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Dienstag, 23. Januar 2024

Das letzte Licht der Sonne


Was wir als Realität bezeichnen, ist nichts anderes
als eine Ansammlung fadenscheiniger Ähnlichkeiten,
die von Gewohnheiten zusammengehalten werden.

Philip Pullman

Wie wir uns erinnern, verändert auch, wie wir gelebt haben.
Wir machen Geschichten aus unserem Leben.

Guy Gavriel Kay

Die historische Fantasy des Guy Gavriel Kay

Paratexte sind eine Informations- und Marketingstrategie von Autor und Verlag, um ihren Leser*innen eine erste Verstellung davon zu vermitteln, was sie vom Inhalt eines Buchs erwarten können. Wer von beiden im Einzelnen für Titel, Klappentext, Autorenvita, Vorwort oder Leitmotiv verantwortlich ist, lässt sich den Texten selbst nicht entnehmen.
Der Buchtitel, dazu gehört auch die Illustration von Vorder- und Rückseite, ist der prominenteste Paratext, und allein für den ersten Eindruck verantwortlich. Deshalb vergibt auch kein Autor einen Titel leichtfertig, ein Verlag schon. Zwischen dem ursprünglichen Titel des Autors, The Last Light of the Sun, und dem Titel der deutschen Übersetzung, Die Fürsten des Nordens, besteht kein inhaltlicher Zusammenhang. Er ist eine Umdeutung.1

1 Für meine Studie verwende ich Guy Gavriel Kay, Die Fürsten des Nordens, Piper Verlag München, 2007 (engl. Original: The Last Light of the Sun, Toronto, 2004.

Der Originaltitel bezieht sich auf den gälischen Kulturkreis (das moderne Wales und Irland) im Westen der erzählten Welt, während der deutsche Buchtitel undifferenziert den Adel des Nordens, die Fürsten der drei Kulturen der Nordseeanrainer benennt. Einen erweiterten Blick über den inhaltlichen Hinweis des Titels hinaus bieten Klappentext und Rückseite des Buchs, die auf reißerische Weise genretypische Klischees bedienen: die Beutezüge der Wikinger sowie die magische Atmosphäre eines Portals in eine andere Welt. Dazu die Illustration in dunklem Blau und Schwarz: ein Drachenboot steuert auf ein gigantisches Felsentor zu. Hinter der Einfahrt leuchtet ein gelbes Licht, das ein dramatischer, wolkenschwerer Himmel beinahe erdrückt. Wer denkt bei diesem Bild nicht an Tolkiens Graue Anfurten oder vergleichbare Portale. Diese Motive sind nicht repräsentativ für G.G. Kays Roman, der weitaus mehr thematisiert. Allerdings deuten sie wichtige Geschehnisse der Erzählung an, denn sie schaffen Motivierungen für die Handlungen der Figuren. Zusätzlich beschwören diese Paratexte die Autorität von Zeugen wie J.R.R. Tolkien, M. Zimmer Bradley, D. Gemmell oder G.R.R. Martin, sodass die Gattung ist eindeutig bestimmt erscheint: Bei dem Roman Die Fürsten des Nordens handelt es sich um ein Erzählwerk der Fantasy.

Dienstag, 12. Dezember 2023

A Feast For Crows


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Feast For Crows [AFFC], Vol.4: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung: Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Zeit der Krähen, 2006 [LEF 4.1]
Die dunkle Königin, 2006 [LEF 4.2]

Vorbemerkung

A Feast for Crows [AFFC] ist das vierte der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bücher publiziert sind. Wie auch für die drei vorausgegangenen Bände des Epos ASOIAF erhielt auch AFFC mehrere Nominierungen, aber keine Auszeichnung:

  • eine Hugo Award-Nominierung als bester Roman, 2006,
  • eine British Fantasy Award-Nominierung als bester Roman, 2006 sowie
  • eine Quill Award-Nominierung als bester Science Fiction und Fantasyroman, 2006.

AFFC ist der erste Roman der LEF-Reihe, der es an die Spitze der New-York-Times-Bestsellerliste schaffte, etwas Besonderes unter Fantasyautoren, das vorher nur David Eddings, Robert Jordan und Neil Gaiman gelang. Der Publikation des vierten Bandes des LEF ging die Veröffentlichung der Erzählung Arms of the Kraken (in Dragon Magazine, 08.2002) voraus, die auf den ersten vier Eiseninsel-Kapiteln von AFFC basiert und zusammenfasst, was sich dort ereignet:

Freitag, 3. November 2023

Die semantische Ambivalenz von altnordisch aurr


Die Namen Éarendel und Aurvandillr sind semantisch identisch, es sind die Namen einer bedeutenden mythischen Persönlichkeit in unterschiedlichem Sprachkostüm.
Die ersten etymologischen Bemühungen von Rudolf Much, der zuerst von an. aurr, Gold, ausging und als Bedeutung der glänzende Wandale (*Auza-wandilaz) vorschlug, brachte ihm viel Kritik, kaum aber wissenschaftliche Klarheit in das Aurvandillr-Problem ein.1 Semantisch einleuchtender ist dagegen Muchs spätere Deutung (1926), Lichtstreif, Lichtstrahl (an. aurr, Gold; an. –vandill zu vöndr, Stab), denn diese Deutung passt viel besser zu einer Astralmythe, die der Aurvandillr-Mythos schließlich suggeriert. Viel geklärt, da anfechtbar, war mit dieser Etymologie aber immer noch nichts.2 Tolkien könnte die etymologischen Spekulationen Muchs gekannt, vielleicht sogar geteilt haben, kreist doch sein Earendil um die Phänomene Glanz und Licht. Insbesondere die strahlende Qualität des Lichtes faszinierte Tolkien, wie Verlyn Fliegers Untersuchung belegt hat, die darauf hinweist, dass Tolkiens ganze Silmarillion-Mythologie auf der Spannung von Wort und Licht beruht.3

Muchs einseitige Priorisierung des altnordischen Lexems aurr als Reflex eines leuchtenden Phänomens, denn dahin zielen seine beiden Deutungen, ist nicht unproblematisch, denn aurr ist semantisch ambivalent.
Jan de Vries denkt im Zusammenhang mit an. aurr in erster lexikalischer Position an:4

  • mit Stein untermischter Sand;
  • Feuchtigkeit, Nässe.5

Mit dieser Bedeutung öffnet de Vries eine Tür, hinter der weitere mysteriöse Mythen warten, deren Interpretation ähnliche Schwierigkeiten machen wie die Aurvandillr-Episode. Eddische Dichtungen scheinen die von de Vries bevorzugte Bedeutung zu bestätigen. Gustav Neckel und Hans Kuhn geben aurr, nasse, schmutzige erde (Ghv.16, Rþ.10, Grt.16); auch bezeichnung der erde (Alv.10).5 In Völuspá 19 (Vsp) steht hvítaauri6 im Zusammenhang mit der Weltachse Yggdrasil, die von weißem nass7 benetzt wird, der als Tau in die Täler fällt. In der entsprechenden Strophe der Vsp. heißt es:

Donnerstag, 26. Oktober 2023

Earendil in der altgermanischen Kultur


[...] das Unvergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr,
und, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.

Richard Wagner

Auf einen dieser mysteriösen, ihn eigenartig berührenden Namen stieß Tolkien schon sehr früh, noch während seiner Tätigkeit als Hochschullehrer in Oxford (1913), im Zusammenhang seiner Studien altenglischer und altnordischer Sprachen an der Honour School of English Language and Literature. Verlyn Flieger fasst die Bedeutung dieses Moments für Tolkiens Werk in wenigen Worten zusammen, wenn sie auch darin irrt, dass Earendil the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction ist, eine Rolle, die auch Frodo Beutlin für sich in Anspruch nehmen kann:

No one familiar with Tolkien´s mythos could mistake the importance of the name Earendel or miss its pervasive presence deep in the fabric of his comology. [...] Earendel is, of course, the half-Elv half-Man savior figure from The Silmarillion who sailed his ship to Valinor in order to plead with the Valar for the rescue of Elves and Men. The resonance of the figure developed over time and underwent considerable change, yet he stands out as the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction.1

In ihrer Studie kommt Verlyn Flieger hinsichtlich der Herkunft des altenglischen Namens Éarendel und dessen Bedeutung für Tolkien zu einer eher pessimistischen Auffassung: But why the name itself was so important and what precisely it meant to Tolkien has never been made clear, perhaps even to him.2 Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist auch, diese Hypothese zu hinterfragen.

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Earendil: Synopsis einer Märchensaga


Es war im Grunde der Anfang von Tolkiens Mythologie.
Humphrey Carpenter

Wie Humphrey Carpenter treffend bemerkt, legte die Persönlichkeit Earendils zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Keim für eine fiktive Mythologie. Earendil ist Tolkiens Figur, der die Rolle übernahm, die Nordische Traumzeit in einer miniaturisierten Eschatologie zu beenden.1 Vorbereitet durch die mythische Funktion Earendils übernehmen die Menschen, die Edain, die Herrschaft über Tolkiens Kosmos Mittelerde. Die unter den Sternen Mittelerdes, in Cuiviénen, an den Wassern des Erwachens, noch vor dem Aufgang von Sonne und Mond, erwachten Eldar (Elben), konnten die primordiale Schönheit der Sternennächte ihrer ersten Tage in den Großen Landen aber nie ganz vergessen. Sie gossen diese Sehnsucht, poetisch formuliert, in einen ihrer schönsten Segensgrüße: Aiya Earendil Elenion ancalima,2 durch den, einem geheimen Kode ähnlich, Mitglieder sozial und politisch verbündeter Kulturen einander erkennen. Earendil begegnet den Leser*innen des Herrn der Ringe zum ersten Mal in Band Eins, Elftes Kapitel von Die Gefährten: Aragorn erzählt den Hobbits, die am Fuß der Wetterspitze lagern, und von Furcht vor den Schwarzen Reitern ergriffen sind, aus den Geschichten der Ältesten Tagen Mittelerdes, und zitiert aus der Genealogie Berens:

Sonntag, 15. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Fazit


Die Natur braucht uns nicht
aber wir brauchen die Natur.

Günter Eich

Die Beziehung des Waldläufers zu seiner natürlichen Umwelt ist durch seine psychiche Verbindung zu seinen beiden Vögeln charakterisiert, die der von Babus Verbindung mit Juhut ähnelt. Wie Juhut sind die beiden Aviar-Vögel Medium, das den Menschen an die Weisheit der Natur bindet. Was Babu noch lernen muss, seine Sazsla selbstbestimmt zu lenken und zu kontrollieren, damit er ihre Fähigkeiten zur Heilung der Welt nutzen kann, beherrscht Dusk von Beginn an.
Dusk steht einer anderen Herausforderung gegenüber als Babu. Seine beiden Aviar repräsentieren externalisierte, psychische Anteile, deren Voraussicht Dusk sich freiwillig untergeordnet hat. Er lässt sich von Kokerlii und Sak leiten, ohne gleichzeitig die Kontrolle an sie abzugeben. Was Babu als einengend und unfrei empfindet, von einem Vogel beeinflusst zu werden, nutzt Dusk als eine Stärke. Er kontrolliert die Vögel, die sich seinem Willen als Extension seines Bewusstseins unterordnen. Muss Babu die Verbindung mit seiner Szasla erst mühsam erwerben, besitzt Dusk seine beiden Aviar als eng mit seinem Bewusstsein verbundene Begleiter.
Auch mit den Sazlas kommt das ökologische Bewusstsein zurück in die bedrohte Welt. Sie erscheinen zur Rettung einer fast zerstörten Welt, während Dusks Aviar ihm nur das Überleben in der Natur ermöglichen; zu deren Rettung tragen sie nicht bei. Sie machen dem Menschen den Zustand seiner Welt nur insoweit bewusst, als sie auf Kommendes hinweisen. Sie sind beide Helfer bei der Bewältigung einer Krise und eröffnen eine neue Perspektive:

Donnerstag, 12. Januar 2023

A Storm Of Swords


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Storm Of Swords [ASOS], Vol.3: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung: Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Sturm der Schwerter, 2001 [LEF 3.1]
Die Königin der Drachen, 2002 [LEF 3.1]

Vorbemerkung

A Storm of Swords [ASOS] ist das dritte der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bücher publiziert sind. Der Publikation des dritten Bandes ging die Veröffentlichung der Erzählung Path of the Dragon (SF-Magazin Asimov´s Science Fiction, Dezember 2000; eine zweite Auflage in The Sword and Sorcery Anthology, David G. Hartwell und Jacob Weisman, Eds., San Francisco, 2012) voraus, die die Daenerys-Targaryen-Kapitel aus ASOS in einem eigenen Buch zusammengefasst erzählt.

A Clash Of Kings


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Clash Of Kings [ACOK], Vol.2: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Der Thron der Sieben Königreiche, 2000 [LEF 2.1]
Die Saat des goldenen Löwen, 2000 [LEF 2.2]

Vorbemerkung

A Clash of Kings [ACOK] ist das zweite der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bände publiziert sind. CloK erhielt, wie schon das erste Buch von Das Lied von Eis und Feuer, mehrere Auszeichnungen und Nominierungen:

  • den Locus Award als bester Fantasyroman, 1999,
  • eine Nebula Award-Nominierung als bester Roman, 2000 und
  • den Ignotus Award als bester fremdsprachiger Roman, 2004.

Montag, 9. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Drei


Air, Fire, Earth and Water
Balance of Change
World on the Scales

[...]
Whilst all around our mother earth
Waits balanced on the scales

King Crimson58

Ökonomie contra Ökologie - Bewahrung contra Fortschritt

Auf den letzten Seiten des ersten Bandes von Zwölf Wasser ist das Thema der Trilogie bereits skizziert. E.L. Greiff liefert in ihrem Roman eine Zivilisationskritik, die der Menschheit bewusst macht, dass sie ihre Welt zerstört. In ihrer Version dieser Katastrophe stehen der hilflos auf ihren Untergang zusteuernden Menschheit Vögel zur Seite, die in ihr Bewusstsein eingreifen, ihnen helfen, sich den Irrweg, auf dem sie sich befinden, bewusst zu machen. In Zeiten der Krise wählen die Szaslas ihren Szasran aus, einen, durch den Ethik der die Alte Zeit spricht.

In der Darstellung des Vogeltopos in Zwölf Wasser klingt das eigentlich ökologische Anliegen dieses Roman erst allmählich an. Die Welt der Zwölf Wasser ist eine bedrohte Welt, die der Heilung bedarf.59 Erst am Ende des zweiten Bandes der Trilogie stürzt Babu, der Held der Erzählung, in eine spirituelle Krise, verstrickt im Kampf mit seinen innerpsychischen Konflikten, der Versuchung des Guten durch das Böse. Auf den letzten Seiten lassen die Leser*innen Babu resigniert zurück. Er droht zu scheitern, für seine Welt fatal. Die Problematik des in King Crimsons Ballade thematisierten balance of change, world on the scales ist auch das Thema von B. Sandersons Zwei-Personen-Novelle, Sixth of the Dusk, die im Vergleich zu E.L. Greiffs Trilogie fast wie ein Kammerspiel anmutet.

Sonntag, 8. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Zwei


Waren fast vergessen,
hätten auch vergessen bleiben sollen.
Die sind kein gutes Zeichen.

E.L. Greiff

Psychic Birds

Die Frage, ob Tiere ein Bewusstsein haben, ist vermutlich so alt wie die Domestizierung des Wolfs durch den Menschen im Paläolithikum. Postmoderne Fantasy-Erzähler thematisieren diese Frage auf ihre Weise, indem sie die Beziehung ihrer Hauptfiguren zu Vögeln in den größeren Zusammenhang ihrer Beziehung zu ihrer natürlichen Umwelt und ihrem kulturellen Überzeugungssystem stellen.
Nicht die dreiäugige Krähe des Grünsehers in G.R.R. Martins Romanzyklus Das Lied von Eis und Feuer markiert den Übergang in der Verwendung der Corviden (Corvidae). Sie entwickeln sich bereits im Verlauf von seines Epos von einem Omenvogel zu einem Vogel, der eine innige Beziehung zu einem Menschen eingeht. Dabei ändert er nicht seine bisherige Funktion für den Menschen, er öffnet ihm vielmehr die Augen für sein eigentliches Potential. Doch trotz anfänglicher Ähnlichkeit erweitert Martin den Vogeltopos im Lied von Eis und Feuer erst allmählich, was mit der Rolle zusammenhängt, die Magie in seiner Erzählung spielt.

Samstag, 7. Januar 2023

A Game Of Thrones


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Game Of Throne [AGOT], Vol.1: A Song Of Ice And Fire, 1996 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung: Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Die Herren von Winterfell, 1997 [LEF 1.1]
Das Erbe von Winterfell, 1998 [LEF 1.2]

Vorbemerkung

A Games of Thrones [AGOT] ist die erste von voraussichtlich sieben Teilen des Epos A Song Of Ice And Fire (ASOIAF), von denen bisher nur die ersten fünf Bände publiziert sind. ASOIAF ist eine mehrbändige epische Saga der realistic fantasy, in der eine dem europäischen Mittelalter nachempfundene Welt mit Figuren bevölkert ist, ein Spiegel der alltäglichen Lebenswelt der Leser*innen. Ursprünglich erzählte der Autor, George R.R. Martin (GRRM), seinen mehrbändigen Roman in zwei aufeinanderfolgenden Trilogien, deren narrative Grenze er irgendwo zwischen den Bänden A Storm Of Swords und A Feast For Crows plante. Inzwischen scheint es so, als ob die ursprüngliche Konzeption im Prozess des Schreibens von innen gesprengt wurde. GRRM entwickelte die Erzählung während des Schreibens kontinuierlich weiter und es gab lange Zeit keine Garantie, welche Entwicklungen die Figuren und welche Wendungen die Ereignisse zukünftig nehmen werden. Dies hat sich mittlerweile durch die serielle HBO-TV-Produktion verändert, die die Erzählung abgeschlossen hat, bevor die beiden letzten Bände des Epos, The Winds Of Winter und A Dream Of Spring, auf die die Fangemeinde weiter warten muss, in Druck gegangen sind.

Donnerstag, 5. Januar 2023

Die Konstruktion sekundärer Welten


. . . looks like science fiction,
has the tastes of science fiction
– it IS science fiction!

Margaret Atwood, Other Worlds, 2010


Wenn etwas nach Fantasy aussieht und auch noch die charakteristische Gestalt besitzt, dann IST es Fantasy. Margaret Atwoods bestechend einfache Bemerkung bringt ein ganzes literarisches Genre auf den Punkt und überlässt die Bewertung der Imaginationsfähigkeit dem Rezipienten. Schon Fritz Leiber hat in seinem phantastischen Werk vorgeführt, dass der von Kritikern und Publizisten geführte Genre-Krieg bedeutungslos ist, indem er die drei Genre des Phantastischen, Science Fiction, Horror und Fantasy, virtuos miteinander kombinierte, sie überlagerte und zu einem Genre des Phantastischen verwob. Ohne sich von den aktuellen Genre-Mix verwirren zu lassen, bringt Margaret Atwood die seit Jahrzehnten geführte Diskussion auf einen überraschend einfachen Punkt: But surely all draw from the same deep well; those imagined other worlds located somewhere apart from our everyday one: in another time, in another dimension, through a doorway into a spirit world, or on the other side of the threshold that divides the known from the unkown. Science fiction, Speculative Fiction, Sword and Socery Fantasy, and Slipstreem Fiction; all of them might be placed under the same large „wonder tale“ umbrella.1

Dienstag, 3. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Eins


Phantasie ist alles.
Sie ist die Vorschau auf die
kommenden Ereigisse des Lebens
.
Albert Einstein

Gegenstand dieser Studie1 sind einige Vögel und deren Bedeutung für die Interaktion des Menschen mit der Umgebung, in der er lebt, die in Texten moderner Fantasy-Literatur eine besondere Bedeutung für die Erzählung besitzen. Entweder erfüllen sie eine bestimmte Funktion für den jeweiligen Plot oder sie gehen eine besonders intime Beziehung zu einer der Hauptfiguren ein. Bei der Durchsicht einiger Texte fallen zwei verschiedene Topoi auf:

  • Vögel überbringen Botschaften, sind vorausschauend und formulieren Prophezeiungen, die für die Protagonisten der Erzählung, die sich an einem Scheideweg befinden, meist von zentraler Bedeutung sind;
  • Vögel agieren als externalisierte, psychische Fähigkeiten des Protagonisten, repräsentieren ausgelagerte Ich-Funktionen, und bedienen sich innerpsychischer Prozesse als Medium ihrer Warnungen, Botschaften oder Prophezeiungen.

Montag, 2. Januar 2023

Übergänge, Portale, Gewirre


Er reiste jetzt auf einem dieser Pfade, einem Strang aus Nichts,
umschlossen von den eigenen Zuwächsen des Gewirrs,
sich windend und beladen mit Unvereinbarkeiten.
Auf einem Pfad wünscht er sich vorwärts und stellte fest,
dass er sich rückwärts bewegte
.1
Steven Erikson

Vorbemerkung

Absicht dieser sehr speziellen Studie ist es, Ordnung und Verständnis in das "Gewirr" eines narrativen Motivs zu bringen, dass in der Fantasy schon immer gerne benutzt wurde: das Motiv des Portals in einem unkonventionellen Gewand. Im Auftakt der mehrbändigen Serie Das Spiel der Götter2 verwendet Steven Erikson das Motiv des Gewirrs als ein zentrales magisches System. In den Sturmlicht-Chroniken entwirft Brandon Sanderson eine vergleichbare Magie, die auf der Ur-Substanz Adonalsium basiert: die verschiedenen Arten des Peitschens und die Inkorporation von Sturmlicht. In der Serie um das Geheimnis von Ji verwendet Pierre Grimbert ein Magiesystem, das Energie aus dem eigenen Körper des Magiers oder aus Gegenständen der Umgebung bezieht. Die Gewirre, die Steven Erikson erdacht hat, funktionieren auf die gleiche Weise: Immer nutzt und manipuliert der Magier eine Quelle, die ihm die Energie für seine magischen Rituale und Praktiken liefert.3
Steven Erikson macht es seinen Leser*innen nicht unbedingt leicht den Charakter und die Bedeutung dieses Systems zu erkennen, da er die dazu notwendigen Informationen über den ganzen Roman verteilt. Er stellt dem Leser keinen homodiegetischen Protagonisten oder auktorialen Erzähler zur Seite, der einleitend und zeitnah rationale oder strukturierende Hilfen für seine Fantasy anbietet, sondern mutet dem Leser mysteriöse und komplizierte Prozesse und Ereignisse zu, wie sie das einführende Zitat vorwegnimmt. Leser*innen müssen sich selbst das Bild zu machen, das die Protagonisten nur allmählich und immer nur bruchstückhaft erleben. Mein Kommentar zu den Gärten des Mondes beabsichtigt, was die Gewirre betrifft, ein umfänglicheres Verständnis aus dem Roman heraus zu destillieren.

Freitag, 30. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Vier


Tolkien ist Mythograph, und gleichzeitig Linguist, Historiker, Geograph, Ethnologe und Theologe. Sein Werk verfolgt die Komposition und Konzeptionalisierung einer ganzen Kosmologie und Weltanschauung. Seine Texte nähern sich anthropologischen Studien und Monographien: Sie laden zu genauer Lektüre in literaturkritischer Absicht ein. Seine Erzählungen und Essays knüpfen an die kognitive, diskursive Ethnologie an, nach der Kultur im eigentlichen Sinne Sprache ist, über Sprache entsteht und sich über diese in die Zeit hinein entfaltet. Die Besonderheit von Tolkiens Vorgehen besteht in seiner Arbeitsweise: im ersten Schritt entwirft er einen artifiziellen Kosmos, den er in einem zweiten Schritt entdeckt und im dritten zu erforschen beginnt. Während des Forschens und Schreibens dehnte sich diese Welt aus, geriet ihrem Schöpfer zu einem nicht endenden Prozess, der nicht abgeschlossen wurde. Diese Auffassung hängt sehr eng mit Tolkiens Bekenntnis zum Katholizismus, mit seiner Art zu glauben, zusammen. In einem Gespräch mit Tolkien vertrat C.W. Lewis die These, Mythen seien durch Silber geblasene Lügen. Ich wiederhole diese Auffassung gerne, denn sie trifft ins Zentrum von Tolkiens Schaffen, der in seiner Erwiderung den Mythos rehabilitiert:

[...] obwohl sie den Irrtum enthalten, zugleich einen Funken des wahren Lichts spiegeln, der ewigen Wahrheit, die bei Gott ist. Ja, nur indem er [der Mensch] Mythen schafft, indem er »nach-schöpferisch« wird und Geschichten erfindet, kann der Mensch sich dem Stand der Vollkommenheit nähern, den er vor dem Sündenfall gekannt hat. Unsere Mythen mögen irregeleitet sein, aber sie steuern, wenn auch noch so unsicher, auf den rechten Hafen zu, während der materialistische »Fortschritt« nur in den gähnenden Abgrund und zur Eisenkrone des Bösen führt.115

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Drei


Der Versuch, Tolkiens fiktionale Mythologie zu entschlüsseln, ermöglicht dem Leser einen tieferen Einblick in die fiktive Mythologie und Geschichte der vier Zeitalter von Mittelerde. Sehr lohnend ist der Nachweis jener Quellen, denen Tolkien seine hauptsächlichen Inspirationen verdankt. Bei dieser Fahndung stößt man auf die mythologischen Fundamente der nordeuropäisch-germanischen Kultur, die dem deutschen Leser heute kaum noch bekannt sind. Dabei stehen poetische Werke wie die Edda, die Völsunga saga, die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, die isländische Sagaliteratur, das angelsächische Heldenepos Beowulf sowie die finnische Kalevala und das keltisch-walische Mabinogion im Vordergrund der Betrachtung. Die in diesen Dichtungen versammelten Götter- und Heldensagen, Spruchweisheiten und weltanschaulichen Konzepte, überliefern, von christlichem Einfluss nicht völlig unbeeinflusst, das autochthone, kulturelle Fundament des vorchristlichen Nord- und Mitteleuropas. Tolkiens besonderes Augenmerk galt dem nordeuropäischen Heldentopos, und dessen tragischen Verstrickungen, thematisiert in den Biographien seiner vier großen Heldengestalten, Beren, Túrin, Tuor und Aragorn, die er auf einer fiktiven Basis gestaltete.

Donnerstag, 22. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Zwei


Die aufwendige Verfilmung von Der Herrn der Ringe, rückt das Werk von John Ronald Reuel Tolkiens erneut in das Bewusstsein und Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dass Tolkiens erzählerisches Werk aber weitaus mehr darstellt, als seine beiden erfolgreichen Romane, Der Hobbit und Der Herr der Ringe, bleibt, wie so oft, unberücksichtigt. Beide Bücher lassen zwar die Vielfalt tolkien`schens Erfindungsreichtums ahnen, doch sie befriedigen die Neugier und Wissensdurst des Lesers keineswegs. Geschickt bedient sich Tolkien der Kunst der vagen Andeutung, was Plot und Spannungsbogen seiner Erzählweise nutzt, dem Leser aber vieles vorenthält. Es lässt sich trefflich streiten, ob die Enthüllung des narrativen Hintergrunds den beiden Romanen schadet, oder ob es nicht lohnender für deren Verständnis ist, den ganzen Tolkien zu entdecken. Es gibt mindestens zwei Gründe, den Umfang und die Dichte der tolkien`schen Erzählungen auszuloten

  • Der Roman Der Herr der Ringe ist Bestandteil und Höhepunkt einer komplexen fiktiven Mythologie, die sich auf einem mythistorischen Hintergrund entfaltet, der 1918 mit den Erzählungen der Verschollenen Geschichten begann. Tolkien hat seinen Roman als einen integralen Bestandteil einer Mythologie verfasst, deren Umfang erst 1977 deutlich wurde, Jahrzehnte nach seiner ersten Veröffentlichung, und auch erst nachdem sein Sohn Christopher Das Silmarillion aus den Verschollenen Geschichten löste, kompilierte und postum publizierte.
  • Eine kommentierende Übersicht über das narrative Werk von J.R.R. Tolkien ist in Deutschland inzwischen überfällig, insbesondere da die umfangreiche wissenschaftliche Sekundärliteratur den deutschsprachigen Lesern Tolkien nicht leicht zugänglich ist.

Samstag, 17. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Eins


Und so wie das Sprechen ein Erfinden in Bezug auf Objekte und Ideen ist,
so ist der Mythos ein Erfinden in Bezug auf die Wahrheit
.1

I didn´t say in the same way, said Jeremy.
There are secondary planes or degrees
2.

»Rings um euch liegt die weite Welt:
Ihr mögt euch einzäunen, aber euer Zaun wird
sie nicht fernhalten.«
3

Christopher Tolkien und Humphrey Carpenter bezeichnen Tolkiens Texte wiederholt als Mythologie. Aber auch Tolkien selbst verwandte diese Bezeichnung für sein Werk, als er davon sprach, eine Mythologie für England schaffen zu wollen.4
Meines Erachtens trifft dieser Terminus das, was die moderne Literaturwissenschaft als phantastische Literatur bezeichnet nicht ganz, obwohl Tolkien sicherlich als Diskursivitätsbegründer gelten kann: als die „Mutter“ aller rezenten epischen High-Fantasy.5 Wenn Tolkiens Bemühen in der Schaffung einer Mythologie lag, dann schwebte ihm sicherlich eine Heldenmythologie, eine Heldenepik, wie der altenglische Beowulf vor.
In seinen alliterierenden Versdichtungen näherte er sich dem altenglisch-eddischen Heldenlied. Treffender ist es aber, den größten Teil der Texte Tolkiens als literarische Erzählungen zu bezeichnen, vergleichbar denjenigen der nordischen Sagaliteratur.6 Für seine narrativen Texte konzipierte Tolkien in seinen künstlichen Sprachen Quenya [Q] und Sindarin [S] einen eigenständigen Terminus, der diesen Sachverhalt beleuchtet: Q nyár-, erzählen, berichten.7 Auch die Earendil-Erzählung, deren Thema sich in die altnordische Mythologie verzweigt, steht, so wie Tolkien sie erzählt, der Saga näher als der Mythologie, der Tolkien den Impuls zu diesem Thema verdankt.8 Die philosophische Ebene, die der narrativen Ebene unterliegt, behandelt die großen mythologischen Themen: Tod, Wiedergeburt und das Schicksal der Kulturen Mittelerdes. Eng damit verknüpft sind Betrachtungen über Sterblichkeit und Ewiges Leben, ein Thema, das Tolkien als Große Flucht formuliert, die einst über den Geraden Weg (The Straight Road) führte, den die Angst der Menschen vor dem Tod schließlich krümmte. Dass Kritiker für Tolkiens Werk schon früh den Vorwurf des Eskapismus bemühten, darauf werde ich noch näher eingehen. Eine genauere Differenzierung macht allerdings deutlich, dass das Gegenteil wahr ist. Im seinem Essay Über Märchen bekennt sich Tolkien offensiv zum Märchen als eskapistischer Literatur und als Fluchtweg. In der Flucht, die für ihn weder verwerflich noch anstößig ist, sieht er die eigentliche Funktion des Märchens: