Mittwoch, 29. November 2023

Vom Urbild des Seefahrers zum Botenstern


Der letzte bedeutende Einfluss, den Tolkien für die Konzeption seiner Earendil-Gestalt nutzte, stammt aus William Morris Erzählungen The Earthly Paradise und The House of the Wolfings sowie aus dessen altnordischer Quelle, der Völsunga saga.1 Im Frühjahr 1914 gewann Tolkien den Skeat-Preis für Englisch, den sein College verlieh, und von diesem Gewinn kaufte er die erwähnten Morris-Bücher. Seine Begeisterung für William Morris führte zu Tolkiens ersten eigenen narrativen Experimenten: In dem schwer mit Archaismen und poetischen Wort Umstellungen überfrachteten Stil seines Vorbilds, im Bestreben, die Atmosphäre einer alten Mythe nachzudichten, gestaltete er die erst neuerdings unveröffentlichte Kullervo-Episode der finnischen Kalevala nach, eine Vers- und Prosa-Tragödie ganz im Sinne der Morris-Vorlage The House of the Wolfings. Die Geschichte des hapless Kullervos, eines vom Unglück verfolgten Mannes, der unwissentlich Inzest begeht und sich schließlich verzweifelt selbst in sein Schwert stürzt, wird zur Keimzelle, einer anderen der frühen Verschollenen Geschichten, der von Túrin Turambar und seiner Schwester Niënor alias Niniël.2 Es ist gut vorstellbar, auf welche Weise diese Meilensteine phantastischer Literatur die Fantasie und Imaginationskraft des jungen Tolkien entzündet haben muss.

Samstag, 18. November 2023

Altgermanische Katasterisationen


Während der altenglische Éarendel bereits zu der Engel glänzendster, zum sicher-wahren Strahl der Sonne geworden ist, schildert die altnordische Aurvandillr-Mythe den Augenblick der Katasterisation eines mythischen Helden, greift damit zu einem wahrhaft universellen mythologischen Motiv. Die altnordische Variante ist lediglich als Mythenabbrevation überliefert, ein Fragment, dem Kontext und Erklärung fehlen. Auch der Versuch, benachbarte Texte und Traditionen zu befragen und so die Lücken zu schließen, verstrickt tief in mythisches Dunkel. Schließlich bleiben mehr Fragen offen als Antworten möglich werden: Der Mythos wahrt sein Geheimnis vor dem analytisch-rationalen Zugriff wissenschaftlicher Neugier.

Freitag, 3. November 2023

Die semantische Ambivalenz von altnordisch aurr


Die Namen Éarendel und Aurvandillr sind semantisch identisch, es sind die Namen einer bedeutenden mythischen Persönlichkeit in unterschiedlichem Sprachkostüm.
Die ersten etymologischen Bemühungen von Rudolf Much, der zuerst von an. aurr, Gold, ausging und als Bedeutung der glänzende Wandale (*Auza-wandilaz) vorschlug, brachte ihm viel Kritik, kaum aber wissenschaftliche Klarheit in das Aurvandillr-Problem ein.1 Semantisch einleuchtender ist dagegen Muchs spätere Deutung (1926), Lichtstreif, Lichtstrahl (an. aurr, Gold; an. –vandill zu vöndr, Stab), denn diese Deutung passt viel besser zu einer Astralmythe, die der Aurvandillr-Mythos schließlich suggeriert. Viel geklärt, da anfechtbar, war mit dieser Etymologie aber immer noch nichts.2 Tolkien könnte die etymologischen Spekulationen Muchs gekannt, vielleicht sogar geteilt haben, kreist doch sein Earendil um die Phänomene Glanz und Licht. Insbesondere die strahlende Qualität des Lichtes faszinierte Tolkien, wie Verlyn Fliegers Untersuchung belegt hat, die darauf hinweist, dass Tolkiens ganze Silmarillion-Mythologie auf der Spannung von Wort und Licht beruht.3

Muchs einseitige Priorisierung des altnordischen Lexems aurr als Reflex eines leuchtenden Phänomens, denn dahin zielen seine beiden Deutungen, ist nicht unproblematisch, denn aurr ist semantisch ambivalent.
Jan de Vries denkt im Zusammenhang mit an. aurr in erster lexikalischer Position an:4

  • mit Stein untermischter Sand;
  • Feuchtigkeit, Nässe.5

Mit dieser Bedeutung öffnet de Vries eine Tür, hinter der weitere mysteriöse Mythen warten, deren Interpretation ähnliche Schwierigkeiten machen wie die Aurvandillr-Episode. Eddische Dichtungen scheinen die von de Vries bevorzugte Bedeutung zu bestätigen. Gustav Neckel und Hans Kuhn geben aurr, nasse, schmutzige erde (Ghv.16, Rþ.10, Grt.16); auch bezeichnung der erde (Alv.10).5 In Völuspá 19 (Vsp) steht hvítaauri6 im Zusammenhang mit der Weltachse Yggdrasil, die von weißem nass7 benetzt wird, der als Tau in die Täler fällt. In der entsprechenden Strophe der Vsp. heißt es: