen von Acebedos (Esculturas Orantes de los Acebedos) beherbergt, die 2003 in der Kategorie Möbel zum Kulturgut erklärt wurden. Der Hornillos-Palast bildet die ideale Lebenswelt für die aristokratisch wirkende, melancholische Grace Stewart, eine hermetisch geschlossene Welt, völlig abgeschnitten vom Rest der Realität.
Die erzählte Welt von The Others
Das Worldbuilding in Alejandro Amenábars Film The Others kreiert äußerst effektiv eine abgeschlossene Welt. Der Regisseur schafft durch eine geschickte Verknüpfung von erzählter Zeit und Welt eine dichte, unheimliche Atmosphäre, die entscheidend zu der Düsternis des Films beiträgt. Obwohl der Film größtenteils an einem einzigen Ort spielt, gelingt es Amenábar durch eine Vielzahl von Techniken eine Welt zu erschaffen, die historisch verankert und von einem beklemmenden Geheimnis durchdrungen ist.
Das Herrenhaus auf Jersey bildet eine hermetisch abgeschlossene Welt, die nur geringe Kontakte mit der Außenwelt unterhält. Die Abgeschiedenheit einer erzählten Welt, bezeichnet die Filmtheorie als hermetisches Worldbuilding. Martin Scorsese hat dieses Konzept gleich in den Titel von Shutter Island aufgenommen, denn shutter bedeutet Verschluss. Eine bessere Signatur für dieses filmische Konzept kenne ich nicht. In eine solche Welt dringen kaum Informationen, die sich auf Entwicklungen und Veränderungen der Normen und Werte der Figuren auswirken. Das Erzählkonzept der hermetischen Welt fokussiert auf eine Erzählweise, die eine eigene Realität beschreibt. In einer hermetischen Welt gibt es oft eine klar definierte Hierarchie, eigene Regeln und eine Sub-Kultur, die sich stark von der Außenwelt unterscheidet. Die Figuren müssen ein tiefes Verständnis für diese Strukturen entwickeln, denn sie sind ein integraler Teil dieser Welt, was der Film Matrix der Gebrüder Wachowski konsequent nutzt. Der Palacio de Los Hornillos, in dessen Räumen fast die ganze Handlung stattfindet, bildet ein hervorragendes Beispiel für ein Erzählkonzept, in dem der diegetische Raum zentraler Bestandteil von Handlung und Atmosphäre ist, auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Architektonisch ist das Spukhaus (haunted house) ein Meisterwerk viktorianischer Baukunst. Es ist groß und düster, mit labyrinthisch verschlungenen Gängen, vielen verschlossenen Türen und fensterlosen Räumen. Die schweren Vorhänge, die zur Abwehr des Sonnenlichts ständig geschlossen bleiben, tragen zur düsteren und bedrückenden Atmosphäre bei, schaffen eine klaustrophobische Enge, die die psychische Befindlichkeit der Figuren ausgezeichnet spiegelt. In diesem Zusammenhang verstärkt auch das Spiel mit Licht und Dunkelheit die Spannung. Die merkwürdige Lichtfurcht der Kinder verwandelt das Haus in eine Welt fließender Schatten, die an die Unterwelten der Antike denken lässt. Das Fehlen von Licht symbolisiert nicht nur die Unwissenheit der Charaktere über ihre wahre Situation, sondern schafft auch eine visuelle und emotionale Kälte, die das gesamte Haus durchzieht.
Die Klangkulisse des Films dominieren lange Momente der Stille, die plötzlich von unerwarteten Geräuschen durchbrochen wird, sodass die Zuschauer*innen, in furchtsamer Erwartung und ständiger Alarmbereitschaft gehalten werden. Die Geräusche, knarrende Dielen, flüsternde Stimmen, zuschlagende Türen tragen dazu bei, die unheimliche Atmosphäre im Haus aufrechtzuerhalten. Die sparsame, aber wirkungsvoll eingesetzte Musik unterstützt die Spannung und das unbehagliche Gefühl, Zeuge unerklärlicher Vorgänge zu sein, die von Beginn an vermuten lassen, dass sie kein gutes Ende nehmen. Trotzdem überlagert dieses nicht mehr weichende Unbehagen nicht den subtilen Horror der visuellen und erzählerischen Elemente.
Das Worldbuilding von The Others ist ein komplexes Geflecht aus physischen, psychologischen und geheimnisvollen Elementen, die zusammen eine dichte, bedrohliche Atmosphäre schaffen. Amenábar gelingt es, durch die sorgfältige Gestaltung von Setting, Zeit, Atmosphäre und psychologischen Finessen eine Welt zu kreieren, die sowohl historisch verankert als auch tief ins Unheimliche eintaucht. Dies verleiht dem Film seine einzigartige Spannung und macht ihn zu einem herausragenden Beispiel für subtilen, psychologischen Horror.3
3 Weitere wichtige Elemente des Worldbuiling sind Religion (die Welt des Übernatürlichen) und Psychologie (die innere Befindlichkeit) der Figuren. Aufgrund der Abfolge meiner Gliederung werde ich aber erst weiter unten auf diese beiden Aspekte zurückkommen.
Amenábars Erzählerin Grace Stewart
Für den Film The Others gibt es keine Literaturvorlage. Alejandro Amenabár ist nicht nur der Regisseur des Films, sondern gleichzeitig Autor des Drehbuchs. Als Erzähltextanalyse bezeichnet die Literaturwissenschaft die Untersuchung der narrativen Strukturen eines Erzähltextes. The Others ist ein Film und kein literarischer Text, sodass narratologische Konzepte, die ursprünglich für die Analyse von literarischen Erzähltexten entwickelt wurden, sich nur eingeschränkt auf ihn anwenden lassen. Das Geschehen wird visuell und dialogisch vermittelt, sodass erlebte Rede, innerer Monolog und Bewusstseinsbericht (stream of conciousness), die beispielsweise im Roman die psychische Befindlichkeit der Figuren ausdrücken, fehlen. Trotzdem erzählt The Others ein extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler im literarischen Sinne. Grace Stewart, die Hauptfigur des Films, ist eine intern-fokalisierte, heterodiegetisch inszenierte Erzählfigur. Die Zuschauer*innen erleben das Geschehen hauptsächlich aus ihrer figuralen Perspektive und sind dabei ganz auf ihr Wissen, ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen angewiesen, die Grace von sich selbst und ihrer Situation hat. Das macht sie zur zentralen Instanz der Interpretation und des Verständnisses des Geschehens. Dieser Umstand führt zu einer starken Identifikation des Publikums mit der Hauptfigur, und verstärkt gleichzeitig das Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit, das die Zuschauer*innen und Grace Steward von an Beginn an teilen.
Eine narrationale Erzählperspektive fehlt in The Others, denn es gibt keinen kommentierenden Erzähler, der das Geschehen aus einer olympischen Perspektive auktorial einordnet oder erläutert. Alles, was die Zuschauer erfahren, ist von Grace` Wissen, ihren subjektiven Erfahrungen und von ihren Wahrnehmungen abhängig. Diese subjektive Perspektive bildet das bedeutendste Merkmal dieser Erzählinstanz, die Alejandro Amenábar in The Others verwendet, der Grace mit allen narrativen Mitteln ausstattet, die sie zur idealen Reflektorfigur machen. Franz K. Stanzel nennt dieses Modell der Erzählsituation eine figurale Erzählsituation,4 und versteht darunter, dass die Handlung vollständig durch das Wissen und die Wahrnehmung der Erzählfigur vermittelt wird, die im Mittelpunkt des Geschehens steht. Grace repräsentiert die dominante, figurale Erzählinstanz, durch deren Augen und Ohren die Zuschauer*innen die Welt des Films wahrnehmen und bewerten. Sie sitzen ihr auf der Schulter und schauen von dieser Position aus in die erzählte Welt des Spukhauses, da es keinen auktorialen Erzähler gibt, der das Geschehen kommentiert oder eine allwissende Perspektive einnimmt, der das Geschehen kommentiert oder eine allwissende Perspektive einnimmt. Stattdessen filtert Grace Stewarts subjektive Perspektive die Ereignisse in der erzählten Welt. Diese einseitige Abhängigkeit von einer einzigen, dazu noch subjektiven Sichtweise, garantiert die Spannung und das Grauen des Films, denn Amenábar stellt dem Wissen-Wollen des Publikums kein Mittel der Kontrolle zur Verfügung, wie beispielsweise die das Geschehen kommentierende oder ergänzende, auktoriale Erzählinstanz. Alternativ betrachtet, entspricht die Erzählperspektive von The Others der intern-fokalisierten Perspektive wie sie Gérard Genette vorschlägt. Auch in Genettes theoretischem Modell erhält das Publikum Informationen über die erzählte Welt und das Geschehen ausschließlich durch Grace Stewart Erzählperspektive. Die filmische Inszenierung unterstreicht diesen Blickwinkel, da er Grace Stewarts emotionale Reaktionen auf die sich entfaltenden Ereignisse betont.5 Die Perspektivenstruktur mit subjektiver Wahrnehmung unterstützt die von Amenábar effizient eingesetzte Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz. Die Realität der Figuren in The Others gewinnen erst durch die Enthüllungen im Verlauf der Handlung ihr narratives Profil, was Amenábar mit einem besonderen, narrativen Kunstgriff allerdings bis zuletzt zu verhindern weiß.
Grace Stewart ist eine unzuverlässige Erzählerin, ein narratives Mittel, das die Zuschauer*innen bewusst in die Irre führt, und auf die Schockwirkung des finalen Plot-Twist spekuliert. Grace Stewarts subjektive Perspektive versetzt das Publikum in den Glauben, dass sie lebt, und sich gegen übernatürliche Kräfte des Horrors im Außen wehrt, die das Herrenhaus anscheinend heimsuchen. Grace` unerschütterliche Überzeugung von ihrer eigenen Realität, und ihrer rationalen Herangehensweise an die seltsamen Ereignisse im Haus täuschen den Zuschauer bis zum Ende der Erzählung.
Die unzuverlässige Erzählerin Grace ermöglicht es Amenábar, die Grenzen zwischen Realität und Illusion geschickt zu verwischen. Erst in den letzten Minuten des Films wird die Wahrheit enthüllt, dass Grace` Wahrnehmung der Realität unwahr ist. Das zwingt den Zuschauer, die gesamte Handlung rückblickend neu zu interpretieren und zu erkennen, dass die Hinweise auf die wahre Natur der Figuren von Anfang an präsent, allerdings geschickt verborgen waren.
4 Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, Göttingen, 1993.
5 Gérard Genette, Die Erzählung, München, 2010. Ebenfalls Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin, 2008.
Der Transformation-Plot
Alejandro Amenábars The Others lässt sich am besten mit dem Plotmodell erläutern, das Ronald Tobias in seiner Klassifizierung 20 Masterplots als Transformation (Verwandlung) beschreibt. Tobias bezeichnet diesen Plot, zusammen mit dem Metamorphosis-Plot als character plot, und weist diesem Plot einer Figur zu, die literally changes shape. That shape reflects the inner psychological identity dieser Figur.6 Der Transformation-Plot beschreibt die grundlegende Veränderung, die die Hauptfigur Grace Stewart , im Zusammenhang mit einer tiefgreifenden inneren und äußeren Krise, im Laufe des Films durchmacht
Grace Stewart beginnt ihre narrative Karriere als kontrollierende, strenge Mutter, die verzweifelt versucht, ihre Familie und ihr Zuhause in Ordnung zu halten. Ihre Überzeugungen und Vorstellungen von der Welt besitzen etwas Zwanghaftes. Trotz ihrer starren und unflexiblen moralischen Prinzipien kommt es mit der allmählichen Enthüllung der unheimlichen Ereignisse im Haus in Grace Stewarts Persönlichkeit zu einem Wendepunkt. Zunehmend bedrängen sie die ihr unerklärlichen Phänomene, auf die sie mit wachsenden Ängsten reagiert. Sie spürt, dass sich etwas Unnatürliches ereignet, bekommt es aber lange Zeit nicht richtig zu fassen. Ihre eigentliche Transformation ereignet sich erst, als sie erkennt, dass sie und ihre Kinder in Wirklichkeit die »Geister« sind, die das Haus heimsuchen und es zu einem Spukhaus machen. Diese schockierende Enthüllung zwingt sie, ihre gesamte Weltsicht und Identität zu überdenken. Sich dessen bewusst zu werden, ist der Point-of-no-Return, Tobias' Transformation-Plot, die tiefe Einsicht der Selbsterkenntnis, dass sich ihre Existenz von Grund auf verändert hat, für immer und unwiderruflich. Für Grace ist die Erkenntnis, dass sie bereits tot ist, der entscheidende Moment ihrer Verwandlung, und die Akzeptanz dieser Veränderung der kürzeste Weg zur Auflösung der Entfremdung, die sie von Beginn an gespürt, aber geleugnet hat. Die Akzeptanz der Wahrheit zwingt sie, ihre bisherige Realität zu hinterfragen, und sich mit der wahren Natur ihrer Existenz auseinanderzusetzen. Zur Erinnerung: Aristoteles` Poetik definiert diesen psychischen Zustand als Katharsis, das Ziel jeder gelungenen persönlichen Veränderung sowie einer spannungsreichen und unterhaltsamen Erzählung.
Das Resultat der Verwandlung ist Grace Stewarts Einverstandensein in ihre ungewöhnliche Situation, dass sie und ihre Kinder in einer Zwischenwelt existieren, auf der Schwelle zwischen nicht-mehr-lebendig und noch-nicht-tot. Mit dieser Erkenntnis wird Grace von einer ängstlich unsicheren Figur, die aus ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Klarheit alles kontrollieren will, zu einer selbstbestimmten Frau, die sich ihrer neuen Realität stellt, die Verantwortung für ihre Tat übernimmt und versucht, sich mit den Konsequenzen abzufinden. Ihre Transformation in The Others vollzieht sich psychologisch und metaphysisch. Grace muss sich nicht nur mit der Wahrheit ihrer Existenz abfinden, sie muss auch die moralischen und emotionalen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, anerkennen und integrieren.
Der Transformation-Plot von The Others, so wie ihn Tobias versteht, dreht sich um die allmähliche Offenbarung einer verstörenden Wahrheit: um die tiefgreifende innere Veränderung, die diese Wahrheit bei Grace Stewart bewirkt. Ihre Transformation findet im liminalen Raum statt, auf der Schwelle, ihrer Vergangenheit als lebende Ehefrau und Mutter und ihrer Gegenwart als, zunächst noch unbewusst, bereits Gestorbene, die nicht loslassen kann. In The Others thematisiert dieses Plotmodell die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten, die sich in dem Spukhaus den gleichen diegetischen Raum teilen. In dieser absurden Situation ist es kein Wunder, und es liegt nicht nur an dem geschickt eingesetzten Plot-Twist, dass es lange dauert, bis die Zuschauer*innen erkennen, dass Grace nicht wirklich tot ist, sondern in der Wahrnehmung der Welt der Hausbewohner, wie der Zuschauer*innen, außer Betrieb gesetzt ist, weshalb ihr auch ihr gefallener Ehemann begegnen kann. Ihr psychischer Prozess gleicht einer Reise von Unwissenheit und Verdrängung hin zu der Erkenntnis und Akzeptanz nicht mehr dazuzugehören, sondern in eine andere Realität hinübergewechselt zu sein; metaphysisch ausgedrückt, gestorben und in das Jenseits einer Religion eingetreten zu sein.
6 Ronald B. Tobias, 20 Masterplots (And How to Build Them), Cinncinatti, 1993:153-159.
Figurenrede als Medium innerer Befindlichkeit
The Others ist ein Film, der ausschließlich auf Amenábars Drehbuch basiert, was die Subjektivität von realem Autor und seiner Erzählerin in eine interessante Beziehung rückt. Aus diesem Grund erhält die Figurenrede eine entscheidende Bedeutung in der Vermittlung des Geschehens. In der Figurenrede, anders als in der Erzählerrede,7 erleben die Zuschauer*innen die Figuren als gegenwärtig, die Distanz zum erzählten Geschehen scheint vollkommen reduziert, weil jede Vermittlungsinstanz ausgeschaltet zu sein scheint.8 Diese Sprechsituation liegt im Film immer vor, für den die Figurenrede, anders als im Erzähltext, charakteristisch ist, weil sie wörtlich, ohne Kommentare eines Erzählers, ohne verba dicendi, also Verben wie »sagte er«, »seufzte er«, »antwortete sie«, auskommen muss, und die Rede außerdem noch ohne distanzierende Anführungszeichen präsentiert wird.
Aus diesen Gründen kann die Kommunikation im Film nur durch die Figurenrede (Dialoge) erfolgen, unterstützt durch eine visuelle Inszenierung, wie Licht, Kameraführung, Musik und Schnitt. Die Figurenrede ist in The Others dialogisch angelegt, meist knapp und funktional, schafft es aber trotzdem, die inneren Zustände der Figuren anschaulich zu vermitteln. Beispielsweise spiegeln die Gespräche von Grace mit ihren Kindern oder den Hausbewohnern ihre zunehmende Verzweiflung und Verwirrung. Mit der Kombination von Figurenrede und filmischen Mitteln lenkt Amenábar die Wahrnehmung der Zuschauer*innen und steuert die emotionale und psychologische Wirkung des Geschehens. Eine subjektive Kameraführung sowie die gezielte Nutzung von Licht- und Schatteneffekten stellen zusätzlich sicher, dass die Figurenrede, besonders aber die Dialoge, mit der Wahrnehmung des Publikums interagiert und auf diese Weise deren Verständnis der Handlung steuert. Die wichtige Funktion der Figurenrede in The Others betrifft die Darstellung der psychischen Befindlichkeit der Figuren, insbesondere von Grace Stewart. Im Verlauf des Geschehens wird ihre Perspektive zu einem wichtigen Element der subtilen Entwicklung des Horrors, der psychologischen Dimension des Films, denn das Spukhaus ist nicht nur ein physischer Ort, sondern auch ein Symbol für den mentalen Zustand von Grace.
Grace Stewart ist eine komplexe Figur, deren psychische Befindlichkeit von Schuldgefühlen, die ihrer Mutterrolle entspringen, und von ihrem starren religiösen Glauben geprägt ist. Trauer über das ungewisse Schicksal ihres Mannes, sowie ihre Isolation in einem unheimlichen Haus, beeinflussen ihren emotionalen Zustand. An einer Stelle fasst sie dieses bedrängende Gefühl in Worte der Figurenrede: »Diese Stille, diese verdammte Stille. [...] Sie bringt mich um!« Grace ist auf sich allein gestellt und von der Außenwelt abgeschnitten. Die sie quälende Einsamkeit und der innere Druck, der durch die Stille und Abgeschiedenheit entsteht, verstärken ihre psychische Belastung ins Unaushaltbare. Grace ist tiefreligiös und hält streng an ihren Glaubensgrundsätzen fest. Ihre strenge Religiosität und empfundene Schuld münden in Angst, sind aber auch ihr Schutzschild in dem Versuch, die Kontrolle über eine unkontrollierbare Situation nicht völlig zu verlieren. In der Figurenrede äußert Grace dieses Gefühl: »Gott hat nicht umsonst die Dunkelheit erschaffen. Sie ist seine Strafe.« Grace interpretiert diese Dunkelheit und die unerklärlichen Ereignisse in ihrem Haus als verdiente göttliche Strafe. Diese Einstellung spiegelt eine innere Welt tiefer Angst vor göttlicher Vergeltung, die gleichzeitig von der Suche nach einer Erklärung für das Unerklärliche spricht.
Ein zentraler Aspekt ihres Charakters ist ihre Verdrängung der Realität. Grace weigert sich, die Wahrheit über ihre Situation und die ihrer Kinder zu akzeptieren: »Ich weiß nicht, was das für ein Spiel ist, aber ich lasse mich nicht verrückt machen!« Obwohl sich Grace verzweifelt an ihre Vernunft klammert, nimmt ihre Angst zu, den Verstand zu verlieren, während das Unheimliche und Unerklärliche ihr kaum eine andere Möglichkeit lassen, als diese Entwicklung zu leugnen.
Grace` strenge Haltung bröckelt zunehmend und ihre Angst, die Kontrolle zu verlieren, wird immer deutlicher. »Ich habe mein Bestes getan, sagt sie in einer Szene. Aber es war nicht genug.« Gerade diese Rede spiegelt ihre tiefe Verzweiflung und das Gefühl des Versagens. Grace erkennt, dass all ihre Bemühungen, ihre Kinder zu schützen und die Kontrolle zu behalten, vergeblich waren. Diese Erkenntnis macht ihr ihre innere Zerrissenheit und das Eingeständnis ihres Scheiterns bewusst, leitet aber gleichzeitig ihre Transformation ein: Das Leitmotiv des Films. Grace erkennt die Vergeblichkeit ihres Handels, gibt auf, und macht so den Weg für die Veränderung frei. Grace Stewarts innere Welt in The Others ist von tiefem Schmerz, Schuld und einer verzweifelten Suche nach Kontrolle geprägt. Ihre strenge Religiosität, gepaart mit der Verdrängung der Realität, sind Ausdruck ihrer inneren Konflikte und ihres psychischen Zustands.
Amenábar nutzt die figural-fokalisierte Erzählweise, um eine intensive und subjektive Erzählwelt zu schaffen, in der die Zuschauer*innen völlig von der Perspektive der Hauptfigur abhängig sind. Die Unzuverlässigkeit dieser Perspektive wird geschickt kaschiert, um Spannung aufzubauen und die Enthüllung der wahren Natur der erzählten Welt zu verhindern. Die spezifische Kombination von Figurenrede und filmischer Erzähltechnik ermöglicht eine dichte, unheimliche Atmosphäre, die das zentrale Thema des Films, die Konfrontation mit der parallelen Realität, in der sie existiert, sowie die Verdrängung dieser Wahrheit, eindrucksvoll unterstreicht. Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, als Grace versucht, die mysteriösen Ereignisse aufzuklären, und erkennt, dass sie und ihre Kinder in Wirklichkeit die »Geister« sind. Die Anderen, die sie lange für Eindringlinge gehalten hat, sind in Wirklichkeit die lebenden Bewohner des Hauses, die versuchen, sich mit der Präsenz Außer-Betriebgesetzter zu arrangieren. Diese Umkehrung der Perspektive ist ein meisterhafter Plot-Twist, der die gesamte Erzählung kurz vor Schluss in einem neuen Licht erscheinen lässt.
7 Die Erzählerrede, im Sinne eines literarischen Textes, existiert im Film nicht. Stattdessen übernehmen filmische Mittel wie Kameraeinstellung, Musik oder die Lichtgestaltung die Funktion der Erzählerrede.
Die Erzähltextanalyse unterscheidet zwischen Erzähler- und Figurenrede. Während der Erzähler beobachtete Zustände und Ereignisse erst in das Medium der Sprache transformieren muss, findet er die Gespräche der Figuren bereits in sprachlicher Form vor. Die Wiedergabe von gesprochenen Worten erfordert somit offenbar deutlich weniger Übertragungsleistung als Zustandsbeschreibungen oder Ereignisrepräsentationen (Silke Lahn und Jan Christoph Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart, 2013:119).
8 Vgl. hierzu Matías Martínez und Michael Scheffel, die in diesem Zusammenhang von autonomer direkter Figurenrede sprechen (Einführung in die Erzähltheorie, München, 1999:64).
Die parallele Realität der Anderen
Bei der Beschreibung des Worldbuildings von The Others habe ich eine wichtige Dimension des Films vorerst ausgeblendet: das Motiv paralleler Realitäten, mit anderen Worten des Multiversums, dass in der Quantenphysik als Viele-Welten-Theorie (VWT) diskutiert wird.
In Alejandro Amenábars Film ist das dominierende Motiv des Worldbuilding diese alternative, parallele Realität, die die Bewohner des Herrenhauses in existenzielle Konflikte verwickelt. Die Relevanz der Quantenphysik, insbesondere die Viele-Welten-Theorie (das Multiversum), für Phantastische Erzählungen ist enorm. Betrachtet man die zahlreichen Erzählungen, die die VWT narrativ thematisieren, scheint sie eine unerschöpfliche Quelle von Inspirationen für Schriftsteller*innen zu bieten, um komplexe narrative Strukturen zu erforschen, die weit über die konventionellen Grenzen des mechanischen, physikalischen Weltbilds, der alltäglichen Vorstellung von Zeit und Raum, hinausgehen. Es ist die Theorie der vielen Welten, die es Autor*innen ermöglicht, mit konventionellen Konzepten von Handlung und Figurenentwicklung zu experimentieren, alternative Geschichte und parallele Realität zu erforschen, die sonst unzugänglich sind. Phantastische Erzähltexte, ob als Literatur oder als Drehbuch, bieten eine vielfältige Bühne um parallele Realitäten zu konstruieren, ihre Relevanz zu prüfen und zu erforschen. In ihren Szenarien verlaufen historische Ereignisse anders, oder es entstehen völlig neue Realitäten, wie in Philip K. Dicks The Man in the High Castle (Das Orakel vom Berge, 1962). In diesem Zusammenhang entstehen kreative Was-wäre-wenn-Szenarien, die komplexe Fragen nach Schicksal und Zufall stellen. Die Autor*innen entwerfen komplexe narrative Strukturen, in denen sich Perspektiven verzweigen und überschneiden. Diese narrativen Labyrinthe lösen bei den Leser*innen Gefühle der Verwirrung und Irritation aus, vermitteln aber auch eine tiefere Identifikation mit den Figuren und ihrer Welt. Der wichtigste Fokus dieser Erzählungen ist die Frage nach der Identität der Figuren, die mit alternativen Versionen ihres Selbst konfrontiert werden, was zu tiefgehenden Identitätskrisen (kátharsis) führt, und sie zu einer philosophischen Neu-Orientierung zwingt.
In der Kopenhagener Deutung der Quantenwelt wird die Realität als eine Art superposition betrachtet, in der ein Quantensystem mehrere mögliche Zustände gleichzeitig einnimmt, bis eine Messung durchgeführt wird. Erst durch die Beobachtung (Messung) beziehungsweise einen Beobachter kollabiert die Wellenfunktion, und das System nimmt einen definitiven Zustand an. Dieser Kollaps der Wellenfunktion ist eine der mysteriösesten und am meisten diskutierten Aspekte der Quantenmechanik.
Alternativ behauptet nun die VWT, dass die Wellenfunktion niemals kollabiert. Stattdessen existieren alle möglichen Zustände eines Quantensystems gleichzeitig, jedoch in separaten, parallelen Realitäten (Welten in Fantasy-Erzähltexten). Bei jeder quantenmechanischen Messung (Beobachtung) verzweigt sich die Realität, sodass alle möglichen Ergebnisse der Messung in unterschiedlichen, aber realen Parallelrealitäten eintreten. Das bedeutet, dass für jede Entscheidung oder jeden Zufallsprozess im Quantenbereich eine neue, parallele Realität (Welt) entsteht, in dem sich die alternativen Ergebnisse realisieren. Durch dieses Phänomen entstehen unzählige Parallelrealitäten, die koexistieren und auch dann real sind, wenn ein Beobachter sie nicht direkt wahrnehmen kann. Anstatt zu sagen, dass nichts real ist, solange man es nicht beobachtet, behauptet die VWT, dass alles real ist, auch wenn man es nicht beobachten kann.9 Nach der VWT ereignet sich diese Spaltung jedes Mal, wenn in der Quantenwelt eine Entscheidung getroffen wird. Aus diesem Grund kann es unzählige Realitäten geben, die alle voneinander verschieden sind und irgendwie nebeneinander existieren.10
Die zwei Gesichter der Grace Stewart
Der Film The Others beginnt in der parallelen Grace-Realität, nachdem sie sich für einen erweiterten Suizid entschieden hat, von dem das Filmpublikum zunächst nichts ahnt. Das philosophische Konzept der Entscheidungsfreiheit setzt voraus, dass Grace zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen konnte - sterben oder leben - und ihre Entscheidung einen tatsächlichen Unterschied macht. In der VWT hat nämlich jede Wahl das Potenzial, eine neue Realität zu erzeugen, in der die alternative Möglichkeit realisiert wird. In dieser durch ihre Entscheidung für den erweiterten Suizid verursachte, parallele Realität lebt Grace mit ihren Kindern, neben den Hausbewohnern in dem Herrenhaus, in dem sich nun zwei Realitäten überschneiden. Zu Beginn des Geschehens ahnen weder die Zuschauer*innen noch Grace, in welcher Situation sie sich befinden. Das Leben der Stewart-Familie verläuft scheinbar unauffällig, wenn auch isoliert und einem normalen Alltag entfremdet, was aber in der Abgeschiedenheit des Herrenhauses zuerst auch nicht verwundert.
Durch ihre Entscheidung, sich und ihre Kinder zu töten, ist aus Grace Stewart eine Alternativ-Grace geworden. Mit ihrer Suizid-Entscheidung entsteht nicht nur eine parallele Grace-Realität, sondern auch ein alternatives Grace-Selbst. Ihre Entscheidung hat dazu geführt, gemäß VWT, dass sich ihre Realität spaltet, und dass eine parallele Grace-Realität mit ihrem alternativen Selbst entsteht. Diese alternative Grace-Parallelrealität ist aber genauso real wie die der Hausbewohner, auch wenn diese die Grace-Realität, für sie die Welt der »Geister« des Spukhauses, nicht wahrnehmen. Die hypothetische Wahrscheinlichkeit paralleler Realitäten führt zu der Konsequenz, dass eine alternative Grace-Version in der von ihr verursachten, parallelen Grace-Realität existiert, die gemäß VWT physisch und objektiv real ist. Deshalb existiert Grace in ihrer eigenen Parallelrealität und führt dort ein alternatives Leben.
Schon bevor Amenábars Erzählung einsetzt, hat Grace` Entscheidung eine Aufspaltung der Realität verursacht, die zu einer Alternativ-Grace geführt hat. Die VWT betrachtet diese parallelen Selbst-Versionen nicht nur als hypothetische, theoretische Konstrukte: Sie sind physische Entitäten, die in ihren eigenen Welten leben, eigene Erfahrungen machen und Entscheidungen treffen. Deshalb ist Alternativ-Grace genauso real wie Grace vor ihrem Suizid. Doch was bedeutet es, real zu sein? Die Frage nach der Realität eines alternativen Selbst von Grace Stewart betrifft ihre Identität und Existenz. In der traditionellen Philosophie wird Realität als etwas definiert, das physisch existiert und erfahrbar ist. Wenn diese Definition zutrifft, sind alternative Selbst-Versionen auch in Parallelrealitäten real, weil sie in ihren eigenen Kontexten physisch existieren und Erfahrungen machen. In ihrer alternativen, personalen Version ist Grace ein wirkliches Du mit einer eigenen, separaten Identität, die unterschiedliche Erfahrungen macht und andere Entscheidungen trifft. Amenábar hat seine Hauptfigur Grace Stewart so gemeint, und genauso erleben die Zuschauer*innen sie, und identifizieren sich mit ihr. Grace (diese Realität) und Alternativ-Grace (andere Realität; alternatives Selbst) sind nicht dieselbe Person, obwohl sie denselben Ursprung haben. Aus der Perspektive ihres eigenen Bewusstseins existiert eine Person nur in ihrer aktuellen Realität als reale Entität. Grace` alternatives Selbst, das in einer anderen Welt existiert, ist für die Hausbewohner unzugänglich und unveränderlich. Für deren Bewusstsein ist sie hypothetisch oder metaphysisch, ein »Geist«, auch wenn sie objektiv gesehen real ist. Diese subjektive Erfahrung von Realität führt im Allgemeinen dazu, dass die Realität alternativer Versionen von sich selbst infrage gestellt wird, da diese Versionen nicht beobachtbar und unerreichbar sind, deshalb unbedeutend und fiktiv erscheinen.11
Das Worldbuilding in Amenábars Film balanciert zwischen zwei parallelen Realität, die der Hausbewohner und der Zuschauer*innen sowie der von Grace Stewart und ihren Kindern, die lange Zeit die für das Publikum die einzige Realität zu sein scheint. Doch die Grenze zwischen den beiden parallelen Realitäten wird zunehmend durchlässiger, die eigentliche Ursache für Grace` Gefühl der Entfremdung, der Verwirrung und Beunruhigung, dass sie mit dem Publikum teilt.
Die effektivste Technik des Worldbuildings in The Others besteht darin, dass der Film ein Spiel mit diesen beiden Realitäten treibt, mit dem, was nicht gezeigt, und deshalb auch nicht gesehen werden kann. Selbst der Filmtitel, den Amenábar ganz bewusst gewählt hat, ist doppeldeutig, bleibt doch lange unklar, welche Gruppe von Figuren diese Anderen sind, die um den Anspruch konkurrieren, dass ihre Realität die eigentliche ist, denn beide wissen nicht, und können es deshalb auch nicht sagen, dass es zwei davon gibt, und dass jeder in seiner Realität eingeschlossen ist.
Die Existenz der parallelen Grace-Realität, die Anwesenheit dieser Anderen, von Grace und ihren Kindern, kann von den Hausbewohnern nicht beobachtet werden, und die Stewart-Familie wird von ihnen als physisch nicht vorhandene »Geister« wahrgenommen, ganz wie vom Haunted-House-Horror eines Spukhauses gefordert. Das Filmgeschehen suggeriert sie durch Geräusche, unerklärliche Bewegungen von Gegenständen und die Reaktionen der Figuren. Diese subtilen Hinweise auf metaphysische Phänomene schaffen eine greifbare Bedrohung aus einer Realität, die nie vollständig sichtbar oder greifbar wird, die die Hausbewohner als unheimlich definieren, ein Worldbuildingkniff, der die Spannung und das Geheimnis um das Geschehen im Spukhaus verstärkt.
Die vorgebliche Realität des Films ist letztlich eine Täuschung und nicht identisch mit der Realität der Zuschauer*innen, denn die unzuverlässige Erzählerin Grace teilt ihr Wissen und ihre Wahrnehmungen aus der subjektiven Perspektive ihrer parallelen Grace-Realität mit, die sie selbst bis fast zum Schluss für die gleiche Realität wie die der Hausbewohner hält. Grace ist keine auktoriale Erzählerin mit einer allumfassenden Metaperspektive. Die Anderen des Filmtitels, wie sich schließlich herausstellt, sind Außer-Betriebgesetzte, sind defunctus, um einen Terminus zu verwenden, den Maurice Leenhardt für die religiösen Überzeugungen auf Neu-Kaledonien verwendet. Auch Pieter Middlekoop ist dieser Vorstellung in Westtimor begegnet, wo der Verstorbene der »vom anderen Ufer« ist, dessen in ihrer Welt (und Wahrnehmung) bewegungsloser, nicht mehr atmender Körper im Tod nicht verschwindet, sondern weiter präsent ist. Deshalb nennen die Atoin Meto ihn nitu, was Middelkoop mit lebende Leiche übersetzt. In ihrer Weltanschauung ist der Verstorbene nicht fort, er hat in ihrer Welt nur keine Funktion mehr und ist hinüber ans andere Ufer gewechselt, in eine Welt, die in ihrer Vorstellung am Rand ihres Dorfes liegt. Die Vorstellung paralleler Realitäten ist kein Konzept auf das Quantenphysik oder Fantasy ein Monopol beanspruchen können, in außereuropäischen Kulturen ist diese Vorstellung nicht unbekannt.
Auch Grace und ihre Kinder haben ihre lebensweltliche Funktion verloren, und sind Bewohner einer solchen Welt geworden, die parallel zu der Realität der Hausbewohner und Zuschauer*innen verläuft. Hat das Publikum den Plot-Twist des Films erst einmal erkannt, erscheint ihnen die Welt von Grace und ihren Kindern auf den Kopf gestellt, weil sich schließlich herausstellt, dass sie in einer parallelen Realität leben und von den Hausbewohnern, und schließlich auch von den Zuschauer*innen, als »Geister« wahrgenommen werden. Erst in der finalen Enthüllung, die Erzählung ist fast zu Ende erzählt, führt Amenábar die Vorstellung des Multiversums in das filmische Geschehen von The Others ein. Plötzlich hat sich das scheinbar eindimensionale Spukhaus, und das ist genretypisch, in einen multidimensionalen Raum verwandelt, in der Außer-Betriebgesetzte und Lebende nebeneinander existieren, ohne sich der Existenz der jeweils anderen Realität bewusst zu sein. Grace nimmt die Lebenden als The Others wahr, mit denen Kommunikation nicht gelingt, und diese wiederum Grace als Eindringling in ihr Heim empfinden, obwohl in Wirklichkeit sie in die Welt der Anderen eindringt, weil sie in der Vergangenheit feststeckt und sich in ihrer neuen Realität nicht beheimateten kann. Der Wechsel in eine neue, parallele Realität ist Grace` Transformation, der sie sich lange verweigert, weshalb sie als »Geist« in der Vergangenheit gefangen ist.
Amenábars Idee, ein Spukhaus als Schnittstelle von zwei parallelen Realitäten zu kreieren, der von Grace Stewart und der der Hausbewohner, erweitert das Haunted-House-Horror-Genre um eine überraschende Variante. In The Others hängt die Koexistenz der Lebenden und der Toten, im diegetischen Raum in verschiedenen Realitäten, von der Position des Betrachters ab. Für die Zuschauer*innen bleibt es lange Zeit schwierig, das Geschehen als das zu erkennen, das sich wirklich ereignet. Erst nachdem sie alle relevanten Informationen besitzen, sind sie in der Lage, ihre Position der jeweils angesprochenen Realität entsprechend einzunehmen.
Die Erzählungen der Phantastischen Literatur, wie Fantasy, Science-Fiction oder Horror, behandeln diese parallelen Realitäten (Welten) als neben- oder übereinander gelagerte, diegetische Räume, verbunden durch Schnittstellen, die Übergänge der portal quest fantasy, die Portale, Tore, Wege oder Labyrinthe repräsentieren. Obwohl Amenábars Film nicht explizit von parallelen Welten im traditionellen Sinne handelt, spielt er doch mit der Vorstellung der Existenz paralleler Realitäten, die nebeneinander existieren, ohne dass die Beteiligten voneinander wissen. Diese parallelen Realitäten überschneiden sich auf schockierende Weise in Grace Stewarts prekärer Existenz. Und damit komme ich zum eigentlichen Thema von Amenábars Film, das weit über die inhaltliche Seite hinausführt, und zentrale moralische Fragen der westlich-christlichen Weltanschauung aufwirft.
9 Damit ist Schrödingers Katzenrätsel erklärt. Anstatt zu sagen, dass ein Atom in einem ambivalenten Zustand verharrt, ohne zu entscheiden, ob es zerfällt oder nicht, sagt die VWT, dass es beides tut, sodass der Kosmos in unendlich viele Realitäten geteilt ist. In einer Welt zerfällt das Atom und die Katze stirbt. In der anderen Welt gibt es keinen Zerfall und die Katze lebt.
10 The Many Worlds Interpretation of quantum mechanics says that the universe we experience is just one of a vast number of parallel universes, each as real as the other, each branching off from one another at every quantum event (David Deutsch, The Fabric of Reality, 1997); In the many-worlds interpretation, every possible quantum outcome is realized in some branch of the universe, implying that there are an infinite number of universes, each slightly different from the others (Stephen Hawking, The Grand Design 2010; The Many Worlds Interpretation says that whenever a quantum event has multiple possible outcomes, all of those outcomes occur, each in its own separate universe (Max Tegmark, Our Mathematical Universe: My Quest for the Ultimate Nature of Reality, 2014). Diese Zitate, besonders das letzte von Max Tegmark, bringen die VWT auf den Punkt: Jedes mögliche Ergebnis eines quantenmechanischen Ereignisses führt zur Entstehung eines neuen, separaten Universums, in dem genau dieses Ergebnis realisiert wird. Diese Vorstellung erweitert die Idee des Universums und deutet darauf hin, dass es eine potenziell unendliche Anzahl paralleler Realitäten gibt, die alle unterschiedliche Entwicklungen genommen haben, basierend auf den verschiedenen möglichen Ausgängen von Quantenereignissen. Die VWT hat bedeutende Implikationen für unser Verständnis von Realität und Existenz. Sie bietet Antworten auf einige der Paradoxa der Quantenmechanik, führt aber auch zu neuen Fragen, insbesondere in Bezug auf die Natur des Bewusstseins und die Realität von Entscheidungen.
11 Vgl. auch meine Bearbeitung von Megan Lindholms Kurzgeschichte Neighbors in diesem Blog, wo ich die Frage nach der Evidenz paralleler Realitäten mit einem etwas anderen Fokus stelle.
Moralische Implikationen in The Others
Die Existenz paralleler Realitäten wirft moralische Dilemmata in den Erzähltexten auf. Wenn in einer Realität eine Entscheidung getroffen wird, die in einer alternativen Realität das genaue Gegenteil bewirkt, welche dieser Entscheidungen ist dann wahr oder unwahr, richtig oder falsch? Diese Fragen besitzen in den Erzählungen der Science-Fiction- und Fantasy-Literatur zentrale Bedeutung, deren Plots um die Komplexität moralischer Entscheidungen und die Relativität von Gut und Böse kreisen. Die Frage nach den moralischen Konsequenzen, die das Verhalten von Grace Stewart nach sich zieht, öffnet eine alternative Perspektive, die das Motiv paralleler Realitäten in den innerpsychischen Raum verlagert, indem sie das bewusste und unbewusste Leben als verschiedene Realitäten auffasst. Mit der Enthüllung, dass Grace und ihre Kinder bereits tot sind, lenkt Amenábar die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen auf den Grund des merkwürdigen Verhaltens seiner Protagonistin: auf ihre Schuld, ihre Weigerung Verantwortung für ihre Tat zu übernehmen, und ihre veränderte Realität zu akzeptieren, was einer Verweigerung ihrer Transformation gleichkommt.
Die zentrale moralische Frage des Films betrifft Grace` Verantwortung für die Ermordung ihrer Kinder und ihren anschließenden Suizid. Der Sachverhalt, dass sie ihre Kinder in einem Anfall von Wahnsinn getötet hat, bevor sie sich selbst das Leben nahm, stürzt sie in schwere Schuldgefühle und ein moralisches Dilemma. Ihr erweiterter Suizid verursacht zuerst ihre Weigerung ihre Realität zu akzeptieren, und führt dann zu ihrem Bedürfnis, die Wahrheit vor sich selbst zu verleugnen. The Others thematisiert Grace` Unfähigkeit ihr Verbrechen anzunehmen und zu verantworten. Amenábar wählt die Metapher der parallelen Realität, in der Grace ihre Verdrängung fixiert, in der sie verunsichert umherirrt, unfähig sich mit den Konsequenzen ihres Handelns auseinanderzusetzen. Die bedeutendste moralische Implikation hängt jedoch mit der Notwendigkeit zusammen, die Verantwortung auch für eine schmerzhafte, traumatische Realität anzunehmen, sie zu transformieren und zu integrieren. Grace und ihre Kinder leben in einer Illusion, weil sie nicht dazu in der Lage ist, zu akzeptieren, dass sie tot sind. Wie weit gehen Menschen, um unangenehme Wahrheiten zu leugnen und zu vermeiden, und was passiert, wenn man sich weigert, die Konsequenzen anzuerkennen? fragt Alejandro Amenábar. Eine solche Verweigerung führt in einem Zustand ewiger Wiederholung und Isolation und kann als eine Art moralischer Strafe interpretiert werden: die Metapher des christlichen Fegefeuers als parallele Realität. Die für sich gegenseitig Anderen (»Geister«) in The Others sind keine rachsüchtigen, bösartigen Gestalten wie im klassischen Horrorfilm oder wie die Erinnyen, als personifiziertes Gewissen der griechischen Mythologie, die Orest als Spukgestalten durch sein Leben jagen. Sie sind in ihren eigenen Vorstellungen, Empfindungen und Gefühlen gefangen, in ihrer eigenen schuldhaften Vergangenheit und in ihrer Unfähigkeit, sich weiterzuentwickeln, zu transformieren. Während die Zuschauer*innen das Schicksal von Grace Stewart miterleben, drängt sich ihnen die Frage auf, ob es gerecht und moralisch vertretbar ist, dass »Seelen« in einem Zustand der Unkenntnis verharren, und was es bedeutet, wahrhaft loszulassen.
Ein Nebenschauplatz des Films ist sicherlich auch die Frage nach der Natur von Anderen, die die Soziologie in der Theorie der Alterität oder Alienität stellt, auf die ich in meinem Blog-Beitrag Thank you. Now I am bound näher eingegangen bin. So betrachtet weist der Film auch auf Vorurteile und Missverständnisse zwischen verschiedenen Kulturen (Realitäten) hin, auf die Angst, sich Konflikten zu stellen, und regt damit eine Reflexion über Toleranz und das Verständnis für das Unbekannte an.
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