Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.
Mark Twain
Wenn wir lesen, erfreuen wir uns nicht nur an den Worten des Autors, wir kommunizieren mit seinem Verstand (Martin Amis, The War Against Cliché, 2001). Geht es dabei um phantastische Literatur, ganz allgemein um Fantasy, dann nehmen wir an seinen Träumen, Visionen und an seiner Imagination teil. Aber auch an seiner Originalität, seiner Weltsicht und in gewisser Weise auch an seiner Ver-Rücktheit. Wie Tassen, die in einem Schrank aus ihrer Ordnung gerückt werden, so verrückt ein Autor phantastischer Texte die Perspektive des Lesers auf dessen Realität und Gegenwart. Da Träume und Visionen ins Unendliche reichen, sind die Gründe der Phantasie nur dort unauslotbar.
Erzählungen der Fantasy-Literatur handeln von uns allen. Der Autor phantastischer Texte ergreift in ihnen die Gelegenheit, was eine eine historische Realität nicht tradiert, zu ergänzen, Mythenabbrevationen auszuformulieren oder für unmöglich Gehaltenes, übernatürlich zu erklären. Fantasy-Texte behandeln die andere Seite der Vernunft, spiegeln Themen, die archetypisch, magisch und innerpsychisch verortet sind. Die Welt der Träume, Visionen, Wünsche und Passiones, die Atmosphären des Unheimlichen und Erschreckenden, des Numinosen und Spirituellen. Fantasy-Autoren erzählen in ihren Texten von der anderen Seite des Menschen, die in den Schatten des Rationalismus und Materialismus der Aufklärung und der Tyrannei des Verstandes geraten ist. Sie verhelfen einer sekundären Realität zurück in die Wahrnehmung, indem sie einen Gegenentwurf zu aktuellen persönlichen, sozialen und politischen Themen in einer literarischen Form präsentieren, die aus Unbewusstem schöpft und an Unbewusstes appelliert.
Die Poetik des Aristoteles untersuchte zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit den Zusammenhang zwischen der Technik des Geschichtenerzählens und der emotionalen Erfahrung des jeweiligen literarischen Genres. In seiner Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie erkannte Aristoteles, dass eine bestimmte narrative Technik ein bestimmtes Erleben verursacht. Diese emotionale Erfahrung nannte Aristoteles oikea hedone, das charakteristische oder gemäße Vergnügen. Fantasy-Erzählungen bieten dem Leser dieses charakteristische Vergnügen. Sie geben ihm die Möglichkeit der Imagination des Autors in eine andere Welt zu folgen und Mitgefühl, Glück, Angst und Tod, Identifikation und Katharsis, zu erleben. Worte und Sätze, zu Erzählungen verbunden, erzeugen eine visuelle Realität, die der Leser in seiner Fantasie miterschafft. Die eigentliche Kunst des Erzählers besteht darin, dass er diese Welt, die grüne Sonne, wie Tolkien sie nennt, in seinen Texten glaubhaft macht:
Um eine Sekundärwelt zu schaffen, in der die grüne Sonne glaubhaft ist, nämlich einen Sekundärglauben erzwingt, bedarf es vermutlich einiger Mühe und Überlegung, gewiß aber einer besonderen Fertigkeit, einer Art Elbenkunst. Nur selten wird so Schwieriges überhaupt versucht. Wird es aber versucht und gelingt auch nur einigermaßen, so erleben wir etwas höchst Seltenes: die Kunst des Erzählens, des Geschichtenerfindens in ihrer ursprünglichsten und mächtigsten Form. Verzauberung erschafft eine Sekundärwelt, in die sowohl Schöpfer als auch Betrachter eintreten können, zur Zufriedenheit ihrer Sinne, solange sie darinnen sind; in ihrer reinsten Form aber ist Verzauberung nach Zweck und Bestreben eine Kunst (Über Märchen, Die Ungeheuer und ihre Kritiker, Gesammelte Aufsätze, Stuttgart, 1987:190).
Fantasy-Autoren, die ihr Handwerk beherrschen, sind Meister der Fantasie und des imaginativen Erzählens, Konstrukteure sekundärer Welten, die Leser*innen zu angenehmer Unterhaltung in ihre Schöpfungen entführen. Es beginnt mit einer Idee, zuerst flüchtig, vage, ganz im Geistigen, fast noch Intuition. Dann beginnt das Aufschreiben, unsicher, tastend, nach Worten und Richtung suchend. Am Anfang ist noch nicht deutlich, wohin der Entwurf führt. Noch gibt es kein Ziel, keine Vorstellung einer kohärenten Erzählung. Zuerst ist da nur der Versuch, die Lust zu improvisieren, dem Diskurs allmählich Richtung und Gestalt zu geben. Ich mache mich auf den Weg, der Erzählung eines anderen ihren Ort in der Wirklichkeit zu schaffen. J.R.R. Tolkiens Metapher der grünen Sonne ist Leitmotiv und Programm dieses Blogs.
Blogbeiträge
- Autor des Jahrhunderts
- Tim Powers und der Steampunk
- Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Eins
- Im Inneren der Sprache
- Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Zwei
- Kote und Kvothe: Die Königsmörder-Chronik von Patrick Rothfuss
- Initiation und Individuation in postmoderner Fantasy
- Das Konzept der Silmaril
- Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Drei
- Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Vier
- Übergänge, Portale, Gewirre
- Kruppes Träume
- Night of Knives - A Novel of the Malazian Empire
- Omenvögel und Psychic Birds - Teil Eins
- Zeitsprung, Blutmagie, Gestaltwandel
- Die Konstruktion sekundärer Welten
- A Game Of Thrones
- Omenvögel und Psychic Birds - Teil Zwei
- Omenvögel und Psychic Birds - Teil Drei
- A Clash of Kings
- A Storm of Swords
- Die Kinder Húrins
- Mein Name ist Kvothe!
- Omenvögel und Psychic Birds - Fazit
- Tolkiens Theorie des Muts
- Hollywoods unzuverlässige Erzähler
- Earendil: Mythos oder Märchensaga?
- Earendil: Synopsis einer Märchensaga
- Das Antltz Chirons
- Tolkiens Earendil-Saga, Teil 1: Earendil in der altgermanischen Kultur
- Tolkiens Earendil-Saga, Teil 2: Die semantische Ambivalenz von altnordisch aurr
- Tolkiens Earendil-Saga, Teil 3: Altgermanische Katasterisationen
- Tolkiens Earendil-Saga, Teil 4: Vom Urbild des Seefahrers zum Botenstern
- Tolkiens Earendil-Saga, Teil 5: Earendils letzte Fahrt
- A Feast for Crows
- Das letzte Licht der Sonne
Die Liste der Blogbeiträge wird kontinuierlich ergänzt!
Copyright 2014-2024. All Rights Reserved
Alle Texte des Weblogs Grüne Sonnen sind urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalt dürfen nur zum privaten Gebrauch kopiert und verwendet werden.
Jegliche unautorisierte gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen