Sonntag, 18. Mai 2025

Willkommen im Weblog Grüne Sonnen


Wenn wir bedenken, dass wir alle
verrückt sind, ist das Leben erklärt.

Mark Twain

Wenn wir lesen, erfreuen wir uns nicht nur an den Worten des Autors, wir kommunizieren mit seinem Verstand (Martin Amis, The War Against Cliché, 2001). Geht es dabei um Phantastische Literatur, um Fantasy, dann nehmen wir an seinen Träumen, Visionen und an seiner Imagination teil. Aber auch an seiner Originalität, seiner Weltsicht und in gewisser Weise auch an seiner Ver-Rücktheit. Wie Tassen, die in einem Schrank aus ihrer Ordnung gerückt werden, so verrücken Autor*innen phantastischer Texte die Perspektive des Lesers auf dessen Realität und Gegenwart. Da Träume und Visionen ins Unendliche reichen, sind die Gründe der Fantasie nur dort unauslotbar.

Erzählungen der Fantasy-Literatur handeln von uns allen. Die Autor*innen phantastischer Texte ergreifen in ihnen die Gelegenheit, das, was eine historische Realität nicht tradiert, zu ergänzen, Mythenabbrevationen auszuformulieren oder für unmöglich Gehaltenes, magisch zu inszenieren und zu erklären. Fantasy-Texte behandeln die andere Seite der Vernunft, spiegeln Themen, die archetypisch, magisch und innerpsychisch verortet sind. Die Welt der Träume, Visionen, Wünsche und Passiones, die Atmosphären des Unheimlichen und Erschreckenden, des Numinosen und Spirituellen. Fantasy-Autoren*innen erzählen in ihren Texten von der anderen Seite des Menschen, die in den Schatten des Rationalismus und Materialismus der Aufklärung und der Tyrannei des Verstandes geraten ist. Sie verhelfen einer sekundären Realität zurück in die Wahrnehmung, indem sie einen Gegenentwurf zu aktuellen persönlichen, sozialen und politischen Themen in einer literarischen Form präsentieren, die aus Unbewusstem schöpft und an Unbewusstes appelliert.

Dienstag, 13. Mai 2025

Das Schicksal der Kinder Lirs


Reflexionen über Juliet Marilliers historische Fantasy

Is not a tale a living thing that grows
and changes with every telling?

Juliet Marillier1

Einstimmung

Juliet Marillier erzählt ur-altes Wissen in einem modernen Gewand. Für die Textoberfläche, das eigentliche Geschehen der Erzählung, wendet sie sich an das altirische, kulturelle Gedächtnis, das sich bis heute in Mythen und Sagen ausdrückt. Fragmente, nicht mehr als Splitter, sind übergeblieben, doch die Autorin bettet sie in die mysteriöse Textur des phantastischen Erzählens, wie unterschiedliche Garne, die das Bild eines Gobelins weben. Wer eine Erzählung nicht allein der Unterhaltung wegen liest, sondern einen Blick hinter die Textoberfläche werfen will, stellt sich vielleicht zuallererst die Frage: Um welche Art Erzähltext handelt es sich? Der Schwerpunkt der folgenden Betrachtung des ersten Sevenwaters-Romans von Juliet Marillier, Die Tochter des Waldes, fokussiert auf die Beantwortung der Frage nach den kulturellen und literarischen Wurzeln dieser Erzählung.2