Mittwoch, 4. Oktober 2023

Das Antlitz Chirons


Die astrologische Reflexion einer archaischen Signatur

Leider bekommen wir in der Schule nur einen ganz
armseligen Begriff von dem Reichtum und der ungeheueren Leichtigkeit
der griechischen Mythologie. All jene Gestaltungskraft,
die der moderne Mensch auf Wissenschaft und Technik verwendet,
hat der antike seiner Mythologie gewidmet
.
Carl Gustav Jung

Die Diskussion um den Kleinplaneten Chiron hat mittlerweile eine erstaunlich naive Einseitigkeit erreicht, die sich weder mit dem Archetypus, den Chiron eigentlich repräsentiert, noch mit den antiken Quellen und Mythologien vereinbaren lässt.1 Nachdem Melanie Reinhart ihn zum verletzten Heiler stilisierte,2 ist er durch die neueste Monographie der inflationär werdenden Chiron-Literatur zur innerpsychischen Stimme eines fiktiven inneren Lehrers,3 gar zu einem Seelenführer,4 geworden. Während für die griechische und römische Antike Hermes-Merkur die Rolle des Psychopomps ausfüllte, war ihnen die Stimme des Gewissens ein palladisches Numen, personifiziert insbesondere in der kopfgeborenen Tochter des Zeus, Pallas Athene, der römischen Minerva oder christlichen Sophia. Erst ein dekadentes, römisches Sublimationsbedürfnis verwandelte den affektgeleiteten, triebhaften und wild- archaischen Kentauren Chiron in die Gestalt, welche die moderne Astrologie gerne in ihm sehen möchte: den kultivierten Philanthropen, Phytotherapeuten und Menschenfreund, der in stoischer und bewundernswerter Gelassenheit die ihm zugefügten Kränkungen und Verletzungen erduldet. Erst in dieser Verfremdung, die kaum noch etwas mit Chirons Ursprung zu tun hat, taugt er uns Nachgeborenen als eine Ikone, die hell am astrologischen Himmel des Jahrtausendwechsels strahlt, um dem heutigen, zunehmend orientierungslos werdenden Menschen als Projektionsfläche eigener traumatischer Befindlichkeit zu dienen.
Die Diskussion um die symbolische Bedeutung des Kleinplaneten Chiron für die astrologische Horoskopdeutung hat sich inzwischen auf zwei Themen verständigt: Auf der einen Seite betrachtet sie Chiron als den verletzten Heiler, andererseits untersucht sie Chirons Bedeutung mit Bezug auf seinen Bahnverlauf zwischen Saturn und Uranus – die Halbsumme Saturn / Uranus gilt vielen Astrologen als chironischer Punkt des Horoskops.5
In meiner Studie Lichtträger in dunkler Zeit habe ich das Dilemma Chirons, die Spaltung zwischen Körperlichkeit (Instinkt) und Spiritualität, zwischen Materie und Geist, beispielhaft für die Biographie des Jugendalters beschrieben.6 Wenn überhaupt möglich, so besteht die Heilung des chironischen Dilemmas in der Versöhnung und Wiedererlangung der Ganzheit menschlichen Erlebens, die irdische, physische Triebe und Bedürfnisse mit der Sehnsucht nach Transzendenz und dem Göttlichen aussöhnt.7 Das astrologische Symbol Chiron steht für das Paradoxon, mit der nur schwer anzuerkennenden Wahrheit, scheinbar unvereinbarer Gegensätze leben zu müssen – gleichzeitig frei und unfrei, liebevoll und von Hass erfüllt zu sein. Chirons Dilemma ist bei genauem Hinsehen genau der Scheingegensatz, den unsere Kultur zwischen Geist und Materie konstruiert. Mit anderen Worten: Der Mensch ist Materie und Geist, steht dem Geistigen aber auch als Person emanzipiert gegenüber. Astrologisch gesehen konfrontiert Chiron den Menschen mit diesem Paradoxon, indem er das Unvollkommene und das Heile, die Ressourcen, Fähigkeiten und Schwächen spiegelt, die das reflektierende Erleben als gleichzeitig wahrnimmt. Den meisten Menschen ist die Ablehnung dieses Paradoxon chironischer Schmerz. Das Sichtbarwerden eines neuen Himmelskörpers, bemerkt Howard Sasportas, kündigt einen Bewußtseinswandel in der Gesellschaft an und spiegelt epochemachende historische Entwicklungen wider.8 Als Projektion des noch unbewussten, ermöglicht auch die Entdeckung Chirons die Bewusstwerdung psychischer und geistiger Inhalte, ein Prozess, dessen Rezeption meist mit Verwirrung und Verunsicherung einhergeht. Dies spiegelt auch die noch in Kinderschuhen gehende astrologische Arbeit mit dem Kleinplaneten Chiron, und vor allem die inzwischen umfangreiche Literatur, die sich mit der astrologischen Relevanz Chirons auseinandersetzt.9 Ordnet man die Standpunkte und Überzeugungen der aktuellen Chiron-Diskussion, so fällt es äußerst leicht, sich dem Urteil von Wilfried Schütz anzuschließen: Das Deutungspendel, schreibt er, schlägt inzwischen stark in Richtung Überbewertung aus. Denn wenn wir dem Kentauren die Rolle des Heilers schlechthin zuordnen, geraten wir mit Neptuns Aufgabe über Kreuz.10 Liz Greene weist kritisch darauf hin, dass der weitaus größte Teil der Chiron-Literatur manchmal unglaublich naiv ist.11 Meine Studie greift diese Kritik mit einer gründlichen Auseinandersetzung über den mythologischen Chiron auf, einerseits, um die Rede vom »verletzten Heiler« aufzuklären, andererseits, um seine eigentliche Funktion im griechischen Mythos sichtbar zu machen. Auch wenn Wilfried Schütz vehement für Neptuns Rechte eintritt, darf er nicht so weit gehen, Chirons Kompetenz als Heiler völlig in Frage zu stellen.12 Allerdings, und darin liegt das Ziel dieser Untersuchung, ist Chiron mit einer besonderen Art der Heilung verbunden, die sich von Neptuns Aufgabe, besonders durch die Bewusstheit ihrer Wirkung, unterscheidet.

Anmerkungen

1 Griech. Cheiron; lat. Chiron. Etymologisch ist die Bedeutung des Namens ambivalent (vgl. die ausführliche Argumentation in Robert von Heeren und Dieter Koch, Pholus. Wandler zwischen Saturn und Neptun, Mössingen, 1995:108-110.). Die Übersetzung, einer, der Hände hat oder einer, der seine Hände zu gebrauchen weiß, die Liz Greene vorschlägt (Abwehr und Abgrenzung als positive Dimension des Lebens und die Entsprechungen im Horoskop, Mössingen, 1998:230), ist unbegründet; auch der Zusammenhang von Chiron und Hand (griech. cheir) und die Begriffe Chirug, Handwerker, Chiromantie, Handlesekunst sind sprachwissenschaftlich in diesem Zusammenhang nicht verifizierbar. Auch Eric Francis Coppolino beruft sich auf diese nicht verifizierbare Hand-Etymologie (Chirons Besuch. Wohin führt uns der heilende Lehrer? in: Mercur 5, 1998:2). Jean Gebser führt in Ursprung und Gegenwart (Teil 1, München, 1973:190) eine im Kontext dieser Studie bemerkenswerte Etymologie des Wortes Cheiron / Chiron ein, auf die ich weiter unten eingehe. Die Entscheidung für die lateinische Nomenklatur, Chiron statt Cheiron, folgt astrologischer Übereinkunft.
2 Melanie Reinhart, Chiron – Heiler und Botschafter des Kosmos, Wettswil, 1993.
3 Pablo Grimaldi, Chiron, der innere Lehrer. Entwicklungsaspekte im Horoskop, Mössingen, 2000.
4 Pablo Grimaldi, Seelenführer, in: MerCur 2, 2000:22ff.
5 In seinem Perihel kommt Chirons Bahn allerdings auch der des Jupiters so nahe, sodass man Chirons Beziehung zu Jupiter – insbesondere hinsichtlich der Frage der Herrschaft – nicht vernachlässigen darf. Für den Zusammenhang Chiron, Jupiter und Schütze vgl. Herbert W. Jardner, Lichtträger in dunkler Zeit. Jupiter und Chiron als Herrscher im Schützen.
6 Siehe Anm. 5.
7 In welchem Lebensbereich (Haus) dies möglich ist, darauf weist die Hausposition Chirons im Radixhoroskop hin. Dieser ist ebenfalls zu entnehmen, wo dieser Konflikt am deutlichsten spürbar ist.
8 Howard Sasportas, Astrologische Häuser und Aszendenten, München, 1987:514.
9 Es scheint inzwischen fast vergessen, dass Howard Sasportas schon 1985, in seinem Buch The Twelve Houses, auf die Deutung der Chiron-Position im individuellen Horoskop einging. Dort beschrieb er wohl als einer der ersten die Kriterien, auf denen die Chiron-Interpretation inzwischen beruht: Schamanismus, die chironische Verletzung, die Spannung zwischen Instinkt und Geist, die Art der Heilung sowie Chirons Bezug zur Psychotherapie (deutsche Ausgabe: Astrologische Häuser und Aszendenten, S.514-526). Ausführlich zur astrologischen Bedeutung Chirons: Melanie Reinhart, Chiron, 1993; Verena Bachmann,Chiron – der verwundete Heiler, in: Astrologie Heute 42, 1994:12 und 43, 1994, S.16; Robert von Heeren und Dieter Koch, Pholus. Wandler zwischen Saturn und Neptun, Mössingen, 1995:85-132; Otto Johannes Schmidt, Chironische Persönlichkeiten in wichtigen Lebensphasen, in: Meridian 2, 1996:38; Robert von Heeren, Nessus, der dritte Kentaur. Wie Astronomen und Astrologen kooperieren, MerCur 4, 1997; Coppolino, Chirons Besuch, S.22; Daniela Kosten, Der Auftritt von Chiron und Lilith auf der astrologischen Bühne, in: Astrologie Heute, 71, 1998:16-17; Eva Stangenberg, Chiron, der »verwundete« Heiler, in: Meridian 4, 1998; Greene, Abwehr und Abgrenzung, S.225-275. Koku von Stuckrad, Chiron und die Deutschen, in: Meridian 6, 1999:24; Eva Stangenberg, Anders als die Anderen. Wie Chiron uns dennoch heilt, in: MerCur 6, 1999:17; Alexandra Klinghammer, Der Chiron/Pluto-Zyklus, in: Astrologie Heute 82, 1999/2000:20.
10 Wilfried Schütz, Jupiters Pferdefuß. Chiron: Warum er mit dem Schützen zu tun hat? in: MerCur 5, 1997:17-20.
11 Greene, Abwehr und Abgrenzung, S.229.
12 Zu voreilig kommt Wilfried Schütz zu dem Schluss: All diese Überlegungen zeigen, dass Chiron nicht der Signifikator für das Heil und den Heiler (Arzt, Heilpraktiker) sein kann, wie dies auch schon die Untersuchungen von H.H. Taeger zeigten. Die Heilkraft in uns, die Energie, die uns zur eigenen Mitte (media, Medizin, Meditation) führt, symbolisiert sehr eindeutig Neptun – und hat wenig mit Chiron zu tun (Jupiters Pferdefuß, S.20).

Chiron in der griechischen Mythologie

Die Frage, wer Chiron war, beantwortet der griechische Mythos in vier Kapiteln: Er überliefert die Geburt Chirons, berichtet von seiner Verletzung durch Herakles, charakterisiert ihn als Erzieher und viel Wissenden und stellt schließlich seine Heilung (Erlösung) durch ein besonderes Opfer dar.13 Chirons Geburt, und damit seine soziale Identität, umweht ein Geheimnis, das die überlieferten Mythen nicht unmittelbar offenbaren. Liest man die Mythen oberflächlich und missversteht ihre symbolische Bildsprache, so erscheint Chiron in extremer Ambivalenz, deren Spannung sich besonders in der Unterschiedlichkeit der griechischen und römischen Überlieferung äußert: Seiner Gestalt nach ist er ein Kentaur, wild, triebhaft, gewalttätig und unzivilisiert, ein abstoßendes Mischwesen; seinem Wesen nach ist er ein Gott, unsterblich, weise, ein Freund und Helfer der Menschen, auf jeden Fall aber von sanfterem Temperament als seine Artgenossen. Was Chiron von den anderen Kentauren unterscheidet ist, um einen psychoanalytischen Begriff zu verwenden, seine Fähigkeit zur Sublimierung.14 Die griechische Mythologie erzählt die Geburt Chirons in zwei Versionen: Einmal berichtet sie, dass Kentauros, der Sohn des Ixion, der Vater aller Kentauren war, die er mit den Stuten Magnesias zeugte.15 Chiron war einer von ihnen, wurde aber aufgrund seiner Weisheit schließlich zu ihrem Priester oder König. Seiner Herkunft nach war Chiron zwar einer der Söhne des Kentauros, den anderen Kentauren aber sozial und politisch überlegen. Robert von Ranke-Graves wertet diesen Mythos als Reflex historischer Ereignisse. Die Kentauren, so vermutet er, waren die kriegerischsten unten den Pelasgern von Magnesia, die das Pferd kultisch verehrten. Unter ihrem Sakralkönig Cheiron verbündeten sie sich mit den Achäern, und zogen mit diesen gegen die Lapithen Nordthessaliens.16 In die Mythologie ist diese Schlacht als der Lapithenkampf eingegangen, eine Erzählung, in der es um den Streit um das Erbe des Ixion geht, denn Lapithen und Kentauren führten ihre Herkunft auf ihn zurück. Diese Überlieferung spricht geradezu exemplarisch von der Wildheit und Unzivilisiertheit der Kentauren, während sie die Lapithen als höherstehende Kultur beschreibt. Nach erbittertem Kampf erhalten die Kentauren den Berg Pelion als Siedlungsraum. Während einer Hochzeitsfeier der Lapithen brechen die Kentauren den Frieden, entführen und vergewaltigen lapithische Frauen im Rausch und verlieren in den folgenden Auseinandersetzungen das Pelion-Gebiet als Wohnstatt. Diese Lesart der Chiron-Mythologie berücksichtig, wie es auch Ranke-Graves macht, soziale und politische Impliationen dieser Überlieferung. Georges Dumézil fokussiert auf soziale und religiöse Motive. Er vermutete schon früh, dass sich das mythische Motiv der teilweise theriomorphen, teilweise anthropomorphen Kentauren auf die Fruchtbarkeit von Mensch und Tier bezieht. Er geht auch davon aus, dass sie den Erfolg von Heiraten gewährleisten, weist dabei auf die römischen Lupercalien hin, das Hauptfest des römischen Herdengottes Faunus (Pan). Dionysos und seine Bakchen gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass die Hochzeitsfeier der Lapithen, die die Kentauren so rüde stören, ein missverstandenes Ritual darstellt. Wie dem auch sei. Seit Hertha von Dechends epochalen Opus Magnum Hamlets Mühle weiß man, dass Mythologeme und Mythen ein symbolisches Überlieferungsinstitut bilden, eine wissenschaftliche Terminologie sozusagen, nicht selten ein esoterisches Vokabular, die der Tradierung von kulturrelevantem Wissen dient. Kurz gesagt: Götter und Helden sind Sterne, ein Schicksal das der Mythos auch für Chiron bereithält.[*]

[*] Georges Dumézil, Le problème des Centaures: étude de nythologie-comparée indo-européenne, Annales du Musée Guimet, vol.41, Paris,1929. S.a. Scott Littleton, The New Comparative Mythology. An Anthropological Assessmant of the Theories of George Dumézil, University of California Press, 1973.

Die bekannteste Version von Chirons Herkunft berichtet von göttlichem Handeln: Seine Eltern, der Titan Kronos und die Okeanide Philyra, werden beim Liebesakt von Kronos Gemahlin Rhea überrascht.17 Um seinen Ehebruch zu tarnen, verwandelte sich Kronos in einen Hengst, sein Sohn Chiron wird in einer Gestalt, halb Mensch und halb Pferd geboren. Chiron, ein Titan und Halbbruder von Zeus, Poseidon und Hades; dies erklärt seine Unsterblichkeit. Philyra und Chiron zogen sich nach Kronos Flucht, die deutlich seine Weigerung, seinen unehelichen Sohn anzuerkennen, zum Ausdruck bringt, in eine Höhle auf das Pelion-Gebirge zurück. Zusammen mit seiner Mutter und seiner Frau, der Quellnymphe Chariklo, seinen Töchtern sowie einer größeren Zahl von Musen und Wassernymphen verbringt Chiron sein Leben, abgeschieden von der Welt in dieser Höhle. In einer abweichenden Version überlässt Philyra Apollon ihr Kind, über die Gestalt des Mischwesens entsetzt, und wird vom mitfühlenden Zeus in eine Linde verwandelt.18 Von Apollon in Musik, Divination, Kriegs- und Jagdmagie sowie der Heilkunst unterwiesen, entwickelt sich Chiron zu einem berühmten Heiler und Pädagogen, der in seiner Höhle die Helden der griechischen Antike auf ihr heroisches Leben vorbereitet.
Chiron betritt die Bühne der griechischen Mythologie als Halbwesen: bis zu den Hüften steckt er im Körper eines Pferdes. Allein schon Chirons Gestalt stellt unwillkürlich die Frage, wie ein unsterblicher Halbgott, denn ein solcher ist Chiron aufgrund seiner Abstammung, in diese Situation geraten ist. Die Bedeutung des Pferdes im prähellenischen Griechenland beantwortet ein weiteres Detail der Herkunft Chirons, den die Mythologie als Titanenspross und vorolympischen Gott vorstellt. Melanie Reinhart ist diesem Zusammenhang auf der Spur, wenn sie den berechtigten Zusammenhang zwischen Chirons Pferdegestalt und dem schamanistischen Einweihungsritual aufgreift.19 Die Kentauren um Chiron sind Mischwesen, halb Pferd, halb Mann. Robert von Ranke-Graves vermutet, dass die Kentauren »historisch« aufgefasst werden müssen. Damit meint er nicht, dass diese Mischwesen wirklich gelebt haben. Sein Hinweis auf die Verehrung des Pferdes, ihm gemäß durch die »Kentauren von Magnesia«, in denen er die prähellenischen Pelasger sieht,20 die zur Zeit der indoeuropäischen Migration in der Ägäis eine frühe europäische Pferdeart domestizierten, ist allerdings zielführend: Die Kentauren unter ihrem Sakralkönig Cheiron hießen die Achäer als Bundesgenossen gegen ihre Feinde, die Lapithen aus Nordthessalien, willkommen.21 Von Ranke-Graves These orientiert sich an einer kultischen Verehrung des Pferdes wie sie für prähellenische Kulturen oder die Reiternomaden der zentralasiatischen Steppen belegt ist. Hat die griechische Mythologie die Erinnerung an die Kentauren als Pferdemenschen aufgrund bestimmter, weitgehend vergessener Riten eines schamanistischen Pferde- oder Jagdkultes bewahrt, die man sich dann zwangsläufig nur in einer ambivalenten Gestalt vorstellen konnte? Oder ist die Behauptung antiker Autoren wahrscheinlicher, dass die Vorstellung des Kentaurs mit der Migration indoeuropäischer Reiternomaden in Griechenland in Verbindung gebracht werden muss, das Pferde zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte? Wer, oder was, sich hinter Chiron, dem »König der Kentauren«, verbirgt, lässt sich vielleicht ansatzweise fassen, folgt man Hertha von Dechends These, Götter sein Sterne, und denkt dabei auch an Sagitarius, das Sternbild des Schützen; ein Mythologem, das sich in symbolischen Bildern und Andeutungen verliert. Die Einsichten dagegen, die Robert von Ranke-Graves Untersuchungen eröffnen, streifen historische Evidenz und stellen Chiron in den Rahmen eines prähellenischen Schamanismus, der durchaus Rituale der Fruchtbarkeit, von Leben und Tod, behaltet haben könnte. Als die Reiternomaden der Achäer Griechenland erreichten, sahen sie sich mit denn pferdezüchtenden Pelasger (»Kentauren«) konfrontiert. Wie in frühgeschichtlichen Migrationen häufig, ließen die Achäer vorgefundene Überzeugungen unberührt, sondern veränderten nur die politischen Strukturen. Mit dem Pferd waren beide Kulturen vertraut. Angesichts dieser Situation ist die Frage, wie die Kentauren wohl aussahen unerheblich – gelebt haben sie. In die griechische Mythologie sind sie als Pferdemenschen eingegangen, ein Name, den die naive Vorstellung vielleicht allzu wörtlich genommen hat.22
Im prähellenischen Griechenland war die Verehrung des Pferdes bekanntlich verbreitet, wie die pferdeköpfige Demeter von Mykene oder die Überlieferung von den Amazonen zeigt, die angeblich als erste das Pferd zähmten und einer Stuten-Göttin opferten.23 Robert von Ranke-Graves erwähnt auch die Beziehung zwischen heiligen Pferden, der Wiedergeburt und Fruchtbarkeitsritualen in Irland und Britannien, und setzt mythenvergleichend die weiße Stute Epona, welche die irischen Könige vor der Verbreitung des Christentums gebar, mit der pferdeköpfigen Demeter gleich.24 Auch in den altnordischen Kulturen Skandinaviens und Islands genoss das Pferd bei den Begräbnissen bedeutender Krieger ein hohes kultisches Ansehen. Sie wurden zusammen mit ihrem Reittier begraben; Pferde wurden verstorbenen Helden geopfert. Die Sagas der Wikingerzeit berichten von Bäumen in Tempelhainen, an denen Pferde zu Ehren Óðinns aufgehängt wurden. Um Erkenntnis und Wissen zu gewinnen, opferte Óðinn sich selbst am Weltenbaum, der Weltesche Yggdrasill, welche die Edda Reittier des Ygg (d.i. Óðinn) nennt:25

Auf dem Weltenbaum reitend durchquert Óðinn alle kosmischen Ebenen (die neun Welten), steigt hinab bis in Hels Reich,26 verweilt vorübergehend in einer Sphäre des Zwielichts zwischen Leben und Tod. In dieser Situation werden ihm die Runen offenbar, wird er eins mit der Essenz des Kosmos. Dieses Wissen um das Werden und Wirken greift er auf, und trägt es in die Welt und ins Bewusstsein, so dass in der óðinnischen Initiation inspiriertes Bewusstsein und kosmische Essenz miteinander verschmelzen.27

Auch die griechische Ikonographie kennt die Verbindung von Pferd und Weltenbaum, wenn sie Kentauren mit einer Pinie in der Hand darstellt – Symbol der Verbindung von Leben und Tod. Robert von Ranke-Graves berichtet auch, dass die Muttergottheit der Kentauren im Griechischen Leukothea, die Weisse Göttin, heißt, ein Sachverhalt, der in Verbindung mit dem ursprünglichen Charakter Poseidons wichtig ist.28 Von diesem anderen Halbbruder des Chiron wissen wir, dass er ein ehemaliger Großer Gott ist, der seine Weltherrschaft im Verlauf der indoeuropäischen Invasion Griechenlands eingebüßt hat. Dass Zeus der jüngere Bruder Poseidons ist, berichtet uns Hesiod in seiner Theogonie (Vers 456). Wenn auch Homer Zeus in der Ilias (15, 204) den Älteren nennt, respektiert er an anderer Stelle doch die von Hesiod erwähnte ältere Tradition (15, 195), und erzählt, dass Poseidon sich Zeus Macht widersetzte und mit seinen Brüdern plante, den Bruder zu entmachten und ihn in Ketten zu legen.29
Als die Indoeuropäer im zweiten Jahrtausend nach Griechenland kamen, brachten sie das Pferd mit. In Griechenland wurden sie mit der Religion einer Erdmutter (Rhea; die spätere Hera) konfrontiert, einer Herrschergöttin, die mit einem männlichen Begleiter auftrat. Poseidon war dieser Gatte der Erde, mit Namen Posis Das, und sein Kult ist in Griechenland weitaus älter als der des Zeus.30 Aus Machtkalkül identifizierten die indoeuropäischen Eroberer ihren Pferdegott, der ein Herr der Gewässer, der Fruchtbarkeit und der Unterwelt war, mit dem prähellenischen Gatten der Erdmutter, welche die »Kentauren« Magnesias als Leukothea verehrten.31 Indoeuropäischer Überlieferung zufolge war dieser Pferdegott Schöpfer, Vater und Spendergott, vor allem für den Überfluss an Pferden zuständig, einer Spezies, die wie erwähnt, mit Wiedergeburt und Unterwelt assoziiert wurde.32 Poseidon war ein erdbewohnender männlicher Geist der Fruchtbarkeit, wie ihn U. von Wilamowitz nennt. Als solcher ließ sich der indoeuropäische Pferdegott ohne Schwierigkeiten mit dem Herrscher- und Fruchtbarkeitsgott der Prähellenen, Posis Das, verschmelzen. Poseidon, der Gatte der Da, der Erdmutter, ging aus dieser Verschmelzung hervor; sein Widerstand, von dem Homer berichtet, ist der mythische Widerhall des Kampfes des prähellenischen Herrschergottes gegen die Invasoren aus den zentralasiatischen Steppen, die einem jüngeren Gott zur Macht verhalfen.33
Auch Chirons Pferdegestalt gehört in diesen mytho-historischen Kontext, den ursprünglich hatte auch Poseidon nichts mit dem Meer zu tun; er war ein Gott der Pferde, der im antiken Griechenland, insbesondere in Arkadien, auch pferdegestaltig verehrt wurde. Die auf der Suche nach ihrer Tochter umherirrende Demeter vergewaltige er in Gestalt eines Hengstes, wie sein Vater Kronos die Okeanide Philyra, Chirons Mutter. Demeter, der es auch als Stute nicht gelang zu fliehen, gebar ihm eine Tochter und das Ross Arion. Hesiod gemäß schwängerte er auch Medusa, eine andere Erdgöttin, die Pegasos, das geflügelte Pferd zur Welt brachte. Barbara Walker vermutet, dass die Wurzeln der europäischen Pferdemythologie in Indien liegen, wo die kentaurenähnlichen Ghandarvas aus der blutigen Vermählung der Erdmutter mit einem Pferdephallus entstanden. Der Phallus eines rituell geopferten und kastrierten Pferdes wurde begraben, um so die Fruchtbarkeit des Bodens zu erhöhen.34 Auch die vedischen Ghandarvas waren, wie Chiron, mächtige Magier, Heiler und Musiker, und, wie die unzivilisierten Kentauren Griechenlands, wegen ihrer animalischen Wildheit und Geilheit berüchtigt.
Die beiden Version um Chirons Herkunft legen nahe, dass es sich hier um zwei unterschiedliche mythische Ebenen handelt, die sich in der Person des Chiron überschneiden, und der in der Kentauren-Version als deren weiser König, als Sakralkönig, wie ihn Robert von Ranke-Graves nennt, auftritt. Wie der Mythos suggeriert, ist »König Chiron« wahrscheinlich nicht direkt an den kriegerischen Auseinandersetzungen seiner Untertanen beteiligt; er gibt ihm auch nicht die negativen Eigenschaften, in denen die antike Literatur die Kentauren im allgemeinen schildert. Wie dem auch sei: Chiron scheint ein außergewöhnlicher Kentaur zu sein, der in einer Version, vermutlich der früheren, seine Abstammung auf Kronos, den obersten Gott der Titanen zurückführen kann, selbst unsterblich, und der nach seinem Tode in den Olymp aufgenommen oder zum Sternbild wird, je nach dem, welcher Version man glauben will. Seiner Erlösung willen verzichtete Chiron zuletzt, wie Jesus Christus, der sich ans Kreuz nageln ließ, auf seine Unsterblichkeit; beide starben und wurden gerade deshalb unsterblich (wiedergeboren). Chirons Artgenossen dagegen sind von Sterblichen gezeugt und deshalb dem Tod geweiht.
Auch über das Ereignis, das zu Chirons Verletzung führte, berichtet der Mythos ambivalent, wenn auch einheitlich von einer Pfeilwunde am Knie oder am Oberschenkel die Rede ist. Während des Kentaurenkampfes von Herakles mit einem vergifteten Pfeil am Bein verwundet, beginnt für den unsterblichen Chiron ein langer Leidensweg. Das Blut der lernäischen Hydra, mit dem Herakles seine Pfeile präpariert hatte, wirkt auf jeden tödlich, nur nicht auf den unsterblichen Chiron. Auf der Suche nach Heilung gerät sein Leben zu einer therapeutischen Odyssee, die schließlich mit dem schon erwähnten Verzicht auf seine Unsterblichkeit endet. Indem er den gefesselten Prometheus befreit, seine Unsterblichkeit gegen dessen Sterblichkeit eintauscht, vollzieht Chiron die für eine Heldenvita erforderliche Katabasis in die Unterwelt, kann so »sterben« und seine Wunde verwandeln.35 Robert von Ranke-Graves und Karl Kerényi stellen diese zentrale Episode der Chiron-Mythologie, auf welcher der Terminus vom verletzten Heiler basiert, im Zusammenhang mit der vierten Arbeit des Herakles dar. Die Kentauren, vom starken Weingeruch aus dem Fass des Dionysos, das allen Kentauren gemeinsam gehörte und das Pholos für Herakles geöffnet hatte, in Zorn und Raserei versetzt, stürmten dessen Höhle. Was folgte ist als der sogenannte Kentaurenkampf bekannt, eine der Nebentaten des Herakles auf seinem Weg zum Erymanthos-Gebirge, um den dort lebenden, monströsen Keiler zu jagen:

Einer der Pfeile vom Bogen des Herakles war durch den Arm des Elatos gedrungen und blieb schwirrend im Knie des Cheiron stecken. Entsetzt über den Unfall seines alten Freundes zog Herakles den Pfeil heraus. Doch obwohl Cheiron selbst die Heilmittel zum Verbinden seiner Wunde zur Verfügung hatte, waren sie ohne Wirkung und er zog sich, vor Schmerzen heulend, in seine Höhle zurück. Er konnte aber nicht sterben, denn er war unsterblich.36

Karl Kerényi erzählt die Verwundung Chirons im Kentaurenkampf, an dem Chiron unbeteiligt war, folgendermaßen:

Es wurde behauptet, daß der Kampf vom Pholoe-Gebirge bis zur Höhle des Chiron am Kap Malea hinüber gewogt hat. Bis dorthin hätte Herakles mit seinen giftigen Pfeilen die Kentauren verfolgt. Ein Pfeil, dem Elatos bestimmt, durchbohrte diesen und traf den göttlichen Chiron. Umsonst versuchte ihn der Heros mit chironischen Arzneien zu heilen: das Gift der Hydra war zu stark. Am Knie verwundet, konnte der weise Kentaur weder geheilt werden noch sterben. So zog er sich mit der unheilbaren Wunde zurück in seine Höhle und litt da, bis er sich selbst für den leidenden Prometheus Zeus anbieten konnte.37

Auf Initiative des Herakles, der im Kaukasus den leidenden Prometheus trifft, und durch sein Verhandlungsgeschick gelingt es ihm seinen Vater Zeus zu bewegen, das Schicksal des Prometheus zu verändern. Sie einigen sich darauf, dass der sterbliche Prometheus anstelle Chirons unsterblich werden soll, Chiron für Prometheus sterben darf: Später erbot sich Prometheus, die Unsterblichkeit statt seiner auf sich zu nehmen; und Zeus hieß dies gut. Doch manche sagen, daß Cheiron nicht so sehr wegen der Schmerzen, die er litt, den Tod wählte, sondern weil er seines langen Lebens müde geworden war.38 Wie dem auch sei: Gewandelt durch seinen Aufenthalt in der Unterwelt erwirbt Chiron zuletzt seine Unsterblichkeit zurück, und wird von Zeus als Sternbild an den nächtlichen Himmel gesetzt. Soweit die mythologischen Grundlagen des Motivs vom verletzten Heiler. Was bleibt, ist allerdings die Frage nach der Berechtigung einer solchen Charakterisierung, insbesondere da der Verdacht besteht, mit einer solchen Bezeichnung Wesen und Funktion Chirons allenfalls zu streifen. Im Zentrum der folgenden Erörterung steht daher der mythologische Kontext, in dem Chiron seine Rolle spielt sowie die Hintergründe seiner Verletzung und Heilung.

Anmerkungen

13 Details zur Mythologie Chirons werden im folgenden zitiert nach: Herbert J. Rose, Griechische Mythologie. Ein Handbuch, München, 1999,:43, 133, 192, 216 und 232; Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek, 1960, Kap. 43, 50, 63,126, 133, 148, 151, 156 und 160; ders., Die weisse Göttin. Sprache des Mythos, Reinbek, 1985:.70, 146, 225, 250, 282, 336, 375 und 377; Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen, Bd.1: Die Götter- und Menschheitsgeschichten, München, 1966:113, 116, 128, 141, 175 und 177; ders. Bd.2: Die Heroen-Geschichten, München, 1960:62, 84, 122, 126, 140, 189, 197, 199, 209, 219, 242-245 und 248. Vor allem von Ranke-Graves enthält eine ausführliche Bibliographie der antiken Quellen. Für eine kurze Darstellung der Chiron- und Kentauren-Mythologie im Zusammenhang mit dem Sternbild des Kentauren vgl. Liane Keller, Mythos der Sterne, Stuttgart, 1979:55-58.
14 Diejenigen menschlichen Handlungen, die scheinbar nicht in Beziehung zur Sexualität stehen, deren treibende Kraft aber die Sexualität ist. Einen Trieb bezeichnet man als sublimiert, in dem er auf ein neues, nicht sexuelles Ziel oder Objekt gerichtet ist.
15 Das Pferdemotiv kommt in Chirons Biographie im Zusammenhang mit der Verführung seiner Tochter, der Prophetin Thea (oder Thetis), einer Jagdgefährtin der Artemis, durch Aiolos erneut vor. Aus Furcht vor ihrem Vater verwandelte sie Poseidon, der ein Freund des Aiolos war, in eine Stute, die Euippe genannte wurde. Poseidon versetzte die Stute als Sternbild des Pferdes an den nächtlichen Himmel. (vgl. von Ranke-Graves, Mythologie, S.186-187, für die antiken Quellen vgl. Scholia in Apollonios Rhodios III,62; Hyginus, Fabulae 33 und 62; Pindar, Pythische Oden II 33-89; Lukan, Dialoge der Götter 6).
16 Von Ranke-Graves, Die weisse Göttin, S.70.
17 Für die Kronos-Variante vgl. Robert von Ranke-Graves, Mythologie, S.556 bzw. Herbert J. Rose, Mythologie, S.43; die antiken Quellen sind: Apollonios Rhodios II 1231-41 und Hyginus 138. Als Ort der Zeugung Chirons gelten Thessalien, Thrakien und die Insel Philyra im Schwarzen Meer, der Robert von Ranke-Graves in seiner Darstellung der Argonautenfahrt den Vorzug gibt (Mythologie, S.556).
18 Die Linde, ein Baum, deren Blüten schon im klassischen Altertum als Heilmittel Verwendung fanden. Außerdem verwendete man Lindenbast, in Streifen gerissen zur Divination – beides Hinweise auf Chirons Funktion als Heiler und Prophet
19 Reinhart, Chiron, S.18-26. Mit den Schlüsselbegriffen Einzelgänger, Heilung und Ganzwerdung hat schon Zane B. Stein den schamanistischen Initiationstopos um Chiron unbemerkt ins Gespräch gebracht (Chiron, Mössingen, 1993:13-15; die amerikanische Ausgabe erschien erstmals 1985 in New York).
20 Sie verehrten auch das Pferd, wahrscheinlich nicht das asiatische Pferd, das Anfang des zweiten Jahrtausends v.Chr. vom kaspischen Meer eingeführt worden war, sondern eine frühere und schwächere europäische Art, die Ähnlichkeit mit dem Dartmoor-Pony hatte, vermutet (von Ranke-Graves, Die weisse Göttin, S.70).
21 Von Ranke-Graves, Die weiße Göttin, S.70-71. Vgl. den Mythos über den Kampf der Kentauren gegen die Lapithen (Apollodorus, Bibliotheca, 2.5.4).
22 In meiner Studie über Chiron und Jupiter habe sich darauf hingewiesen, dass die Gestalt des Kentauren ganz eindeutig auf orientalischen Einfluss zurückgeht, und dass das Tierkreiszeichen Schütze, das den Kentaur darstellt, von den Griechen unverändert aus der babylonischen Astrologie übernommen wurde (vgl. Jardner, Lichtträger in dunkler Zeit). In seinem Kapitel über babylonische Astrologie hat Kurt Aram einen Grenzstein aus der Zeit Mardukpaliddins I. (1189-1176 v.Chr.) abgebildet. Diese Grenzsteine, babylonische Urkunden mit besonderer Schwurkraft, erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn sie mit der Schrift des Himmels versehen sind. Auf dem in Susa gefundenen Grenzstein des Mardukpaliddins ist der babylonische Tierkreis abgebildet (Magie und Zauberei in der Alten Welt, Wiesbaden, 1998:89-90; erstmals veröffentlicht 1927). Interessanterweise stellt das Symbol der Speerspitze (Marduk, Jupiter) den Schützen, den Kentauren, dar, sodass sich die Verunsicherung, der Schütze könne kein Kentaur sein, auflöst. Speerspitze oder Pfeil sind Jagdwaffen, die durchaus zum Lebensraum und der Wildheit der Kentauren passen, und die dann in der Geschichte Chirons eine besondere Bedeutung bekommen (für die Symbolik von Pfeil, Speer und Lanze vgl. auch Jardner. Lichtträger in dunkler Zeit, s.o.).
23 Barbara G. Walker, The Women`s Encyclopedia of Myths and Secrets, New York, 1983:24. Vgl. auch von Ranke-Graves über die Pferdeopfer der Amazone Antiope (Mythologie, S.555).
24 Ranke-Graves, Die weisse Göttin, S.384. In der keltischen Religion war das Pferd dem Wasser zugeordnet, wie beispielsweise das göttliche Pferd Rudiobos oder das Ur-Pferd Nera, das als Avatar der Epona galt, die zusammen mit dem keltischen Teutates aquatischen Ursprungs ist: Kehren wir nun zum ersten Akt der keltischen Mythologie zurück. Durch die Einwanderung des PARTHOLON [die erste Götterschicht der keltisch-irischen Mythologie] entstand das Binom Pferd-Stier, bei dem das Pferd den Ur-Impuls und der Stier die Wucht des Anstoßes, und darüber hinaus die Ideen Feuer und Wasser, Schöpfung und Zerstörung repräsentieren. Das Pferd wäre demnach die erste Ursache der Genese, während der aus ihr hervorgehende Stier ihr Instrument wird. Über beide herrscht der Gott der Toten mit seinem Doppelgesicht Wasser-Erde; (Lancelot Lengyel, Das geheime Wissen der Kelten enträtselt aus druidisch-keltischer Mythik und Symbolik, Freiburg i.Br., 1976:218).
25 Die Edda. Die ältere und die jüngere Edda und die mythischen Erzählungen der Skalden übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Karl Simrock, Essen, o.J.:58-59.
26 Hel (hehlen, bergen) ist die Bezeichnung und Personifizierung der altgermanischen, unterirdischen Totenwelt, vergleichbar dem Hades der griechisch-lateinischen Mythologie. Mit zunehmender Popularität der Walhall-Vorstellung gehen nach Hel nur noch die eines schlimmen oder unwürdigen Todes Gestorbenen.
27 Herbert W. Jardner, Ekstase, Erkenntnis und die Erweiterung des Bewusstseins. Óðinn, Zeus und Jupiter in Mythologie und Astrologie.
28 Von Ranke-Graves, Die weisse Göttin, S.70.
29 Homer, Ilias, übersetzt von Hans Rupé, München, 1990:322.
30 Vgl. die Ausführungen von U. von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, Bd. 1 und 2, Berlin, 1931 und 1932: 212ff; hier Bd.1.
31 Als Gott der Geburtshilfe ist auch Hephaistos für die Fruchtbarkeit zuständig, ist er es doch, der Zeus von Athene entbindet.
32 Den Pferdegott, der aus dem Meer kommt, kennt auch die keltische Religion. Das Buch von Leinster, im 11. Jahrhundert aufgezeichnet, enthält einen Bericht über die mythische Besiedlung Irlands durch Götter, in denen der schon genannte Partholon eine zentrale Rolle spielt: Entsprechend dürfte der aus dem Meer gekommene PARTHOLON zugleich NEREUS und pferdegestaltiger POSEIDON sein. [...] Schließlich, was hat es schon zu bedeuten, ob PARTHOLON ein Pferd besteigt oder selbst das See-Pferd-Symbol ist! Entscheidend ist, daß das Pferd der aktiven schöpferischen Energie des PARTHOLON zugeordnet und nicht als Fortbewegungsmittel gesehen wird (Lengyel, Wissen der Kelten, S.214 und 216). Die schon erwähnte Epona ist nach Lengyel der auf das Land übergesiedelte Partholon.
33 F. Schachermeyer, Poseidon und die Entstehung des griechischen Götterglaubens, Bern, 1950.
34 Walker, Encyclopaedia of Myths, S.412.
35 Chiron ist wegen seiner uranischen Bewusstheit unsterblich. Diesen uranischen Teil überträgt er Prometheus, um ihn zu befreien [in astrologischer Symbolik gibt er ihn an Uranus zurück, da der menschenfreundliche Prometheus die Uranus-Energie repräsentiert]. Der Teil aber, der in Verbindung mit dem Sündenfall (Saturn) steht und der ihm verbleibt, ist sterblich, und so muß er den Weg alles Karmischen durch die Unterwelt (Skorpion) gehen (Schütz, Jupiters Pferdefuß, S.20). Für die Repräsentanz des astrologischen Prinzips Uranus durch den Titanen Prometheus vgl. Jardner, Das Urbild des Rebellen. Uranus oder Prometheus im elften Zeichen und Haus?.
36 Von Ranke-Graves, Mythologie, S.438. Ebenfalls Rose, Mythologie, S. 216.
37 Kerényi, Mythologie, S.123. Jetzt konnte Herakles auch das unsterbliche Haupt [der Hydra] abschlagen. Er begrub es auf der Straße, die von Lerna nach Elaius führte. In das Gift, mit dem der Leib der Schlange gefüllt war, tunkte er seine Pfeile (ebd. S.119).
38 Von Ranke-Graves, Mythologie, S.438.

Die Symbolik von Pfeil, Blut und Wunde

Chirons Verletzung ist nicht irgendeine beliebige Wunde, denn sie wurde auf eine besondere Weise verursacht. Nachdem Herakles die lernäische Hydra, eine Repräsentantin des dunklen Aspekts der Erdgöttin, getötet hatte, tauchte er die Spitzen seiner Pfeile in das giftige Drachenblut. Versehentlich verletzte Herakles Chiron mit einem dieser Pfeile am Bein, wodurch dieser eine nicht heilende Wunde davontrug, die er allein seiner Unsterblichkeit wegen überlebte - so jedenfalls überliefert in den zitierten Bearbeitungen der Chiron-Mythologie. Doch erst die aufmerksame Betrachtung der Symbolik von Pfeil und Blut offenbart die wirkliche Bedeutung von Chirons Verletzung. Versehentlich ist diese Verletzung am allerwenigsten, sprechen allein die Voraussetzungen eine deutliche Sprache: es benötigt einen Helden dazu, der vorher eine Initiation durchlaufen musste, um sich für diese Aufgabe zu qualifizieren. Gelegentlich heißt es, dass das Tierkreiszeichen Schütze und Chiron keinerlei Berührungspunkte aufweisen, da Kentauren nie einen Bogen benutzten noch mit Pfeilen dargestellt wurden. Dass diese Auffassung oberflächlicher Beobachtung entspringt, ist auch Melanie Reinhard aufgefallen: Der Kentaur des Schütze-Zeichens hält einen Bogen und einen Pfeil in der Hand; ironischerweise trägt er damit selbst das Instrument, durch das er verletzt wurde.39 Chirons Verletzung durch sein eigenes Symbol, den Pfeil, enthält aber nichts Ironisches, wie sie zu unrecht vermutet. Und auch über die häufig als zufällig oder unabsichtliche aufgefasste Verletzung wird noch zu reden sein. Eines jedoch vorweg: Der Pfeil gehört wesentlich zur Ikonographie des Schützen wie er das Kennzeichen Chirons ist, dessen Biographie ganz besonders durch seine Verletzung charakterisiert ist, wie im Mythos hervorgehoben wird.40 Gerade dem Pfeil wächst eine besondere Bedeutung in der Mythologie Chirons zu, ermöglicht er ihm doch die Herausforderung seines Lebens, die Diskrepanz zwischen rein physischer Existenz und geistigem Ideal zu überwinden, die erst zu seiner Transformation führt. Dieses übersieht die einseitige Interpretation, die Chiron als den passiv Verletzten darstellt. Chiron ist auch nicht schuldlos durch eine unheilbare Wunde gezeichnet, nicht aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse unschuldig gebranntmarkt, einer, der stellvertretend leiden muss, wie Liz Greene die Bedeutung der chironischen Wunde missversteht. Ihre Auffassung von der Unvermeidbarkeit der chironischen Verletzung für eine ganzheitliche persönliche Entwicklung hat nur sekundär mit Fatum und kultureller Prägung zu tun. Sie erfolgt – das lehrt das Chiron-Motiv - willentlich und in freier Entscheidung.41 Der Pfeil des Herakles, der Chiron verletzte und seine Transformation ermöglichte, ist göttliche Insignie und, psychologisch gedeutet, männliches Symbol. Von Chiron angenommen wird er für ihn zur Signatur seines Erkenntnisstrebens und weiteren psychischen Wachstums. Hier liegt die Affinität des Kentauren Chiron mit dem Tierkreiszeichen Schütze.

In der Mythologie sind Pfeil und Speer die Attribute der mit Erkenntnissuche und Bewusstseinserweiterung verbundenen Götter, wie beispielsweise Óðinn oder Zeus selbst, wobei Speer und Pfeil bei beiden, indoeuropäischer Tradition entsprechend, auch als Blitz oder als Donnerkeil auftreten. Auch die Pfeile Apollons lassen sich mit Óðinns Speer vergleichen. Kelten und Germanen stellten ihre sicher treffenden Speere aus dem Holz der Esche her, an der hängend Óðinn seine Initiation in das Runenweistum vollbrachte. Über Óðinns Speer Gungni schreibt Paul Hermann: Zur altertümlichen Ausrüstung des Gottes gehört sein Speer; es ist der Blitz, den er aus der dunklen Wolke hervorschleudert,42 Intuition und Erkenntnis fördernd. Wesentliches Merkmal dieser Waffen sind Zielen und Treffen. Besonders ausgeprägt ist diese Eigenschaft im Wurfspeer, der Waffe des jungen Parzivals. Auf der symbolischen Ebene sind Zielgerichtetheit oder Zielbewusstheit wichtigste Kriterien, das Ins-Auge-Fassens oder Erreichen ferner Möglichkeiten. Psychologisch lässt sich die Charakteristik dieser Waffen ohne weiteres als Intuition auffassen. Im Gegensatz zur trennenden Funktion des Schwertes – der unterscheidenden Fähigkeit merkurischen Denkens - »treffen« Pfeil und Speer einen bestimmten Punkt. Beide zielen auf das Wesentliche, auf ein Zentrum, auf das sich ihre Spitze richtet. Im indischen Nationalepos, dem Mahabharata, trägt Arjuna den Pfeil des Schützen. Arjuna ist ein sprechender Name, und muss mit einer, der sich aufrichtig bemüht übersetzt werden. Seine besondere Fähigkeit liegt in der Konzentration auf einen Punkt; daher seine Begabung zum Bogenschießen, seine Treffsicherheit mit Waffen überhaupt, aber auch in der Liebe, wo er die Herzen der Frauen zu treffen vermag;wie der Pfeil des Eros-Cupido. Besonders deutlich schildert die Bhagavadgita Arjunas schützehafte Rolle, wo ihm durch seine Gespräche mit Krishna ein Wissen zuteil wird, das ihn weit über das kultische und spirituelle Wissen der Veden hinausführt. Krishna ermöglicht ihm eine universale Erkenntnis, die, da sie zu allen Zeiten gültig ist, weit in die Zukunft weist.43

Herakles verhalf seinem Lehrer Chiron zu seiner Verletzung, indem er sich seiner eigenen Katabasis stellte und die Lernäische Hydra erschlug. Diese der Skorpion-Energie verpflichtete Arbeit führte Herakles in einen verwirrenden Sumpf von verwesenden Erfahrungen und Erlebnissen – Ängsten und Projektionen, Täuschungen und Verwechslungen, Lüsten und Sehnsüchten, alle ineinander und miteinander auf undurchsichtige Art und Weise verschlungen.44 Wieder herauskommen, ohne sich zu verstricken und unterzugehen, seinen Schatten zu essen, wie Robert Bly es nennt,45 darin lag für Herakles die Schwierigkeit dieser von Wolfgang Denzinger und Alice Bailey als achte Aufgabe interpretierte Arbeit. Die Suche des sonnenhaften Helden beinhaltet das interkulturell archetypische Motiv des Abstiegs in die Unterwelt, dem Weg folgend, den auch die Sonne täglich nimmt. Biographische Mythen berichten in Form des Entwicklungsromans von der Reise des Helden in die Unterwelt, dessen vielfältigen Versuchungen und Prüfungen. Helden wie Herakles, Theseus, Orpheus oder Odysseus beispielsweise repräsentieren ein individuelles Potential, das durch gefährliche Übergänge, Begegnungen und Aufgaben freigesetzt wird. Der Abstieg in die Unterwelt ist die Reise in das eigene Unbewusste, um dort Dämonen zu begegnen und gefangene Geister freizulassen. Die Erfahrungen, die Herakles auf seiner Unterweltreise erwirbt, bringt er in Form des Hydrablutes zurück an die Oberfläche, damit es auch anderen Menschen nützlich werden kann. Denn erst durch die Konfrontation mit Leid und Schmerz kann der Held seine Belohnung einfordern, die in der Transzendierung seiner Ängste und in der Integration der dunklen Seite seines Selbstes besteht, das nur so erlöst wird. Als Herakles sich auf die Tötung der Lernäischen Hydra, aus deren Fängen Gift tropfte und die in einer dunklen, von Sümpfen umgebenen Höhle hauste, vorbereitete, riet ihm sein Lehrer: Ich kann dir nur einen Ratschlag geben: Wir erheben uns, indem wir niederknien, wir erobern, indem wir uns unterwerfen, wir gewinnen, indem wir aufgeben,46 eine Moral, die an die von Bertold Brechts Herr Keuner erinnert, der seine Angst vor der Gewalt besiegt, indem er sie zu Tode pfegt. Die Demut, die Herakles bei der Bewältigung dieser Aufgabe lernen muss, erlebte Chiron in seiner Wiege als Demütigung, als psychischen Schmerz. Die durch den Pfeil symbolisierte Zielstrebigkeit heben Chirons Demütigung und das Gefühl des Makels zuletzt auf. Herakles, der Verursacher, findet die Lösung, Chiron vollzieht sie am eigenen Leib und Zeus selbst erlöst ihn von seinem Makel und verhilft ihm zu wahrer Unsterblichkeit.

Wächst in diesem Bild der Schüler nicht über den Meister hinaus? Lässt Herakles nicht Chiron an seinen eben erst gemachten Erfahrungen teilhaben, indem er ihm das Hydrablut der Transformation zur Verfügung stellt – sind Chiron, Herakles und andere griechische Heroen Mitglieder eines esoterischen Ordens?47 In diesem Zusammenhang ist es höchst interessant, dass Chiron sein medizinisches System erst nach seiner Verletzung durch Herakles entwickeln und an Asklepios weitergeben konnte, obwohl ihn doch Apollon, der auch ein Gott der Heilkunst ist, erzogen hat. Um sein Lebenswerk zu vollenden, benötigte Chiron erst das Blut der Hydra, dessen Kraft zu töten und zu heilen, er letztlich im Selbstversuch erprobte. Blut ist ein besonderer Saft, verrät Goethe eines der Geheimnisse der Alchemie, und lässt Faust seinen Pakt mit Mephistopheles mit seinem Blut besiegeln. Im Grunde ist dies eine archaische Überzeugung, denkt man an die zahllosen Berichte über Blutopfer, Liebes-, Heil- und Verwünschungszauber; mit Blut werden Weihen vollzogen, Verträge geschlossen und Eide legitimiert, und auch das christliche Mysterium verwendet das Blut als wiederbelebende Macht. Die Vorstellung, dass durch blutige Opfer neues Leben bewirkt werden kann, ist uralt, wohl so alt wie die Menschheit selbst. Vor allen anderen war es der Chiron-Schüler Asklepios, der sich, wie noch berichtet werden muss, dieses Wissen zunutze machte, und so zum Wegbereiter der modernen Medizin wurde. Bräuche dieser Art basieren auf der Vorstellung, das herausfließende Blut verkörpert die Lebenskraft, und die der Hydra, deren Köpfe vielfältig nachwachsen, scheint besonders wirkmächtig gewesen zu sein. In der Odyssee erlangen die Seelen der Verstorbenen durch das Blutopfer des Odysseus an den Pforten der Unterwelt ihr Bewusstsein wieder. Aus dem gleichen Grund essen die Juden nur geschächtetes Fleisch, denn im fünften Buch Moses (12,23) heißt es: Allein merke, daß du das Blut nicht essest, denn das Blut ist die Seele, darum sollst du die Seele nicht mit dem Fleische essen. Die Analogie Blut = Leben = Seele macht das Blut zu einer Manasubstanz, deren Wirksamkeit in einer numinos-charismatischen Macht, in Form einer unpersönlichen Kraftquelle liegt. Mana zu besitzen bedeutet erhöhte Willenskraft, Erfolg und Einfluss. In der christlichen Theologie ist erst das von Christus vergossene Blut, nicht so sehr sein Tod, das Mittel zur Erlösung. Und wurde ihm nicht auch die Seite mit einer Lanze geöffnet, und so sein Blut zum Fließen gebracht, ein Ritual, das in die Herz-Jesu-Verehrung des Mittelalters gipfelte, die der Weisheit im Herzen Jesu galt.48 Auf die komplexe Legendenstruktur der Gral-Überlieferung, des sang graal, des königlichen Bluts, die untrennbar in die Erzählungen des keltischen Artus-Kreises eingeflochten sind sowie ihre bedeutende Rolle in der mittelalterlichen höfischen Literatur will ich an dieser Stelle gar nicht erst eingehen. Und wie das Herz Christi, so ist auch sein Blut ein Symbol für das Wesentliche seiner Gestalt, das Seelisch-Wirkliche an seinem Bild.49 In allen Fällen, der Verletzung Chirons, der des Fischerkönigs Amfortas oder der des Christus, verursachen Lanze oder Pfeil, das Fließen des Blutes und nicht heilende Wunden. Herakles Pfeil, oder Gral und Kelch der Eucharistie, sind symbolische Instrumente für den geheimnisvollen Übergang vom Tode zu Leben, für das Mysterium von Wandlung und Wiedergeburt, für die Auferstehung selbst. Und immer deutet Blut auf die Beseeltheit der Substanz hin: Die Seele ist ein Lebensgeist und wohnt im Blut.50
Chiron, Óðinn (der Verlust des Auges), Amfortas (die Unfruchtbarkeit), Prometheus (die täglich erneut verletzte Leber) und Christus (der Tod am Kreuz) haben eines gemeinsam, ihre von Pfeil oder Speer verursachte Wunde, die ihnen auf ihrer Suche nach Erkenntnis zuteil wurde. In der Gestalt dieser Protagonisten wird deutlich, daß die nicht heilende Wunde, die Notwendigkeit der Erlösung und das Erlangen einer besonderen Art der Unsterblichkeit das verbindende Element der entsprechenden mythischen Erzählungen bildet. Chirons Mythos erzählt von einer besonderen Art der Initiation, von einer Einweihung, die der Wunde, des »Todes« und der Wiedergeburt bedarf, um ein anderer zu werden.

Anmerkungen

39 Reinhart, Chiron, S.84. Für weitere Belege dieser Auffassung vgl. ebenfalls Jardner, Lichtträger in dunkler Zeit.
40 Über die Genese des Tierkreiszeichens Schütze seit der babylonischen Astrologie sowie die Beziehung Kentaur und Pfeil vgl. Jardner, Lichtträger in dunkler Zeit.
41 Liz Greene, Abwehr und Abgrenzung, S.225-227. Dort heißt es beispielsweise: Bei Chiron lässt sich dieses Gefühl eines »Es ist alles meine Schuld«, oder »Es ist alles die Schuld der anderen« nicht mehr aufrechterhalten, selbst wenn man sich wirklich bemüht jemanden zu finden, dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann. Stattdessen stellt sich hier eher das Gefühl ein, daß das Leben verdammt ungerecht ist (ebd. S.225-226) Oder: Chiron kann uns zu der Entdeckung führen, daß die ganze Gesellschaft voller Ungerechtigkeiten ist und daß Verletzungen eine Folge der menschlichen Natur und der Zeiten sind, in denen wir leben. Je weiter wir die chironische Wunde erforschen, desto stärker sehen wir uns zur Einsicht ins Unvermeidbare gezwungen (ebd. S.227).
42 Paul Hermann, Nordische Mythologie, Berlin, 1992:178.
43 Für den hier angedeuteten Zusammenhang zwischen Schütze, Chiron und Jupiter vgl. Jardner, Lichtträger in dunkler Zeit; für Jupiter und Óðinns Beziehung zu Erkenntnis und Bewusstseinserweiterung, der neunten Ur-Energie, vgl. Jardner, Óðinn, Zeus und Jupiter.
44 Wolfgang J. Denzinger, Die zwölf Aufgaben des Herakles im Tierkreis. Der zeitlose Entwicklungsweg des Menschen, München, 1994, S.222. Vgl. auch Alice A. Bailey, The labours of Hercules: An astrological interpretation, New York, 1977, S.67.
45 Robert Bly, Die dunklen Seiten des menschlichen Wesens, München, 1993. Die im Märchen Eisenhans versteckten Initiationsrituale setzen voraus, daß ältere Männer die jüngeren anleiten, den Schatten zu essen (ebd. S.99). Mit dem Terminus Schatten bezeichnet C.G. Jung die dunklen Charakterzüge respektive Minderwertigkeiten, die dunklen Seiten der Persönlichkeit, die als wirklich vorhanden anzuerkennen sind. Dieser Akt, so fährt Jung fort, ist die unerlässliche Grundlage jeder Selbsterkenntnis und begegnet darum in der Regel beträchtlichem Widerstand (Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, Solothurn und Düsseldorf, 1995, S.17).
46 Anmerkung entfernt.
47 Es ist nicht richtig, sich die Erzählungen der Mythologie als ein linear geordnetes Nacheinander vorzustellen, Zeit ist nur für die menschliche Wahrnehmung von Bedeutung, in der mythischen Betrachtung der Wirklichkeit spielt sie keine Rolle. Es ist unwichtig, und nur für eine erklärende Betrachtung relevant, sich Herakles oder Asklepios als Schüler, Chiron als deren Lehrer vorstellen. Mythische Gestalten wie Chiron, Herakles und Asklepios repräsentieren pars pro toto Archetypen; als ursprüngliche Erfahrungen einer von numinosen Mächten gestalteten Natur, verleihen sie dieser Sinn und Gestalt.
48 Für die Metaphorik vom wissenden Herzen vgl. auch Herbert W. Jardner, Damit Dein Herz versteht und Dein Bauch begreift!, in: Georg Berkemer und Guido Rappe (Hg.), Das Herz im Kulturvergleich, Berlin, 1996:83.
49 Emma Jung und Marie-Louise von Franz, >Die Graals-Legende in psychologischer Sicht, Lengerich, 1980:S.108.
50 Carl Gustav Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich und Düsseldorf, 1944:381.

Die Koevolution von Leiden und Heilen

Der Archetyp des verletzten Heilers scheint inzwischen zum einzigen Topos in der Diskussion um die astrologische Bewertung Chirons geworden sein. Stellvertretend für die Deutung Chirons im Horoskop sei hier Markus Jehle zitiert, der sich am gängigen Konzept der Verletzung orientiert. Er bezeichnet die Chironposition im Radixhoroskop als Achillesverse des Eigners, und ermutigt dazu, in der Auseinandersetzung mit der chironischen Verwundung, und nicht in Verdrängung und Projektion, seine Persönlichkeit zu entwickeln.51 Tiefenpsychologisch interpretiert fasst Liz Greene die Geburt des mythologischen Chirons als Urbild der Verletzung auf, die in der Trennung und Ablehnung durch die Mutter liegt:

Auf der tiefsten symbolischen Ebene stellen sowohl Saturn- als auch Chiron-Erfahrungen den Schmerz über die Vertreibung aus dem Garten Eden dar. Schon das Erlebnis der Geburt ist eine Verletzung. Wir alle werden aus dem Paradies vertrieben und müssen diesen Vorgang der Trennung aushalten, falls wir überleben wollen. Was auch immer wir im Leben unternehmen, diese Wunde kann niemals geheilt werden. Wir können weder unsterblich werden, noch jemals in den Mutterleib zurückkehren. Auf einer sehr grundlegenden Ebene sind wir immer allein, und wir werden stets das Gefühl haben, daß das Leben in seiner Unvollkommenheit ungerecht ist.52

Der Rückgriff auf die Möglichkeit eines Geburtstraumas mag spekulativ anmuten, der Verlust der Einheitswirklichkeit53 aber, die der Säugling in den ersten Lebensmonaten in der Symbiose mit der Mutter erlebt, setzt schon das Neugeborene der ersten chironischen Erfahrung seines Leben aus, indem es sein vom Anderen getrenntes Selbst erfährt. Der Mythos berichtet, dass Chiron der Verlust seiner Mutter gleich zu Beginn seines Lebens zugemutet wurde: auf seine Missgestalt reagierte seine Mutter Philyra mit Ablehnung und Zurückweisung.54 Entwicklungspsychologisch betrachtet können Störungen des Gefühls inniger Verbundenheit mit der mütterlichen Sphäre traumatisierend und pathologisierend wirken. Die Situation, die Liz Greene paradiesisch nennt, kann allerdings nur auf Kosten von Selbständigkeit und Unabhängigkeit ewig dauern, womit die positive Funktion von Chirons Verletzung schon hier angedeutet ist. Aus diesem Grund wird Chiron im Mythos auch von seiner Mutter getrennt, eine Erfahrung, die nur auf den ersten Blick brutal und abrupt anmutet. Es ist Chiron Missgestalt, welche die Funktion des trennenden Dritten übernimmt (später ist es Apollon) und ihm so zu Unabhängigkeit und Eigenständigkeit verhilft. In der Biographie des Kleinkindes unterbricht der Vater, als trennender Dritter, die Mutter-Kind-Dyade in der Phase der frühen Triangulierung (Ernst Abelin). Der Einbruch des Fremden und Störenden in diese Dyade bedeutet nicht nur Freiheit, sondern ganz zwangsläufig auch Leiden. In den altorientalischen Mythologien übernehmen die Götter der Luft – Schu in Ägypten und Enil in Mesopotamien – diese Funktion: sie beenden den urzeitlichen Hieros Gamos, indem sie die Einheit von Himmel und Erde aufheben. Im Mythos schaffen Schu und Enil, eben weil sie die Verschmolzenheit der Welteltern lösen, Raum für weiteres Werden. Obwohl ihr Handeln befreit, zerstört es gleichzeitig jegliche Hoffnung auf die Wiederkehr paradiesischer Zustände. Diesen Verlust teilt jeder neugeborene Mensch mit Chiron – er ist der Preis für das Leben selbst.

Markus Jehle und Liz Greene formulieren die von Chiron repräsentierte Symbolik entsprechend zeitgenössiger astrologischer Auffassung im Bilde des verletzten Heilers. Gelegentlich äußert sich Liz Greene kritischer:

Doch wenn ich den Großteil der Literatur über Chiron mit den von mir beobachteten Auswirkungen in Geburtshoroskop und Transiten vergleiche, stoße ich auf erhebliche Widersprüche zwischen astrologischer Deutung und Wirklichkeit. [...] Alles dreht sich um den verletzten Heiler, wobei es immer um den Heiler geht und das verletzt ganz klein geschrieben wird.55

Genau auf diesen Unterschied, den Liz Greene gerade einmal en passant erwähnt, kommt es an. Das Gefühl der Verletzung, und deren Ablehnung, teilen Chiron und Saturn, allerdings beschreibt die saturnische Verletzung eher einen persönlichen Mangel, der, wenn auch nicht mühelos, doch therapeutisch heilbar ist. Die chironische Verletzung bleibt als transformierender Impuls erhalten; bewusst gestaltet sie sich als Entwicklung förderndes Motiv, unbewusst als physisch oder psychisch schwärender Krankheitsherd. Mit anderen Worten: Chirons Heilung ist Lebenswerk. Das astrologische Symbol Chiron weist auf eine Verletzung oder Beschädigung hin, die im unerlösten Fall zwar lebenslang wirksam bleiben kann, und dann leicht ein Gefühl der Unwiderruflichkeit auslöst. Anders als Saturn, begleitet Chirons Wunde die Überzeugung das Heilung nur über Akzeptanz und Hinnahme, über die Einsicht in der schicksalhaft Unvermeidbares entsteht. Chirons Heilung liegt in der errungenen Erlösung, die ihn über sich selbst hinauswachsen lässt. Heilung in diesem Sinn erfordert dann allerdings eine fortgeschrittenere Stufe der Erkenntnis.

Die Verbindung von Leiden und Heilen im Archetypus Chiron durchzieht die astrologische Literatur zu Chiron inzwischen wie ein roter Faden. Eva Stangenberg deutet die Verletzung Chirons und dessen Heilung vor dem Hintergrund der Symbolik von Saturn und Uranus, da sie Chiron aufgrund seines Bahnverlaufs als Brücke zwischen dem körperlich-materiellen (Saturn) und dem geistig-immateriellen (Uranus) versteht. Die Verletzung, mit der Chiron ins Leben tritt, und mit der er später durch Herakles Pfeil erneut konfrontiert wird, ist auch für sie unvermeidbar. Sie lässt sich tatsächlich aus dem Saturn-Uranus- Konflikt ableiten, aus der Spannung antagonistischer Planetenenergien, welche die Pole beharren (Saturn) und auflösen (Uranus) symbolisieren. Chirons Position im Horoskop weist deshalb auf das Dilemma hin, dass zwischen zwei Alternativen keine eindeutige Entscheidung, sondern nur eine Synthese ermöglicht:

  • entwicklungspsychologisch die Unabhängigkeit als Individuum (Uranus) oder die Einheitswirklichkeit von Mutter und Kind (Saturn),
  • philosophisch die Spannung zwischen dem irdisch verwurzelten, animalischen Leib (Saturn) und dem zu höchsten Zielen strebenden Geist (Uranus): die Welt der Form und die Welt des Geistes

Chirons Haus lässt es zu, zugleich erfinderisch, intuitiv und bodenständig zu sein. Seine Hausposition gibt dabei den entscheidenden Hinweis, denn hier können die kühnen neuen Ideen und Einsichten von Uranus praktisch und innerhalb des Wohlanständigen angewendet werden.56 Die Heilung, die Chiron verspricht, liegt allerdings keineswegs darin, wie Eva Stangenberg vermutet, dem Wiederholungszwang, der uns immer wieder bestätigt, dass wir mit unserer Meinung, hier leiden zu müssen, recht haben zu entkommen, sondern darin, die Qualität saturnischer Begrenzungen und uranischer Entbindung zu erkennen und zu reflektieren, in der Verletzung die Gelegenheit zu sehen, offener und sensibler nach einem spirituellen Ausweg zu suchen. Chirons Wunde schließt sich nicht durch die alleinige Hinwendung zum befreienden Uranus, und auch nicht in der Einseitigkeit saturnischer Beschränkung. Sie heilt erst in der Erkenntnis und Anerkenntnis, dem bewussten und willentlich vollzogenen Einverständnis in die notwendige Spannung zwischen bindendem Gewordenen (Tradition; Saturn) und unaufhaltsamen, befreienden Werden (Evolution; Uranus). Chirons Position im Geburtshoroskop identifiziert die Saturn-Uranus-Spannung: zwischen dem grenzsetzenden, urteilenden Bewusstsein Saturns und dem Grenzen überwindenden, urteilsfreien Bewusstsein des Uranus.57 Beides in sich tragend, liegt Chirons Aufgabe darin, anscheinend antagonistische Seiten zu integrieren, um seine Schmerzen zu heilen. Dieses Dilemma nicht lösen zu können, darin liegt die Verletzung. Entwicklung vollzieht sich nur auf der Basis abgeschlossener Prozesse, deren freiwerdende Dynamik die Öffnung zur Zukunft ermöglicht. Chirons Weg der Heilung besteht in der Rückbindung an eine vor jeglicher Sozialisation liegende Ganzheit, in der Überwindung von Einseitigkeit (Saturn) und Extrem (Uranus). In übertriebenem Pathos verkündet Daniela Kosten den Anfang chironischen Bewusstseins für alle Männer. Sie verfehlt in ihrer ideologischen Perspektive das mythische Bild und auch das astrologische Symbol vollends. Ihr Fazit, wenn es den Männern gelingt, ihre Wunden zu pflegen und zu heilen, werden sie vielleicht selbst zu Menschen, die anderen etwas zu geben haben, gerät reichlich naiv:

Wir erleben, schreibt sie, einen verwundeten, opferbereiten Mann. ( ... ) Auch der Mann hat die Begrenzung seiner Rolle erkannt oder wird schmerzlich gezwungen, sie zu erkennen. Auch er, unlängst noch der sieggewohnte Krieger, ist nicht länger bereit, um den Preis seines Menschseins diese »Tradition« hochzuhalten.58

Mythologische und astrologische Symbole, wollen sie ernsthaft als solche gelten, liegen außerhalb geschlechtlicher Polarisierung und aktueller Trends, sondern konzeptionalisieren Archetypisches. Spiegelt sich doch in dieser Aussage die moderne gesellschaftliche Wirklichkeit, die chironisches Bewusstsein oder gar eine chironische Epoche kaum begrüßen würde. Auch die Adjektive opferbereit und sieggewohnt, die Daniela Kosten polarisierend in der Gestalt Chirons fokusiert, zielen am archetypischen Symbol vorbei. Die antiken Helden, deren Erzieher und Mentor Chiron war, gingen nicht unbedingt als sieggewohnte Krieger und Männer in die griechische Mythologie ein, die ihre Biographie gerade in dieser Hinsicht sehr ambivalent schildert. Auch ob Chiron oder die ihm Anvertrauten nur opferbereit waren, scheint fraglich, berichtet ihre Mythologie doch von ihrem kompromisslosen Sieg über sich selbst, den sie für ihre Individuation und ihre Einweihung erringen mussten.

In der Reduzierung auf seine Verwundung lässt sich das Wesen des mythologischen Chirons jedenfalls nicht fassen, vor allem da so kaum nachvollziehbar ist, wie er, abgelehnt und zuletzt unheilbar verwundet, anderen und schließlich sich selbst zum Heiler werden konnte. Chiron ein Leidender und Klagender, der so lange mit seinem Schicksal hadert, bis ein an ihm schuldig gewordener Herakles, ein dem Zorn des Zeus ausgelieferter Prometheus, ihm die Lösung seiner ausweglosen Situation ermöglicht. Ist diese Vorstellung von einer Persönlichkeit, welche die größten Helden der griechischen Mythologie erzog, und der immerhin in der Lage war, Teiresias die Sehergabe und dem Phönix das Augenlicht zurückzugeben, nicht absurd? Leidet Chiron wirklich ausschließlich? Sind chironische Persönlichkeiten, wie Otto Johannes Schmidt sie nennt, wirklich unheil im Sinne von nicht mehr in Ordnung?59 Den wenigsten Menschen gelingt die Entfaltung mitmenschlicher Zuwendung aufgrund erlittener eigener Verletzungen (Albert Schweizer), aufgrund von Berufungserlebnissen, die zu eigener tätiger Nächstenliebe führen (Mutter Teresa), aufgrund der Überwindung schwerer Lebenskrisen, die zu mutigem Engagement ohne Rücksicht auf die eigene Person aufrufen (Aleksander Dubcek, Yitzhak Rabin). Überzeugend zeigt Otto Johannes Schmidt bei der Betrachtung dieses Phänomens, dass

»Heilung« umfassend als Wiederherstellung persönlicher Identität und Ganzheit, meist nach vorheriger Verletzung verstanden werden muss. In diesem Sinne dürften als chironische Persönlichkeiten nicht nur Ärzte, Heilpraktiker und andere mit der Gesundheitsvorsorge befaßte Personen gelten, sondern auch all jene, die auf ihre ganz persönliche Weise bemüht sind, ihren Mitmenschen in Nöten aller Art beizustehen.60

Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass Heilung als Antwort auf grundlegende Ängste, Ungewissheiten und Hoffnungen keine verbindlichen Lösungen hervorbringen kann. Sind Menschen, deren Biographie durch Nächstenliebe und die Fähigkeit zum Mitleiden geprägt ist, die ihr Leben selbstlos in den Dienst der Gemeinschaft stellten, Leidende und Opfer, oder wurden sie zu Eingeweihten auf einem Schulungsweg, auf dem sie ihren im Materialismus wurzelnden Egoismus überwinden? Die Theorie der eigenen Erkrankung, und die unter Mühen gefundene Methode der (Selbst)-Heilung, die sich auch Chiron während seiner langen Initiation erworben hat, befähigen erst zum Pädagogen und Menschheitslehrer. Heilen setzt ganz grundsätzlich die Koevolution von Leiden und Heilen voraus, dies zeigen auch die von Otto Johannes Schmidt ausgewählten Biographien in ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Gerade in diesem Sinne sind sie in Ordnung. Heilen entsteht nicht allein aus Empathie, angesichts fremden Leidens helfend einzugreifen, Heilen beruht gleichzeitig auf dem Bewusstsein, Leid nicht als naturgegeben, sondern als durch eigenes Schicksal erworben, durch eigenes Potential beeinflussbar, zu verstehen. Die Aufgabe des Heilers (wie des Arztes) besteht darin, die Natur einer Erkrankung zu begreifen, um mit diesem Wissen unentrinnbar erscheinende Krankheiten zu begleiten, zu therapieren und heilen zu können. Die Kunst der Diagnostik, zu der es der Erfahrung einer am eigenen Leib entwickelten Theorie der Erkrankung bedarf, geht jeder Therapie voraus. Somit dient Heilung dem gesellschaftlichen Ziel, den Kranken zu einem Idealzustand von Gesundheit als das Heilsame und Beglückende zurückzuführen. Henning Köhler fühlt sich heute in der eigenartigen Situation, dass Heilstätten und Heilende ein destruktives Ideal verfolgen: das störungsfrei funktionierende Gerät Mensch. Ein solches Trugbild, fährt er fort, übersieht, dass man es mit dem Menschen als einem beseelten Lebewesen zu tun hat, und ein solches kann nicht defekt sein, sondern es leidet.61 Wie Chirons mythische Biographie zeigen auch die von Otto Johannes Schmidt vorgestellten Lebensläufe Menschen, die über eigenes Leid hinauswachsend ihr Leben über die helfende Zuwendung zum Nächsten als sinnvoll begriffen haben. Unbestritten: Chiron ist der Archetyp des Leidenden und Heilenden in Koexistienz. Hier liegt eine seiner Bedeutungen, die über die passive Rolle eines verletzten Heilers hinausgeht, und die auch auf keinen Fall in der Funktion als Diener seiner größeren Nachbarn Jupiter, Saturn und Uranus aufgehen darf. Diesen Standpunkt, Chiron, ohnmächtig und ausgeliefert, auf das Leid und den Schmerz einer unheilbaren Verletzung zu reduzieren, eingeklemmt zwischen saturnischer Begrenzung und uranischer Befreiung, gilt es zu überwinden.62

Anmerkungen

51 Wir müssen lernen mit unseren »Wunden« zu leben, ohne Aussicht darauf, jemals wieder heil zu werden. Wir müssen lernen mit diesen Verletzungen umzugehen und sie bestenfalls nicht noch weiter zu verschlimmern. Im Grunde genommen besteht diese Verwundbarkeit darin, daß wir bereits eine Wunde haben, die wir jedoch nicht akzeptieren Können. [...] Heilung im Sinne Chirons besteht nicht darin, die Wunde irgendwie wegzukriegen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihr zu leben und unser Verhalten entsprechend zu ändern. [...] Wer seine Wunden kennt, ist Balsam für andere. In der Auseinandersetzung mir dem Schmerz finden wir zu einer Reife, die uns zu einem wahren Heiler werden läßt (Markus Jehle, Wenn der Mond im siebten Hause steht ... Kreative Astrologie für Einsteiger, Freiburg i.Br., 1997:48-49). Ebenfalls: Jehle, Wenn Jupiter auf Mars zugeht, S.129-131.
52 Greene, Abwehr und Abgrenzung, S.170. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive muss Markus Jehle und Liz Greene nicht widersprochen werden. Sie übersehen allerdings, dass Chirons Haltung am Ende die von beiden Autoren postulierte Endgültigkeit seiner Verwundung aufhebt, wie im Prometheus-Mythos nachzulesen ist. Dies allerdings auf eine spezielle Weise, über die noch erörtert wird.
53 Erich Neumann verwendet diesen Begriff für die Situation des Kindes in den ersten Lebensmonaten, in denen es sich seiner selbst noch ungenügend bewusst und psychisch noch in der Mutter enthalten ist – die Erfahrung der Getrennt- und Eigenheit steht ihm noch bevor. Im Unterschied zu Freud primären Narzissmus spricht Erich Neumann vom primären Eros-Charakter der Urbeziehung. Freuds Begriff ist schon deshalb kritisierbar, da er eine Subjekt-Objekt-Beziehung postuliert, die es auf dieser Entwicklungsstufe noch nicht gibt (Das Kind, Fellbach, 1980:17).
54 Vgl. auch Jardner, Lichtträger in dunkler Zeit, wo die negativ gelöste Chiron-Thematik in die Nähe der Borderline-Störung gerückt wird.
55 Weiter heißt es: Doch das Kleingedruckte in unserem Vertrag mit Chiron besagt, daß die Wunde eine bleibende ist. Chiron ist eben der Heiler, nicht der Geheilte (Greene, Abwehr und Abgrenzung, S.229).
56 Sasportas, Astrologische Häuser, S.516-517.
57 Vgl. Dieter Koch, Eine visionäre Reise zu Chiron und Pholus, in: von Heeren und Koch, Pholus, S.57ff.58 Kosten, Auftritt, S.17.
58 Kosten, Auftritt, S.17.
59 Schmidt, Persönlichkeiten, S.38. In seiner kurzen Analyse der Radixhoroskope von Albert Schweizer, Mutter Teresa, Aleksander Dubcek oder Yitzhak Rabin fokussiert Otto Johannes Schmidt auf Schlüsselbegriffe wie Verletzung und Heilung beziehungsweise Heil und Unheil im Sinne einer neuen Ganzheit.
60 Schmidt, Persönlichkeiten, S.38.
61 Henning Köhler, Vom Ursprung der Sehnsucht. Die Heilkraft von Kreativität und Zärtlichkeit, Stuttgart, 1998:13-14.
62 Hierzu: Dieter Koch, Visionäre Reise, S.60-67. Vgl. auch Stangenberg, Chiron, S.42.

Chiron, der Schamane

Chiron ist tatsächlich anders als die Anderen,63 denn die Koexistienz von Leiden und Heilen, gebündelt im chironischen Archetypus, zeichnet Chiron als Schamanen aus. Mircea Eliade beschreibt den Schamanen als rituellen Funktionsträger, der durch die eigene Bewältigung von Grenzsituationen diese auch für seine Gemeinschaft auf sich nehmen kann. Die Übernahme dieser Aufgabe gelingt ihm aber nur dann, wenn er Techniken der Magie, Mystik und Religion im weitesten Sinne entwickelt hat, wenn ihm die persönliche innere Erfahrung einer mystischen, einheitlichen Natur zuteil wurde. In dem Maße, in dem er zu einer Theorie seiner psychischen Befindlichkeit vorstößt, seine Erkrankung oder Verwundung formuliert, ist er nicht länger ein passiv leidendes Opfer, wie der Kranke oder der Besessene, sondern meistert seine Geister in dem Sinn, daß er als menschliches Wesen eine Verbindung zu den Toten, den Dämonen und den Naturgeistern zustandebringt, ohne sich dazu in ihr Instrument verwandeln zu müssen.64 Und so scheinen die besten Therapeuten gerade diejenigen zu sein, die sich ihrer eigenen Unvollkommenheit bewusst sind. Und noch etwas anderes zeichnet Chiron als Schamanen aus: Seine Verwundung ist eine Stigmatisierung, und deshalb Bestandteil einer initiatischen Berufung auf einen Mysterienweg. Wie Chiron ist auch Heras parthenogener Sohn, der lahmende Hephaistos, am Bein gezeichnet, der seine Verstümmelung in einer Initiationsprüfung des magischen und schamanischen Typus erwarb. Die durchschnittenen Sehnen oder verdrehten Füße des Hephaistos vergleicht M. Delcourt mit den Initiationsqualen des künftigen Schamanen.65 Wie Chiron erwarb auch Hephaistos sein Wissen als Schmied und Künstler nur unter der Voraussetzung leiblicher Verstümmelung. Während seiner Berufung zum Schamanen erlebte Bokan einen Initiationstraum, in dem der Herr der Taiga die zentrale Person der Einweihung war:

Einer, der der Geisterhorde als Anführer diente, leitete den tanzenden Zug über ein großes Schneefeld auf ein Zeltlager zu. Dort flackerten Feuer, und vor den Jurten wartete eine große Schar Geister. [...] Er (Bokan) spürte keinerlei Schmerz, als die Geister nun an den Haken und Harpunen zerrten und seinen Körper an den Gelenken auseinanderrissen. Sei schnitten seinen Bauch auf und weideten sein Gedärm aus, sein Blut fingen sie in Schalen auf und sammelten es. Dann näherten sie sich wieder dem Kopf, um ihm die Ohren abzuschneiden. Er hörte nichts mehr vom häßlichen Gesang und war froh. Sie schnitten ihm die Nase ab, da brauchte er den Gestank des Unrats im Geisterlager nicht mehr zu riechen. Sie rissen ihm die Zunge heraus und jeden Zahn einzeln. Zum Schluß stachen sie mit Eisenlanzen seine Augen aus. [...] Der Herr der Taiga wies seine Helfer an, Bokans Knochen in die Jurte zu tragen. Dort am Herdfeuer begann er eigenhändig zu schmieden. Aus den Knochen formte er ein neues Skelett und fügte zur Verstärkung die zwölf Hilfsgeister aus dem Rauchloch ein.66

Kenntnisreich skizziert Harald Braem in seinem Roman, wie Bokans Selbst in der Initiation stirbt, und er sich mit den Geistern der Natur vereinigt, um seine künftige Mittlerrolle übernehmen zu können. Hans Findeisen und Heino Gehrts berichten von sibirischen Schamanen, die bis zum Moment des Eintritts in das Schamanenamt qualvollen krankhaften, psychischen und körperlichen Leiden ausgesetzt waren. Sie vergleichen die Initiationsrituale der Jakuten, Tungusen und Burjaten mit dem mystischen Opfertod der Dionysosmysterien, der dazu befähigt, die Krankheiten zu heilen, die von den Geistern verursacht werden, die an den furchtbaren Zerstückelungen Anteil nehmen.67 Stigmata bedeuten besondere Auszeichnungen. Auch im mythischen Kontext öffnen Entbehrungen und Leiden den Sinn für das Verborgene:

Im rituellen und mythischen Zusammenhang kann eine Vielzahl von körperlichen oder geistigen Defekten zugleich Kennzeichen einer außergewöhnlichen Begabung sein und eine Erwählung durch die Götter, eine Berufung zu Höherem anzeigen. Die Morphologie der Erwählung umfaßt ein sehr breites Spektrum. Hierzu zählen – neben bestimmten heiligen Krankheiten oder Verstümmelungen – auch gewisse außergewöhnliche Todesarten.68

Sinn und Funktion, dieser mit körperlichen und psychischen Belastungen verbundenen Initiationsprüfungen, ist die Auslösung gesteigerter innerer Wahrnehmung, die Entwicklung eines multidimensionalen Bewusstseins. Aber erst die Konfrontation mit innerpsychischer Schattenmaterie befähigt den künftigen Schamanen, als Pontifex, die Ebenen verschiedener Wirklichkeiten miteinander zu verbinden. Der Schamane, so Joan Halifax, bildet den Kanal für die Kommunikation zwischen den Spezies.69 In diesen Kontext stellt auch Robert von Heeren die Bedeutung der Kentauren,70 und er spricht von ungewöhnlichen Brückenschlägern. Sie verbinden Saturn mit den Sphären der überpersönlichen transsaturnischen Planeten: Saturn mit Uranus (Chiron), mit Neptun (Pholus) sowie mit Pluto (Nessus) – schön der Reihe nach von Saturns Schwelle im Inneren zu den geistig-überpersönlichen Gefilden Plutos.71 Die Pferdegestalt der Kentauren liefert das adäquate Bild für von Heeren Vermutung, denn das Pferd ist notwendig für den ekstatischen Flug des Schamanen, für den Durchbruch der Ebenen (Mircea Eliade), von einer Welt in die andere. So betrachtet betreten die Kentauren als Botschafter der transsaturnischen Planeten die Bühne der modernen Astrologie.72

In einem ihrer Vorträge über Chirons astrologische Relevanz formuliert Liz Greene die wichtigste Voraussetzung, die Chiron zum Schamanen befähigt: Doch solange wir das Wesen unserer Wunde nicht verstehen, schreibt Liz Greene, können wir sie auch nicht heilen.73 Der Schamane versteht das Wesen seiner Erkrankung, Absonderung und Auserwähltheit aufgrund seines Stigmas und begreift sein Anderssein als Aufgabe für die Gemeinschaft. Chiron und Zeus sind Halbbrüder und somit eng miteinander verbundene, mythische Gestalten (alter ego). Was Zeus betrifft, lässt Chiron nicht unberührt und umgekehrt.74 Gelehrte griechische Spekulation, und die sich entwickelnde griechische Philosophie, verschleierte zunehmend die Beziehung zwischen Chiron, dem seiner Tierheit verhafteten Kentauren, und Zeus, den zivilisierten Olympier, vor allem aber verwischte sie deren gemeinsame Basis im zentralasiatischen Schamamismus.75 Wer wissen will, wer Chiron wirklich ist, erfährt dies nicht unbedingt aus der griechischen Mythologie; zuviel Vorverständnis verlangt sie vom modernen Leser, zuviel setzt sie voraus, was den Zuhörern dieser Mythen noch selbstverständlich war. Sehr sensibel dem Wesen Chirons nachspürend, hat eine der großen zeitgenössigen Dichterinnen, Marie Luise Kaschnitz, das Rätsel um den weisen Kentauren gelöst. In ihren literarischen Reflektionen über einzelne griechische Mythen hat sie auch Chiron charakterisiert, und den Schleier über das Dunkel seines Wirkens ein wenig gelüftet:

Der Knabe lauschte in atemloser Begier, und wie Bergwasser und Tierblut seinen Körper mit magischer Kraft gestählt hatten, so wuchs ihm nun aus solchen Erzählungen ein anderes zu, die Kraft der Seele, der Thymos, und es erfüllte ihn eine unbezwingliche Sehnsucht, sich zu bewähren im Kampf. [...] Wild war er und rauh zu Beginn, weiblüstern und toll wie die anderen Kentauren, und diesem die Knaben anzuvertrauen hieß wohl, sie der wilden Natur anheimzugeben zu Gedeih und Verderb. Denn die wilden Männer der Berge bedeuten ja nichts anderes, als die urgewaltigen und verheerenden Kräfte der Natur. Sie peitschen das Wasser, ihr Atmen ist der Sturm, ihr dröhnender Hufschlag der Donner und das Beben der Erdtiefe. Dem Ansturm müssen die Knaben standhalten, im Wettkampf mit ihnen müssen sie ihre Kräfte erproben. Wer sich an der Mutterbrust der Natur nicht sättigen kann, wer nicht lernt, Heilsames von Schädigendem zu unterscheiden, wer nicht mit wachen Sinnen und gelenken Gliedern seine Nahrung greift, der ist verloren und bald vergessen. Die siegreich Zurückkehrenden aber finden sich zu großen Taten bestimmt.76

In Grimms Märchen Der Eisenhans tritt Chiron als wilder Mann auf, vollständig behaart, der in einem von Menschen gemiedenen, gefährlichen Wald einen Brunnen (Quelle) hütet:

Es war einmal ein König, der hatte einen großen Wald bei seinem Schloß, darin lief Wild allerart herum. Zu einer Zeit schickte er einen Jäger hinaus, der sollte ein Reh schießen, aber er kam nicht wieder.77

Chiron und Eisenhans verbindet nicht nur die Wildheit ihrer Natur, sondern insbesondere ihre Behaarung, die Eisenhans ganzen Körper bedeckt:

Als der Jäger das sah, ging er zurück und holte drei Männer, die mußten mit Eimern kommen und das Wasser ausschöpfen. Als sie auf den Grund sehen konnten, so lag da ein wilder Mann, der braun am Leib war wie rostiges Eisen, und dem seine Haare über das Gesicht bis zu den Knien herabhingen.78

Auch Chiron, dessen tierischer Unterleib zumindest stark behaart ist, tritt zuerst als ein wilder Kentaur auf, bevor er, seiner Weisheit wegen, eine besondere Position unter den anderen Kentauren bekleidet. Ungewöhnlich starke Behaarung wird bis heute mit potenzierter Männlichkeit, Instinkthaftigkeit und Sexualität in Verbindung gebracht. Chirons Wildheit und Behaarung gehören zur Erde und ihren Tieren, das hat schon Marie Luise Kaschnitz erkannt, ein Zusammenhang, den das Grimmsche Märchen gleich im einleitenden Es war einmal ... festhält. In seiner Interpretation des Märchens Der Eisenhans hält Robert Bly fünf Assoziationen fest, die mit dem Phänomen der starken Körperbehaarung einhergehen: sexuelle Energie, das Leben in der Natur und mit den Tieren des Waldes, Heißblütigkeit, Exzessivität des Wesens und das Sprießen der Gedanken. Haare, so schreibt er, sind Intuition. Haare sind die Fülle der Wahrnehmungen, Einsichten, Gedanken, Ressentiments, Bilder, Phantasien, die nur darauf warten, sich an die Oberfläche zu drängen,79 so wie Eisenhans, einmal geweckt, aus dem tiefen Pfuhl im Walde steigt. Es ist nicht eigenartig, dass die prähellenischen Griechen ihre Söhne in den Wald zu einem solchen Wesen schickten, einem Initiationsmeister. Sie taten dies in der absoluten Überzeugung, dass ihnen nur dort die Erziehung zuteil wurde, die sie zu Helden machte, als die sie die griechische Mythologie überliefert hat. Söhne, dies haben allein die westlichen Industrienationen vergessen, müssen zuerst wild werden, bevor sie den Status des erwachsenen Mannes erreichen können. Alte weise Männer wie Chiron und Eisenhans gewährleisteten einst in allen Kulturen eine Sozialisation, die den Sohn zu Manne machte, der seine inneren Dämonen überwunden und nur deshalb verantwortlich seine gesellschaftliche Rolle ausfüllen konnte. Chiron ist zwar der wilde Mann, aber kein Barbar, wie das wohl spät entstandene Mythologem vom unzivilisierten Kentauren nahe legen will. Am Ursprung sind Wesen wie Chiron und Eisenhans wohl archaische Waldgeister.80 Und wie gezeigt wird, ist es auch nicht eigenartig, dass die spätere griechische Mythologie Chiron, den wilden Mann, zum Menschenfreund stilisierte, den Michael Köhlmeier, im Gegensatz zu Marie Luise Kaschnitz, als den tadellosesten Pädagogen in der griechischen Mythologie würdigt, als einen gütigen, weisen und freundlichen Erzieher, als einen Lehrer, der die Söhne griechischer Götter und Heroen zu würdigen Nachfolgern ihrer Vater ausbildete.81 Die griechische Mythologie erzählt von Chiron-Schülern, die verschiedenen Epochen angehörten, unter ihren so hervorragende Helden wie Peleus, Asklepios, Achilleus, Patroklos, Aktaion, Dionysos, Iason, Aeneas und nicht zuletzt Herakles, die diese Ausbildung durchliefen. Nach Abschluss ihrer Erziehung war Chiron ihnen allen ein innerer Lehrer geworden.82

Chirons Art zu lehren ist eng mit seiner Pferdegestalt verbunden, die in einer innigen Beziehung zu seiner Funktion als Schamane steht. In den prähellenischen und indoeuropäischen Kulturen galt das Pferd als Reittier des Schamanen, notwendig für seinen ekstatischen Flug. Besonders deutlich ausgeprägt ist diese Vorstellung in Sleipnir, dem achtbeinigen Pferd Óðinn, das die materielle Welt mit der Welt des Unsichtbaren verbindet. Der Hengst Sleipnir, den Óðinn im Wipfel Yggdrasills anbindet, ist der Wind, auf dem der Gott einherstürmt, und seine acht Beine symbolisieren die acht Himmelsrichtungen des Kompass. Vom Windgott ist es zum Toten- und Seelenführer und zum Urheber nicht nur der Kriegskunst, sondern aller Künste und Wissenschaften, nicht all zu weit. Erst auf Sleipnir reitend wird der Götter-Vater Óðinn zum Psychopomp. In einem symbolischen Akt, der den Wechsel der Wahrnehmung und Wirklichkeit darstellt, versetzt sich der zentralsibirische Schamane, auf seinem Pferdefell sitzend, in Ekstase. Um seinen Freund Waldhari vor Attilas Zugriff zu retten, besteigt der Gebicunge Hagen, von den Hunnen zum

Als die Tür versperrt und die Kerzen angezündet waren, entrollte Hagen die schwarzsilberne Pferdehaut und breitete sie in der Mitte des Raumes aus. Die Pilze des Gulya schmeckten trocken und nach Moschus, fast bitter; es war der Beigeschmack aller Tränke, die ihm der Gulya zu trinken gegeben hatte. Ein Pilz würde genügen, um zusammen mit dem leisen Trommelschlag Blut durch die Geisteradern des Rosses unter ihm fließen zu lassen, die Haut mit Knochen zu füllen, Muskeln darüber schwellen und endlich Atem durch die Lungen strömen zu lassen, damit ein Herz unter Hagens Beinen schlug.83

In diesen Zusammenhang gehören auch die Teilnehmer an den eleusischen, dionysischen und orphischen Mysterien – wie die Kentauren, Satyrn und Mänaden des Dionysos – die rituell geheime Pilzkulte zelebrierten, um ein Gefühl universeller Erweiterung und Erleuchtung zu erreichen. Die rituelle Verwendung des Fliegenpilzes durch die indoeuropäischen Schamanen stellt nur ein weiteres Beispiel für eine universelle Technik dar, deren Ziel in der Beförderung von Bewusstseinserweiterung und Ekstase bestand.

Die Mythologie Chiron bezieht sich auf einen schamanischen Pferdekult zu einer Zeit, als solche Rituale schon nicht mehr allgemein üblich waren, als die griechische und vor allem die römische Kultur schon moderatere pädagogische Methoden entwickelt hatte, das Überleben in der Natur nicht mehr erste Prioriät war. Entsprechend änderte sich auch die Persönlichkeit Chirons. Er blieb nicht der wilde, bärtige und rossegestaltige Schamane, der seine Schüler mit sich selbst konfrontierte, der sie das Überleben in der Wildnis lehrte und sie mit klarem Bergwasser und den Herzen von Löwen und Ebern ernährte. In dem Maße, in dem er als philanthropischer Heiler stärker in den Vordergrund trat, wandelte Chiron sich vom archaischen Schamanen zum Paidagogos im Sinne Platons:

Zu seiner Erziehung gehören nun menschliche Tugenden, Selbstzucht, Ehrfurcht und Gerechtigkeit und an die Stelle der Lebenserhaltung und des Rechts des Stärkeren tritt die Bewährung im Dienste des bedrängten Freundes, der ungerecht Leidenden, des heimgesuchten Volkes.84

Die römische Zivilisation zähmte zuletzt den wilden Kentaur, und brachte dessen beste Fähigkeiten zum Vorschein. Obwohl der Kentaur Chiron der große Wissende der tiefen Geheimnisse der Erde blieb, transformierte er schon unter klassischem griechischen Einfluss allmählich in den milden und weisen Ratgeber, den frommen Deuter des Schicksals und vermittelte so zwischen Erde und Himmel (Olymp).

Wie der altgermanische Óðinn bezieht aber auch Chiron seinen Charakter und seine Funktion aus schamanistischer Tradition. Seine Initiation, in der er seine ihn auszeichnende und stigmatisierende Wunde erwarb, sowie seine Beziehung zu einem prähellinischen Pferdekult, in der Chiron die Rolle eines Priester-Königs zukam, der über magisches Wissen und heilende Kompetenzen verfügte, stellen ihn in die Reihe anderer großer Schamanen der griechischen Mythologie, zuallererst Zeus selbst, aber auch Orpheus, Hephaistos oder Dionysos, in deren Mythologie die Beziehung des griechischen Schamanen zu Trance, Ekstase und magischer Divination, dem seidhr er altnordischen Kultur, viel deutlicher formuliert ist. Mircea Eliade bezeichnet mythische Gestalten wie Chiron auch als Archetyp des schrecklichen Herrschers.85 Sie sind, wie der indische Varuna oder der griechische Hephaistos, Meister des Bindens und Lösens zugleich.86 Auch im Zusammenhang der griechischen und germanischen Kultur gehören diese Götter in den Komplex indoeuropäischer, schamanistischer Traditionen; sind sie – wie Zeus, Chiron und Óðinn - die Meister der Magie.87 Dass solche magischen Überzeugungen universell sind, belegt Paul Wirz, der auf die Funktion magischer Gewebe in Indonesien hingewiesen hat:

Ist die Faser, die Schnur verknüpft, verschlungen oder zu einem Gewebe verflochten, so sind die Kräfte gebunden und werden erst wieder frei, wenn der Knoten oder das Gewebe durchschnitten wird. Am stärksten gebannt sind die Kräfte selbstredend im Gewebe.88

Wie bereits erwähnt verfügt Chiron über keinen eigenen Mythos; vielmehr ist sein Lebenslauf in die großen Heldenzyklen des antiken Griechenlands eingeflochten. Sucht man in diesen Mythen nach Gestalt und Wirken Chirons, so fallen drei Phasen seiner Biographie besonders auf: seine Verwundung, die zufällig und absichtslos erscheint, die Unheilbarkeit dieser Wunde, trotz Chirons umfassender Kompetenz als Heiler und Phytotherapeut sowie seine Unsterblichkeit, die vom üblichen Kentaurenbild in der griechischen Mythologie erheblich abweicht. Was die Mythen aber verschweigen, beziehungsweise einst als bekannt voraussetzten, ist die Art und Weise, in der Chiron ausbildete. Marie Luise Kaschnitz empfindet Chirons Pädagogik für den modernen Leser äußerst anschaulich nach. Was sie beschreibt ähnelt den Initiationsritualen, die Ethnographen in außereuropäischen Kulturen untersucht haben. Arnold von Gennep und Victor Turner haben die Struktur solcher Rituale ausführlich analysiert:

  • Phase 1: die rituell zugefügte Verletzung - Trennungsritual
  • Phase 2: die Unheilbarkeit der Wunde der Abstieg in die Unterwelt - Liminalität (rituelle Absonderung)
  • Phase 3: die Wiedergewährung der Unsterblichkeit - Intergrationsritual

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die prähellenischen Griechen für ihre Einweihungsrituale eine andere Struktur bevorzugt haben.89 Ziel dieser Studie ist es daher, die Kohärenz dieser drei Phasen in Chirons Leben nachzuweisen und sein Auftreten in der Mythologie als symbolisches Bild für die drei rituellen Stationen einer Mysterieneinweihung aufzufassen.

Anmerkungen

63 Eva Stangenberg, Anders als die Anderen, in: MerCur 6, 1999, S.17-18.
64 Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt a.M., 1975, S.15. Im gleichen Zusammenhang spricht Eliade vom Schamanen als einem Spezialisten der Trance, einem Ekstasetechniker per se.
65 M. Delcourt berichtet über die rituellen Verstümmelungen der Magier, Héphaistos ou la légende du magicien, Paris 1957, S.110; hier: S.42ff.
66 Harald Braem, Der Herr des Feuers. Roman eines Schamanen, München, 1997, S. 42.
67 Hans Findeisen und Heino Gehrts, Die Schamanen. Jagdhelfer und Ratgeber, Seelenfahrer, Künder und Heiler, Köln, 1983, 60f. Ebenfalls: Wie Aua den Geistern geweiht wurde. Geschichten, Märchen und Mythen der Schamanen, herausgegeben von Olga Rinne, Darmstadt und Neuwied, 1983.
68 Leo Maria Giani, In heiliger Leidenschaft. Mythen, Kulte und Mysterien, München, 1994, S.128 sowie S.154ff.
69 Joan Halifax, Shaman: The Wounded Healer, London, 1982, S.13. Ebenfalls: Shaman Voices, Harmondsworth, 1979.
70 Die Gruppe von Kleinplaneten, die Neptun aus dem Kuipergürtel – jenseits der Neptun- und Plutobahn - auf ihre aktuellen Umlaufbahnen lenkte. Die Kentauren sind eine Gruppe von derzeit sieben Kleinplaneten – fünf davon wurden inzwischen mit Kentauren-Namen der griechischen Mythologie benannt (Chiron, Pholus, Nessus, Chariklo und Asbolus). Auf stark elliptischen Bahnen kreisen sie zwischen Saturn und Pluto um die Sonne.
71 Die Arbeit mit den neuen Kentauren, wird die astrologische Bedeutung Chirons differenzieren und klären helfen (Robert von Heeren, Nessus, der dritte Kentaur, in: MerCur 4, 1997, S.12-15; hier S. 14; für Chariklo und Asbolus vgl. Robert von Heeren, Planetentaufe. Wie Astrologen und Astronomen kooperieren, MerCur 6, 1999, S.19). Wie Chiron, so argumentiert Robert von Heeren, sind auch Pholus und Nessus, jeder auf seine einzigartige Weise Lehrer für eine Öffnung zum Transpersonalen (Nessus, S.14).
72 Für die Sichtweise der Kentauren als Boten / Schlüssel der Transsaturnier vgl. von Heeren, Nessus, S.14.
73 Greene, Abwehr und Abgrenzung, S.228.
74 Ebenfalls Jardner, Lichträger in dunkler Zeit, o.S.
75 Die Genese des Himmelsgottes und Göttervaters Zeus aus dem zentralasiatischen Schamanismus habe ich an einer anderen Stelle diskutiert (Herbert W. Jardner, Óðinn, Zeus und Jupiter).
76 Marie Luise Kaschnitz, Griechische Mythen, Hamburg, 1943, S. 20 und 21.
77 Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, Teil 3, Marburg, 1981, S.30.
78 Ebd. S.32.
79 Robert Bly, Eisenhans. Ein Buch über Männer, München, 1993, S.76.
80 Kurz, wir sind gezwungen, das Austreiben des Todes und Hereinholen des Sommers wenigstens in manchen Fällen lediglich als eine andere Form des Sterbens und Auferstehens des Vegetationsgeistes im Frühling zu betrachten das wir an der Tötung und Wiederbelebung des Wilden Mannes beobachtet haben (James Frazer, Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker, Frankfurt a.M., 1989, S.459). Die Form des Sterbens, für das die Natur in diesem Bild ihr Vorbild liefert, ist das hier behandelte Thema.
81 Michael Köhlmeiers neue Sagen des klassischen Altertums, Von Eos bis Aeneas, München, 1997, S.137.
82 Melanie Reinhart glaubt, der Planet Chiron symbolisiert vor allem folgendes: den Geist philosophischer Unabhängigkeit, Mitgefühl angesichts unseres Leidens und die Entwicklung unseres Vertrauen auf unseren inneren Lehrer oder Führer (Chiron, S.15). Neuerdings greift Grimaldi die These Melanie Reinharts vom inneren Lehrer wieder auf (Seelenführer).
83 Stephan Grundy, Wodans Fluch, Frankfurt a.M., 1996, S.510.
84 Kaschnitz, Mythen, S.22.
85 Eliade, Schamanismus, S.361.
86 Mircea Eliade, Schamanen, Götter und Mysterien. Die Welt der alten Griechen, Freiburg i.Br., 1992, S. 34-35. Vgl. auch Georges Dumézil, Mythes et dieux des Germains, Paris, 1939, S.19f.
87 Eliade, Schamanismus, S.361. Knoten, Netze, Schnüre, Seile und Fäden gehören zu den bildlichen Ausdrucksmitteln der magisch-religiösen Kraft, die unerlässlich ist, um befehlen, regieren, bestrafen, lähmen und tödlich treffen zu können; sie sind letztlich subtile und paradox-fragile Ausdrucksformen einer schrecklichen, übermäßigen und übernatürlichen Macht (Eliade, Schamanen, S.35).
88Paul Wirz, Die magischen Gewebe von Bali und Lombok, Jahrbuch Bernisches Historisches Museum 11 (1932), S.129-139; hier S.129.
89 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a.M. und New York, 1986; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. und New York, 1989.

Chirons Schüler

In der germanischen Mythologie badet Siegfried im Blut des Drachen Fafnir; so wird er unverwundbar und erwirbt seine neue Identität. Chiron ist nicht der einzige unheilbar verletzte mythische Protagonist, den das antike Griechenland kannte – es gab andere, die seinem Schicksal verbunden, und wie er, mit der geheimnisvoll transformierenden Kraft eines besonderen Saftes konfrontiert waren: seine Schüler. Als Perseus das Haupt der Medusa abschlug, tropfte ihr Blut auf den Boden, und Kräuter wuchsen, aus denen Heilmittel und Gifte gewonnen wurden. Von Asklepios, dem Sohn Apollons und der sterblichen Koronis, erzählte man, dass er sehr zum Zorn der Brüder Zeus und Hades, mit dem Blut der Medusa, Tote zum Leben erweckte.
Ein Blick auf die Mythologie der Schüler Chirons, insbesondere auf Herakles, Achilleus, Jason und Asklepios, auf ihren Tod und auf ihr weiteres Schicksal, verdeutlicht den zentralen Aspekt der Chiron-Mythologie. Dieser lässt sich aus Chirons Wirken nur indirekt erschließen, weil sein Mythos zu diesem Thema schweigt: Sinn und Funktion seiner unheilbaren Verletzung. Interessant sind die verschiedenen mythischen Protagonisten, die Chirons Schicksal teilten oder wiederholten, vor allem wegen der Schüler-Lehrer-Beziehung zwischen den genannten Helden und Chiron selbst. Warum, so lautet die unvermeidliche Frage, erlitten Chirons Schüler ein mit dem seinen vergleichbares Schicksal?

Herakles rettete seine spätere Gemahlin Deianeira vor der Vergewaltigung durch den Kentauren Nessos, den er tötete. Bevor dieser starb prophezeite er Deianeira, dass sie Herakles heiraten werde. Nessos überredete sie, sein Blut aufzufangen, und empfahl ihr dieses Blut als Liebeszauber, als wirkmächtig zwingendes Mittel, mit dem sie sich die ewige Liebe des Helden sichern kann. Jahre später veranlasste Hera, die Herakles in Erinnerung an die Untreue ihres Gatten hasste, Deianeira durch eine List, Herakles Gewand mit dem Blut des Nessos zu bestreichen.90 Das Gewand, das darum Nesselkleid genannt wird, brannte auf der Haut des Herakles wie Feuer, klebte fest und ließ sich nicht mehr ablösen: es verbrannte vielmehr jeden, der damit in Berührung kam. Herakles riss es sich zusammen mit der Haut vom Leibe – sein ganzer Körper wurde zu einer einzigen, schmerzhaften und unheilbaren Wunde. Schreiend brach er zusammen, konnte aber nicht sterben. Auf den Rat seines Vaters Zeus, errichtete er einen Scheiterhaufen und bat einen des Weges kommenden, diesen anzuzünden. Es war Poias, der Vater des Philoktetes, der Herakles erlöste und im Tausch für diese Erlösung forderte er den immertreffenden Bogen und die Pfeile des Herakles, die Poias an seinen Sohn weitergab.

Die griechische Mythologie überliefert auch die Geschichte des Helden Philoktetes, des Anführers der thessalischen Bogenschützen. Es ist nicht überliefert, ob Philoktetes einer der Schüler Chirons war. Wie dieser litt er aber an einer Wunde, die lange unheilbar war. Philoktetes, er besaß den Bogen des Herakles, der den Trojanischen Krieg entscheiden sollte, wurde bei einem Opfer an die Göttin Chryse von einer giftigen Schlange in den Fuß gebissen. Seine Wunde eiterte und schmerzte so stark, dass sich die Griechen gezwungen sahen, den unheilbar verwundeten Philoktetes auf der Insel Lemnos zurückzulassen. Erst als Helenos, der von Odysseus gefangene Seher der Trojaner, prophezeite, Troja könne nur mit Hilfe des Bogens des Herakles besiegt werden, holten die Griechen Philoktetes zurück in ihr Heer. Der Mythos erzählt, dass es einem der Söhne des Asklepios, nämlich Machaon, gelang, Philoketes von seiner unheilbaren Wunde zu heilen. Interessant an dieser Geschichte ist die Ursache der Verletzung des Philoktetes durch den Biss einer giftigen Schlange, die er im Zusammenhang mit einem Opfer an die Göttin Chryse erlitt. Die Rolle des Philoktetes bei diesem Opfer lässt der Mythos offen, als wichtig erwähnt er nur den Biss der Schlange und die Art der dadurch verursachten Wunde. Auch die Beziehung der Schlange zur Göttin Chryse und ihrem Kult, dem die Griechen auf ihrem Weg nach Troja, auf den Rat des Philoktetes hin, Tribut zollten, bleibt offen. Als Symbol der Erdgöttin, der Großen Göttin, sind Schlange, Drache und Hydra jedoch Wesen, deren mythologische Präsenz in der Regel mit besonderem Blut, Unverletzlichkeit und Transformation einhergehen. Unzweifelhaft ist auch, dass Philoktetes die Wunde Chirons im Kontext eines Rituals empfing, die dann aber so übel zu riechen begann, dass die Griechen Philoktetes nicht mehr in ihrer Nähe ertragen konnten. Auch Chirons Wunde war unheilbar und schmerzte den Kentauren unaufhörlich. Philoktetes Wunde, so wird berichtet, veränderte den Charakter des Helden: vorher war er ein fröhlicher Mann, nach seiner Verletzung beschimpfte er jeden, wurde zänkisch, böse und zynisch und vor Schmerzen jammernd und klagend – ganz das Bild des unerlösten Chiron wie es von der Astrologie beschrieben wird. Durch die Gnade und Kunst Apollons – und weil er für die Wendung des Kriegsglücks der Achaier unersetzlich war – überlebte Philoktetes seine Verletzung.
Das Philoktetes-Mythologem schildert die drei Phasen des von Arnold von Gennep beschriebenen Übergangsrituals (»rites de passage«); Übergangsritual deshalb, weil es den Initianden in einen anderen Status und in eine andere gesellschaftliche Rolle transformierte. Aufgrund der Wichtigkeit solcher Übergänge halte ich es für gerechtfertigt, eine besondere Kategorie der Übergangsriten zu unterscheiden, die sich bei genauer Analyse in Trennungsriten (»rites de seperation«), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (»rites de marge«) und Angliederungsriten (»rites d ́agrégation«) gliedern. Übergangsriten erfolgen also theoretisch in drei Schritten: Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase und Angliederungsriten die Intergrationsphase.91 Die drei Phasen, die Philoktetes bis zu seiner Wandlung durchlaufen musste, schildert der Mythos, obwohl ansonsten vage, sehr genau. Der Biss der Schlange und die unheilbare, übel riechende Wunde trennten Philoktetes vom Heer der Achaier (Trennungsritual) – niemand konnte die Unperson des Schwellenwesens, gekennzeichnet durch eine außergewöhnliche Verletzung - mehr ertragen. Als die Achaier ihren Weg nach Troja fortsetzten, blieb Philoktetes einsam und isoliert auf Lemnos zurück (Schwellen- bzw. Umwandlungsphase).92 Nach Abschluss seiner Vorbereitung auf seine künftige Aufgabe, wird er durch Odysseus und Neoptolemeos, zwei mächtigen, erfahrenen Kriegern, in das Heer vor Troja reintegriert (Integrationsphase). Die Heilung durch Machaon, einer der Söhne des Asklepios und Enkel des Apollons, bildet den Abschluss und die öffentliche Bestätigung seiner Wiedergeburt als Krieger.
Nachdem Philoktetes geheilt werden konnte, verletzte er Paris tödlich und entschied die Schlacht mit der Waffe des Herakles. Ovid berichtet, dass Paris nur sterben musste, weil die Nymphe Oinone, aus Rache, da Paris sie Helenas wegen verstieß, die notwendigen Heilkräuter zurückhält, die seine Wunde hätten schließen können. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass auch Paris den in Hydrablut getauchten Pfeilen des Herakles zum Opfer fiel. Auffällig ist wiederum, dass auch die Heilung der Verletzung des Paris den Göttern vorbehalten ist, wie auch Machaon Philoktetes nur heilen konnte, weil durch ihn Apollon wirkte.

Chiron, Herakles und Philoktetes erlitten unheilbare Verletzungen, verursacht durch die Kontaminierung mit dem wirkmächtigen Blut nicht-menschlicher Kreaturen, Repräsentantinnen der Erdgöttin. Wie Chiron so erkrankte auch Philoktetes durch die im Hydrablut vergifteten Pfeile des Herakles – und durch Philoktetes wiederum Paris. Was Chiron, Herakles, Philoktetes und Paris unterscheidet ist nicht so sehr ihre Krankheitsgeschichte, sondern der Umgang mit ihrer Erkrankung. Allein Chiron gelingt es, die Weisheit zu entwickeln, seine Krankheit ganz im Sinne Ibn`Umars zu nutzen, der lehrte, in der Welt zu sein, wie ein Fremder oder Durchreisender, und der die Weisheit pries, seine Krankheit für den Fall seiner Gesundheit, sein Leben für seinen Tod zu nutzen. Herakles und Paris sterben schließlich an ihrer Wunde, und Philoktetes verzweifelt im Zustand er Limination, bis ihn Apollon erlöst. Herakles erlitt seinen Tod durch das Blut eines der unzivilisierten Kentauren, das im Mythos dem unheilbare Wunden verursachenden Blut der Hydra entspricht. Seine Unsterblichkeit und Aufnahme in den Olymp ermöglichte ihm sein Vater Zeus, der ihn als sichtbares Sternbild an den Himmel versetzte – auch in diesem Detail überschneiden sich die Biographien von Chiron und Herakles.

Wenn auch nicht identisch, so ist auch der Tod des größten Helden vor Troja – des Achaiers Achilleus – mit der Verletzung Chirons verwandt; in der Mythologie finden sich allenfalls Andeutungen. Verursacht wurde Achilleus Tod durch einen Pfeil des Paris, den der Wille Apollons, des Ziehvaters Chirons, treffsicher ins Ziel lenkte. Als Kind wurde Achilleus von seiner Mutter Thetis, dem Beispiel Demeters folgend, gekocht, um ihn so unverwundbar und unsterblich zu machen. Weil sein Vater Peleus die Zeremonie unterbrach, blieb die Absicht der Thetis unvollendet, die Ferse des Achilleus blieb verwundbar.93 Thetis Fürsorge für ihren Sohn, ihm das chironische Dilemma zu ersparen, und ihn so den Unsterblichen gleichzustellen, denen irdische Entwicklung in Raum und Zeit, in Glück und Leid, nichts gilt, scheiterte; Achilleus behielt seinen chironischen Punkt und blieb sterblich. Der Pfeil des Paris, den Apollon lenkte, verletzte ihn an seiner empfindlichsten Stelle, seiner Ferse; dass er vergiftet war, ist gewiss, da eine solche Wunde kaum tödlich ist.94 Apollon, der Gott, dem Chiron seine Kunst zu heilen verdankte, der die Heilung des Philoktetes einleitete, tötete Achilleus auf chironische Weise mit dem Pfeil, der auch das Schicksal seines Lehrers war – und zwar erneut am Bein. Nach seinem Tode ging Achilleus in die elyseischen Gefilde, auf die Inseln der Seligen ein, nicht in den Hades wie gewöhnliche Sterbliche. Als Sohn des Kronos und der Nymphe Philyra war Chiron von Geburt an unsterblich; Herakles und Achilleus, beide Kinder von Göttern und Menschen, erlangten Unsterblichkeit erst nach ihrem Heldentod; das jenseitige Schicksal von Philoktetes und Paris ist nicht überliefert.

Auch die Biographie des Argonautenführers Iason, eines anderen Schülers Chirons, reicht in den hier erläuterten Zusammenhang von Blut und unheilbarer Verletzung hinein. Iasons, Sohn des Aisons eigentlicher Name lautete Diomedes. Es war Chiron, sein Erzieher, der ihm seinen Ritualnamen Iason, Heiler, gab. Iason, so Robert von Ranke-Graves, heilte wie Parzival das von Dürre und Pest geplagte Land seiner Väter (Orchomenos in Böotien), das durch die Flucht des Phrixos von den Göttern verflucht wurde.95 Iasons Tod ist für das Ende eines griechischen Heroen vergleichsweise undramatisch. Er hatte die Argo am Isthmos von Korinth dem Gott Poseidon geweiht. Als er eines Tages unter ihr saß, erschlug ihn Zeus in der Gestalt des sprechenden Kielbalken der Argo, der ihm einst aus geweihten Holz geschnitzt wurde. Dennoch spielt das Blut des Kentauren in Jasons Biographie eine wichtige Rolle: Mit dem Blut eines toten Kentauren bestrich die aus Kolchis stammende Medeia das Kleid ihrer Nebenbuhlerin, ihr Hochzeitsgeschenk an sie, da Glauke ihr Iasons Liebe stahl. Glauke erleidet das Schicksal und den Tod des Herakles, sie verbrennt unter Qualen in ihrem Kleid. Ihr Vater, der hinzu kommt, um sie zu retten, verbrennt mit ihr. Warum Glauke, und nicht Isaon, den Tod durch Kentaurenblut erleiden musste, bleibt gelehrter Spekulation überlassen. Ist der mythische Bericht von Iasons Ende ungenau oder ideologischer Manipulation unterworfen, verbrannte Glauke vielleicht stellvertretend. Ging auch Iason nach seinem Tod auf die Insel der Seligen, das Domizil griechischer Helden, körperlich unversehrt ein oder musste er sich mit dem Aufenthalt im Hades abfinden? Auffällig an Iasons Tod ist jedenfalls, und das verbindet ihn mit dem Schicksal der anderen Chiron-Schüler, das durch Zeus gewaltsam gesetzte Ende, das bei näherer Betrachtung an die barmherzige Heimführung in den erlauchten Kreis Auserwählter erinnert.

Ein weiterer Auserwählter und Schüler Chirons ist der berühmteste Arzt der Antike, Asklepios. Die ursprüngliche Natur des Asklepios ist umstritten, fest steht, dass er in historischer Zeit als Gott verehrt wurde; ob er aber ein Gott oder Heros war, bleibt dennoch fraglich. Asklepios ist der Sohn Apollons, des Gottes der Heilkunst und der sterblichen Koronis, Tochter des Phlegyas.96 Die von Apollon schwangere Koronis verschmähte den Gott wegen ihres sterblichen Liebhabers Ischys. Ergriffen von Zorn und Schmerz bat er seine Schwester Artemis, die untreue Koronis mit ihrem Pfeil zu töten; den noch ungeborenen Asklepios befreite Artemis aus dem Uterus und übergab ihn Apollon. Es war die einst weiße Krähe (Rabe), die den eifersüchtigen Apollon über die Untreue der Koronis aufklärte, und deren Federn sich durch des Gottes Zorn schwarz färbten.97 Den kleinen Asklepios übergab Apollon der Obhut des Erziehers Chiron, der ihn in die Heilkunst einführte. Schon bald erreichte Asklepios darin höchste Vollendung. Als einziger der zahlreichen Schüler Chirons tritt Asklepios dessen Nachfolge als Heiler an, geht den gleichen Weg wie er, wenn auch mit anderen Zielen und unter anderen Voraussetzungen. Noch Schüler und unter Anleitung Chirons heilt Asklepios zuerst auf traditionelle Weise: durch Kenntnis der Kräuter und durch magische Mittel, durch Reinigung, Besprechung und wundertätigen Schlaf. Vom Leiden der Menschen erschüttert, vollzog Asklepios schließlich die Wende zu einer Medizin, welche die Geburtsstunde der modernen Schulmedizin markiert. Asklepios Ehrgeiz richtete sich zunehmend darauf, alle Leiden zu heilen. Was ihn interessierte war die Frage: Wie kann der Mensch unsterblich werden? Was kann die Medizin unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen? Kann sie den Menschen vor Hades bewahren? Als Hippolytos, ein Liebling der Artemis, starb, flehte diese ihn an, ihm das Leben zurückzugeben, und Asklepios befreite ihn aus der Unterwelt. Robert von Ranke-Graves weist darauf hin, dass Athena und Asklepios nach der Enthauptung der Gorgo deren Blut untereinander aufteilten. Während Asklepios das Gorgo-Blut dazu verwendete, Leben zu retten, benutzte seine Mutter das gleiche Blut zur Anstiftung von Mord und Krieg.98 Durch seinen Lehrer Chiron war Asklepios mit der Handhabung des giftigen Schlangen- und Drachenblutes vertraut. Im Zusammenleben damit entwickelte er eine homöopathisch wirkende Medizin, die nach dem Grundsatz des Similia similibus curentur verfuhr. Mit dem in homöopathischer Dosierung verdünnten Blut der Gorgo Medusa, der gleiche Stoff, der Chiron und seine Schüler unheilbar erkranken ließ, begann Asklepios zu heilen: Das Blut der Medusa bewahrte Asklepios Patienten vor dem Tode, erweckte andere gar zur Unsterblichkeit, bis allmählich niemand mehr in die Unterwelt kam. In seiner Neuerzählung griechischer Mythen streift Michael Köhlmeier die Problematik, die den Göttern durch die innovative Medizin des Asklepios erwuchs. In einem aktualisierten Sprachkostüm schildert er, wie Hades zu Zeus kommt, und diesen um Hilfe bittet:

Es stört mich nicht so sehr, so Hades, daß vielleicht keine Menschen mehr sterben. Es stört mich nicht einmal so sehr, daß dieser Herr Asklepios die Toten aus meinem Reich herausholt. Aber es stört mich die offensichtliche Ungerechtigkeit. Entweder sind alle Menschen sterblich, oder alle Menschen sind unsterblich. Entweder werden alle Menschen in den Hades gebracht, oder es werden alle Menschen aus dem Hades ins Leben zurückgeführt. Ich weiß ja, daß sie alle verrückt nach dem Leben im lieben Sonnenlicht sind. Aber ich kann es nicht dulden, daß einige privilegiert sind und zurückgeholt werden und andere nicht.99

Was Hades hier kritisiert, benötigt kaum weitere Erklärung: Es ist der Raub eines göttlichen Privilegs, die Verleihung der Unsterblichkeit. Zeus, der Bewahrer der kosmischen Ordnung, akzeptierte diese Beschwerde ohne Widerspruch. Die sterblichen Helden, Herakles und auch Achilleus, verdankten ihre Unsterblichkeit dem Göttervater Zeus, Hippolytos und andere erhielten sie durch die Kunst des Menschen Asklepios. Mit dem Blut der Medusa widersetzte sich der geniale Chiron-Schüler auf geradezu prometheische Weise den Göttern, glaubte in seiner Hybris gar, sie und ihre Unterwelt überflüssig zu machen. Einst musste der Tag kommen, so Marie Luise Kaschnitz in ihrem Essay,

an dem sich der menschgestaltige Heiland und Göttersohn löst von dem erdverbundenen Mischwesen (Chiron), an dem ein neuer und furchtbarer Ehrgeiz Asklepios beseelt. Denn nun genügt es ihm nicht mehr wie jenem zu heilen, zu pflegen und den Ratlosen Rat zu verleihen. Er ist der Sohn des Apollon, strahlendes Licht und ewiges Leben sind das Ziel seiner Sehnsucht, und er trachtet danach, die sterblichen Menschen aus der verhaßten Unterwelt zu befreien.100

Chiron, der unsterblichlich war, fand in der Erlösung des Prometheus einen aktiven Weg sterblich zu werden (die Unterweltreise des Schamanen), sich so physisch und geistig zu vervollkommnen, um wieder aufzuerstehen und erneut unsterblich zu werden. Sein Schüler Asklepios vollzieht den Wandel in der traditionellen Heilkunst: seine Unterweltreise führt in auf neue Wege, auf denen er die Fähigkeit erwirbt, durch ärztliche Kunst, passiv vermittelt, alle Menschen an der Unsterblichkeit zu beteiligen. Asklepios und Prometheus gehören zu den Menschenfreundlichen, deren luziferische Tat darin besteht, den Menschen gottgleich machen zu wollen.101 Asklepios Heilkunst befindet sich im Gegensatz zur chironischen, da Chirons Kunst nicht auf die absurde Vorstellung von einem Sieg über den Tod gerichtet ist. Chiron erklärt sich damit einverstanden, dass der Kampf gegen die unterirdischen Götter Schuld auslöst, und er ist bereit, dafür zu sühnen. Reinhard Falter sieht im Verhältnis zur Sterblichkeit, zu den Unterirdischen, was nur menschlicher Entwicklung zum Tode möglich ist: Selbsterkenntnis. Das beste ist, nicht geboren zu werden, das zweitbeste, jung und heldenhaft zu sterben. So sprechen kann man nur, wenn die Unterwelt nicht ein ödes Schattenreich, sondern die Stätte des Allebens ist, wenn sie die Qualität des Reiches der großen Mutter hat.102 Wie Prometheus mit dem Raub des Feuers Zeus erzürnte, so brachte auch Asklepios die kosmische Ordnung durch die Entdeckung seiner Methode, den Menschen unsterblich zu machen, in Unordnung. Nicht Chiron ist aus der Ordnung gefallen, in seiner Nachfolge bedrohen seine Schüler durch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten die von Zeus gesetzte kosmische Ordnung: Herakles durch seinen Mut und seine außerordentliche Kraft, Achilleus durch seine, wenn auch unvollkommene Unverwundbarkeit, Iason und Asklepios durch ihre die Götter versuchende Heilkunst. In seiner Hybris wird der Chiron-Schüler Asklepios schließlich zum Zerstörer der olympischen Ordo. Prometheus und Asklepios brachen für ewig gesetztes göttliches Gesetz, ihr Frevel bedurfte der Bestrafung durch Zeus, wenn auch ihre Strafe nichts ungeschehen machen konnte. Kulturelle Entwicklung, von Demiurgen wie den Schülern Chirons bewirkt, ist auch durch Zeus nicht umkehrbar. Die Strafe des Prometheus ist bekannt, Asklepios traf der Blitz des zürnenden Zeus; das Feuer, das Prometheus den Göttern stahl, vernichtete Asklepios auf der Höhe seines Ruhms. Und noch etwas ist wichtig am Asklepios- Mythologem: Mit ihm gehen die Initiationsrituale in Chirons Höhle zu Ende. Die von Chiron erfundene und von Asklepios weiterentwickelte Medizin wird von Priestern übernommen und in Tempelheiligtümern fortgeführt:

Immer entfernter klingt das Rauschen der heiligen Wasser, immer mehr verschwindet von der Weisheit des Kentauren, die ehrfürchtig beides umschloß, Licht und Dunkel, Leben und Tod. Der Heilkunst aber haftet nun für alle Zeiten etwas an von dem Frevel des Asklepios, und so feiner Waffen sie sich auch im Kampf gegen Krankheit und Alter bedient, so wird doch immer wieder alle sorgliche Lebensbehütung durch gewaltsame Lebenszerstörung aufgewogen und zunichte gemacht.103

Zuletzt, so berichtet der Mythos, nahm Zeus den Arzt, der schon durch seine Geburt und Abstammung von Apollon (und Athena) ein Gott war, ebenfalls in den Olymp auf. Die Unsterblichkeit des Gottes, die Asklepios irgendwie abhanden kam, und die er in seiner Heilkunst zu finden hoffte, gewährte ihm zuletzt der Göttervater Zeus.
Die mittelalterlichen Gralslegenden berichten von Amfortas, der an einer unheilbaren Verletzung leidet; er ist der keltisch-christliche Leidensgefährte Chirons. Wie Chiron leidet auch Amfortas unaufhörlich an seiner Wunde: beide repräsentieren den Archetypus des weisen Mannes und Lehrers, ihr Wissen wächst mit ihrem Leiden. Amfortas kann weder vom Tod erlöst werden, noch kann er geheilt werden oder durch seine eigenen Künste gerettet werden, bevor Parzival die Erlösungsfrage stellt. Wie Chiron ist auch Amfortas Heilung erst durch einen Außenstehenden möglich. Wie die Mythologien der Chiron-Schüler sind auch die Gralslegenden um die beschriebene rituelle Struktur gruppiert, in deren Zentrum der Gral mit dem Blute Christe steht: Amfortas lebt zwischen Leben und Tod und das Land verödet und leidet mit ihm (Trennung und Liminalität); Parzival (Iason) wird zum Heilsbringer und Erlöser indem er die Gralsgesellschaft in Munsalvaesche aus ihrem Zustand der Herrschaftslosigkeit befreit und das Land aus der Unfruchtbarkeit, die Amfortas (Phrixos Flucht) verschuldete, erlöst (Reintegration).
Die menschliche Unzufriedenheit tritt fragend auf, hinterfragt diejenigen Eindrücke und Sachverhalte, deren Existenz unbefriedigt lassen, sodass der Mensch nicht umhin kann, mehr zu suchen, als ihm die unmittelbare Anschauung ermöglicht. Der chironische Persönlichkeitsanteil des Menschen treibt ihn zur Philosophie – mit ihr löst er sich aus seiner materiellen Verhaftung, um nach dem Geistigen zu streben. Sich seiner Vereinzelung innewerdend, sucht er fragend nach dem Zusammenhang:

Der Überschuß dessen, was wir in den Dingen suchen, über das, was uns in ihnen unmittelbar gegeben ist, spaltet unser ganzes Wesen in zwei Teile; wir werden uns unseres Gegensatzes zur Welt bewußt. Wir stellen uns als ein selbständiges Wesen der Welt gegenüber. Das Universum erscheint uns in zwei Gegensätzen: Ich und Welt.104

Im chironischen Mythos stehen in Griechenland Chiron und Prometheus (Sterblichkeit gegen Unsterblichkeit), im keltischen Amfortas und Parzival (physische gegen spirituelle Heilung) für diesen Zusammenhang; zuletzt erlösen sie sich gegenseitig.
Mit seiner dem Hades in den Mund gelegten Kritik am Werk des Asklepios streift Michael Köhlmeier unbemerkt die eigentliche Essenz des Asklepios-Mythologems: den Sachverhalt nämlich, dass es durch die Tat des Asklepios, sichtbar für jeden, gewöhnliche Verstorbene gibt, deren Jenseits die freudlose Unterwelt ist, und privilegierte Tote, deren nachtodliche Existenz sich durch die chironische Verletzung anders gestaltet. Sind Chiron und seine Schüler Erwählte, die eine Verletzung als äußeres Zeichen auszeichnet, eines innigen Kontaktes mit dem wirkmächtigen Blut übernatürlicher, mit der Erde assoziierter Kreaturen? Repräsentiert die Gruppe um Chiron eine Gemeinschaft, die das archaische Geheimwissen um die Koexistenz von Verletzung und Heilung durch Blut bewahrt und in esoterischen Ritualen tradiert?

Anmerkungen

90 Herakles ist der illegitime Sohn der Beziehung von Zeus und Alkmene.
91 Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt a.M., 1986, S.21.
92 Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der »Liminalität«) oder von Schwellenpersonen (»Grenzgängern«) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremoniell fixierten Positionen (Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., 1989, S.95).
93 Eine Szene, die der Unverwundbarkeit Siegfrieds in der germanischen Mythologie ähnelt, dem ein Lindenblatt, das im Bad im Drachenblut auf seine Schulter fiel, das Leben kostete. Altphilologen sind sich unsicher, ob es sich bei der verletzlichen Stelle wirklich um die Ferse des Achilleus handelt, vor allem da Homer in der Ilias nicht auf diese Überlieferung eingeht: Thetis machte Achilles unverwundbar, indem sie ihn in den Styx tauchte, aber unglücklicherweise blieb er an der Stelle, an der sie ihn hielt verwundbar (Jonathan Burgess, Achilles Heel: The Death of Achilles in Ancient Myth, in: Classical Antiquary 14/2, 1995, S.217). Festzuhalten ist, dass Achilleus an einer fatalen Beinwunde (Knöchelwunde) auf dem Schlachtfeld starb.
94 André Welling belegt in seiner Magisterschrift, dass die Konzentration der Lebenskraft in einer ungewöhnlichen Stelle ein mögliches, verbreitetes Motiv ist, das mit der Freiseele strukturell verwandt ist. Ein vergifteter Pfeil im Knöchel kann töten, der Tod durch Gift in einer tieferliegenden Wunde ist für archaische Mythen plausibel (Unverwundbarkeit im Kulturvergleich, unveröffentlichtes Manuskript, Universität zu Köln, 1997, S.28).
95 Vgl. von Ranke-Graves, Mythologie, S.542. Es war Phrixos, der mit seiner Geliebten Helle auf einem Widder nach Kolchis, an das östliche Ufer des schwarzen Meers (ins heutige Georgien) floh. Dem Fell dieses Widders galt das Ziel der von Iason geführten Argonautenfahrt. Beiläufig erwähnt von Ranke-Graves (Mythologie, S.561), dass Iason offensichtlich ein anderer Name des Herakles war, wodurch die Episode mit dem Nesselkleid der Glauke eine spannende Wendung erhält.
96 Robert von Ranke-Graves vermutet hinter Koronis (Krähe) einen Titel der Göttin Athene, der die Krähe heilig war. In den indoeuropäischen Mythologien symbolisiert der Rabe Tod und Prophezeiung, und begleitet Göttinnen wie Freya (alias Frigga), Holda oder Ostera. Im Neolithikum oder in der frühen Bronzezeit kam [diese Göttin] aus dem Mittelmeerraum, wo sie als Diktynna (von ihrem Netz), Ägäa (von ihrer Geiß), Koronis (von ihrem Raben) und auch als Rhea, Britomart, Artemis usw. bekannt war, nach Norden (Die weisse Göttin. Sprache des Mythos, Frankfurt a.M.,1995, S.485).
97 Auch der Name des legendären Bran (im walisischen Mabinogion), dessen Kult nach Ranke-Graves aus der Ägäis importiert wurde, bedeutet Krähe / Rabe, der seiner Schwester Branwen, weiße Krähe: Es gibt bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem pelasgischen Heros Asklepios, der ähnlich wie der von Herakles getötete Häuptling Coronus (Krähe) ein König des thessalischen Krähen-Totem-Stammes der Lapithen war. Asklepios war nach beiden Linien seiner Vorfahren Krähe (ebd. S.56-57).
Asklepios Vater, Apollon, war die Krähe ebenfalls heilig.
98 Von Ranke-Graves, Die weisse Göttin, S.56.
99 Michael Köhlmeiers neue Sagen des klassischen Altertum. Von Eos bis Aeneas, München, 1997, S.141-142.
100 Kaschnitz, Mythen, S.25. Sie fährt fort: Für die neuen Menschen ist die Krankheit, die Zerstörung der Lebenskraft, das Furchtbare geworden, in dem die Strafe der Götter ihren Ausdruck sucht. Ihr gilt die Wanderschaft, die Asklepios nun antritt und die ihn durch alle Landschaften Griechenlands führt (ebd. S.24).
101 Reinhard Falter, Asklepios, Prometheus, Herakles, Die Götter der antiken Erfahrungsreligion 9, in: Novalis, 7-8 / 1997, S.51.
102 Falter, Apoll, S.38. Ich habe vom Fluch der Asklepiden gesprochen, der auf der Kultur der Moderne liegt, die im absurden Versuch, den Tod zu vermeiden, massenhaft Tod produziert (ebd. S.39).
103 Kaschnitz, Mythen, S.26.
104 Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung, Dornach, 1962, S.28.

Die Chiron-Mysterien

Die mit Chiron verbundenen Helden der griechischen Mythologie, die unter dem Stigma der unheilbaren Wunde leiden, verbrachten Jahre ihres Lebens in der Abgeschiedenheit von Chirons Höhle an den Hängen des Pelion-Gebirges. Was im Innern dieser Höhle vor sich ging, gehört der esoterischen Dimension der Mythologie an, lässt sich aber anhand einiger Indizien plausibel erschließen. Wenn auch vage, und in den meisten Mythologien nur ansatzweise vorhanden, sind die Biographien dieser Heroen durch ein Übergangsritual gekennzeichnet, das den Phasen folgt, die Arnold van Gennep beschrieben hat. Die Kriterien der Übergangsrituale der Chiron-Gruppe, wie die mythische Überlieferung sie schildert, stellen sich folgendermaßen dar:

  • Chiron: Ablehnung durch seine Eltern (Trennung); Wirken in der Höhle, Verwundung durch den Pfeil, Katabasis (Liminalität); Erlösung des Prometheus; Aufnahme in den Olymp;(Reintergration)
  • Herakles: Heras Hass (Trennung); Leben in Chirons Höhle, die Argonautenfahrt, die zehn Arbeiten, das Nesselkleid (Liminalität); Aufnahme in den Oymp (Reintergration)
  • Philoktetes: Biss der Schlange (Trennung); übelriechende Wunde, Isolation auf Lemnos (Liminalität); Heilung durch Machaon, Wendung vor Troja (Reintergration)
  • Iason: Aussetzung, um sein Leben zu retten, Verlust eines Schuhs (Trennung); Leben in Chirons Höhle, Raub des goldenen Vlieses (Liminalität); Rückkehr nach Iolkos, Herrscherwürde und Heirat mit Glauke in Korinth, (Reintergration)
  • Asklepios: Tod der Mutter, Kaiserschnittgeburt, Verlust der Unsterblichkeit (Trennung); Leben in Chirons Höhle, das Blut der Gorgo, Wegbereiter einer neuen Medizin (Liminalität); Aufnahme in den Olymp als Gott der Heilkunst (Reintergration

Vor diesem Hintergrund lässt sich Chirons Verletzung als Kennzeichen einer Bruderschaft dekodieren, als Stigma und rituell absichtlich herbeigeführten, heiligen Krankheit einer Gruppe von Initianden und Eingeweihten. Die unheilbare Verletzung der Mitglieder des Chiron-Kreises offenbart sich so als Mysterien- Einweihung, vergleichbar der in Eleusis. Vor allem die unheilbare Verletzung des Philoktetes ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, da sein Auftreten im Mythos vom Trojanischen Krieg die Phasenstruktur des Übergangsrituals am deutlichsten zeigt. Schon allein die Beziehung von Wunde und Isolation weist mit Sicherheit auf einen rituellen Rahmen hin, in dem die unheilbare Verletzung ihren funktionalen Charakter besitzt. Das Heer der Achaier steht unter der bannenden Macht des Orakelspruchs des Sehers Helenos, der verkündete, dass Troja nur mit Hilfe des immertreffenden Bogens des Herakles eingenommen werden kann. Diesen aber besitzt Philoktetes, der sich in der Abgeschiedenheit auf Lemnos auf die Erfüllung seiner Aufgabe im Trojanischen Krieg rituell vorbereitet.
Archaische Ackerbaugesellschaften, zu denen auch die Kultur der bronzezeitlichen Achaier gehört, initiierten junge Männer in den Kriegerstand. Die wichtigste Funktion solcher Rituale bestand sicherlich darin, die Kräfte des Lebens und der Fruchtbarkeit in ihrer Wirksamkeit für eine gewisse Zeit zu suspendieren, damit die zerstörerische und todbringende Sphäre des Krieges aktiviert werden konnte. Dass dies nur in der Ausgrenzung junger Männer aus dem Alltagsleben geschehen konnte, ist fraglos. In den Zustand magischer Hitze versetzt, kann sich niemand mehr dem Krieger nähern, weil dessen Magie einmal aktiviert, übermächtig ist, und sie die Macht besitzt, der Gemeinschaft zu schaden. Die Krankheit, Tod und Verderben verursachende Hitze, die durch Krieg, Zerstörung und Tod den Kosmos verunreinigt und aus seiner natürlichen Balance bringt, bedurfte später der Abkühlung, damit die Menschen wieder in ihr Alltagsleben zurückfinden konnte. Solche Rituale sicherten auch den Kriegserfolg, die Niederlage des Gegners, den Sieg sowie die Unverwundbarkeit der Krieger. Magische Handlungen und Mittel dienten der Aktivierung und Steigerung der Kraft und Fähigkeit des Kriegers.
Philoktetes Verwundung und sein Aufenthalt auf Lemnos dienten seiner Vorbereitung auf seine Rolle im Trojanischen Krieg, von welcher der Ausgang der Ereignisse abhing. Die Anwesenheit eines wildes Mannes auf Lemnos verschweigt die Mythologie, dass es einen Hierophanten gegeben haben muss, der Philoktetes in die Aufgaben des männlichen Mannes, des Kriegers, einführte, belegt die Anwesenheit von Wunde, Gift und Schlange. Durch seine Verwundung wurde Philoktetes in den Zustand magischer Hitze initiiert, in deren Feuer sein altes Selbst verbrannte. Auf Lemnos versetzte sich Philoktetes in diese Lage, potenzierte so seine Kampfeskraft und sammelte ein mächtiges Charisma an. Dies konnte er nur in der Isolation erreichen, abseits von der Gemeinschaft, mit sich selbst konfrontiert - mit anderen Worten: Philoktetes durchlief eine Phase ritueller Liminalität, eine rituelle Absonderung zur Akkumulation einer besonderen Kraft, Macht und Fähigkeit im Rahmen der Konfrontation mit dem eigenen Selbst. Die ihm rituell zugefügte Verwundung, worin auch immer sie bestanden haben mag, verursachte einen Wandel von Status und Persönlichkeit, und bereitete ihn auf seine große Aufgabe vor. Als Philoktetes bereit war, beendeten zwei andere, mächtige Krieger und Eingeweihte, Odysseus und Neoptolemeus, die Einsamkeit des ihnen nun ebenbürtigen Philoktetes, und brachten ihn zurück ins Heer. Die Heilung des Philoktetes durch Machaon

Die astrologische Diskussion um Chiron beruht augenblicklich allein auf der Kategorie des verletzten Heilers, die, wie gezeigt, dem indoeuropäischen Schamanentopos entspricht, in dessen Kontext auch die Initiation in andere Statusse und Bewusstseinszustände gehört. Jean Gebser bringt den Namen Cheiron mit der indoeuropäischen Wurzel ker in Verbindung, die gleichzeitig nähren und verletzen (treffen) bedeutet, und die eine enge, initiatorische Beziehung zu Tod und Sterben besitzt.105 Somit ist die Verbindung der chironischen Ikonographie von Verletzung und Pfeil geklärt, und es erstaunt nicht länger, dass der Pfeil nicht nur zum Schützen, sondern auch zu Chiron gehört, der nur zu Beginn der vom Pfeil Getroffene ist. Später, als Schamane und Initiationsmeister, ist Chiron der mit dem Pfeil treffende. Insbesondere die Todesarten, jenseitigen Aufenthaltsorte und Schicksale der mythologischen Chiron-Gruppe sind höchst aufschlussreich, verweisen sei doch auf ein Phänomen, das den Sinn chironischer Verletzungen aufklärt. In seinem Hymnos an Demeter überliefert Homer deutliche Worte, welche die Funktion der eleusischen Mysterien erläutern. Demeter selbst verkündete dem Mysten nämlich:

Selig der Erde bewohnende Mensch, der solches gesehen!
Doch wer die Opfer nicht darbringt, oder sie meidet, wird niemals
Teilhaft solchen Glücks; er vergeht in modrigem Düster
.106

>Was Homer im poetischen Sprachkostüm verschlüsselt andeutet, motivierte die Griechen einst, sich zahlreich den Mysterien von Eleusis (der solches gesehen) zu unterziehen. Homers Zeilen machen aber gleichzeitig deutlich, was Philoktetes auf Lemnos und die Chiron-Schüler in dessen Höhle am Pelion leisten mussten, bevor sie reif für das Leben eines unbezwingbaren Kriegers oder Helden waren. Das darzubringende Opfer, von dem der Dichter hier spricht, betrifft die Person des Initianden, dem eine Instabilisierung des Ichs im Verlauf der rituellen Phasen in Eleusis zur Wandlung seiner Persönlichkeit verhelfen sollte. Werner Priever sieht in den Demeter-Mysterien zu Eleusis den

Abstieg der hellsichtigen Kräfte der Seele, mit denen der Mensch früher in die geistigen Welten hineinschauen konnte, in die sich verdichtende Leiblichkeit, [einen] ersten Schritt zur Ausbildung, Formung und Festigung des jungen menschlichen Ich.107

Wer die Mysterien allerdings meidet, so Homer, verliert die Möglichkeit der Wiedergeburt, er vergeht im modrigen Düster des Hades. Homers Demeterhymnos bestätigt die oben geäußerte Vermutung von gewöhnlichen und priviligierten »Verstorbenen« auf überraschende Weise: der Tod, von dem Homer spricht, scheint nicht der Tod zu sein, der das individuelle Leben beschließt, sondern die Konfrontation mit dem eigenen Schatten, die zur Transformation überkommener Verhaltensweisen und Persönlichkeitsanteile, zu mehr Ganzheit und psychischem Wachstum, führt. Chirons Verletzung erfolgte im Rahmen ritueller Stigmatisierung, und ist eine ihn ausweisende Initiationswunde, erworben im kleinen Tod der Einweihung in eine esoterische Mysterienreligion. Die Todesahnung, die im Ritus der Einweihung für den Bruchteil einer Sekunde ins Bewusstsein dringt, ist das Resultat der Erlösung des persönlichen Schattens.

Chiron bewohnte eine Höhle an den wasserdurchströmten Hängen des PelionGebirges, in der er auch seine Schüler unterrichtete.108 Ein solches Höhlenheiligtum ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Chirons Aufgabe an der griechischen Menschheit, vor allem da auch die Mysterien von Eleusis ein Untertauchen im Wasser des Meeres (Taufhandlungen) für notwendig erachteten. Die Wassersymbolik dieser mythischen Landschaft weist unmittelbar auf psychisches Geschehen hin, denn schon die Etymologie des Wortes Seele lebt ja anscheinend vom Bild des Sees und dessen Spiegelcharakter.109 Wasser symbolisiert die Welt der Gefühle und die Hingabe an das Gefühl, emotionales Engagement und die Möglichkeit einer Änderung oder Wandlung, die schrecklich und faszinierend zugleich erscheint. Das wässerige Milieu lockert die Festigkeit der Materie, verflüssigt die Fixierung an physisch-irdische Phänomene; Tränen lösen seelische Widerstände auf, sodass das weich gewordene psychische Material ungehindert fließen kann: Für Seelen ist es nicht Tod, sondern Genuß feucht zu werden, lehrte noch der Vorsokratiker Heraklit seine Zuhörer.110 Wasser und Seele gehören nach frühgriechischer Auffassung zusammen: Wasser bildet den Lebenspol der Seele, wie Jean Gebser es ausdrückt.111 Und weil die Seelen aus dem Wasser geboren werden, ähnelt das Zurückfallen der Seele ins Wasser der Regression in einen vorgeburtlichen Zustand.
Chirons Initiation fand aber nicht nur am Wasser statt, sondern auch im Bauch der Erde. Kronos ist der Vater Chirons, der zusammen mit Hades und Poseidon der Nachtsphäre der Welt angehört. Gerade die Zugehörigkeit dieses Archetypus zum Innerpsychischen befähigt Chiron zur Aufgabe des Hierophanten. Jean Gebser beschreibt Höhlenheiligtümer wie das des Chiron als einen Zwischenraum, der das Eingebettetsein in die Welt garantiert, eine uns kaum mehr vorstellbare dichte Verbundenheit von außen und innen, eine uns kaum mehr nachfühlbare Entsprechung von Seele und Natur,112 einer participation mystique wie Lucien Lévi-Bruhl diese Haltung zum Leben verstanden hat. Der uterine Charakter der Höhle ist ein ununterschiedener Raum, der dem Fehlen eines Ich-Bewusstseins entspricht. Ein sich-seiner-selbst-bewusstes Ich, das sich Raum und Zeit gegenüberstellen könnte, sucht man in Chirons Höhle vergeblich. Seine Höhle ist eine distanzlose Welt, in der die Regeln des Außen, der Welt der Differenzierungen, nicht mehr gelten: ein im Mutterschoß-Sein, eine Zentrierung auf die psychische Energie im Menschen. Hades und Hölle besitzen nicht einfach so Gewölbecharakter; dies ist der Nacht-Aspekt, die Mutterdunkelheit, die Geborgenheit und das gebärende Prinzip.113 Indem Chiron seine Schüler zu sich in die Höhle holt, betreten sie als Mysten nicht nur erneut die Geborgenheit des Mutterschosses, die in einer Weise der Finsternis der Unterwelt, der in sich ruhenden Höhle, gleichkommt, sie betreten ebenfalls ihre eigene Innenwelt, vor allem die Welt der Ungeheuer, Clowns und Dämonen, von der Victor Turner spricht, und die den persönlichen Schatten repräsentiert. 114
In seiner Höhle konfrontiert Chiron die ihm Anvertrauten mit einem Numinosen, das zuerst unberührbar, zuletzt heiligend (unsterblich) wirkt, und das sie mit dem im Mythos dargestellten, außergewöhnlichen Charisma nährt; ganz in diesem Sinn spricht Robert Bly vom Essen des Schattens. Allein schon in seinem Namen wird Chirons Aufgabe deutlich: den griechischen Heroen durch Initiation und Mysterium die psychische Nahrung zu ermöglichen, die ihnen aus der Integration ihres persönlichen Schattens erwächst. Dies allerdings nur um den Preis von Leid, Verletzung und Stigmatisierung, denn der Schatten ist die ungelebte, unterdrückte Seite des Bewusstseinsfeldes (des Ich), die sich nicht ohne Weiteres erschließt. Es lässt sich kaum ein anschaulicheres Bild für dieses Phänomen finden, als Robert Bly es verwendet, der den Schatten mit einem langen Sack vergleicht, den wir hinter uns herziehen, gefüllt mit Aspekten unseres Selbst, die unsere Eltern und unsere Gesellschaft nicht angenommen hat,115 mit allem, was nicht unmittelbar wissbar ist. Alles Unwerte, für falsch oder schlecht angesehene wird verdrängt, in den Sack gepackt, abgespalten, und aus Wahrnehmung und Erleben ausgegrenzt, sodass dem Menschen seine zweite Hälfte, sein Doppelgänger, fehlt. Deshalb ist er verwundet, un-heil. Im persönlichen Horoskop weist die Hausposition Chirons auf diese verdrängten Anteile hin. Und jede Kultur steckt andere Dinge in diesen Sack. Menschen, die das Dunkel in sich nicht kennen, denen Erfahrung und Weihe der Katabasis fehlt, wie die antiken Griechen gesagt hätten, können die moralisch schwierigen Anteile ihrer eigenen Persönlichkeit nicht annehmen, können sich nicht bewusst distanzieren, sondern sind den Impulsen aus der Dunkelheit der eigenen Psyche erkenntnislos ausgeliefert. Und all das, was der Mythos schon in der Behaarung des Wilden Mannes andeutet, hat sich in den Schatten der menschlichen Psyche zurückgezogen: im allgemeinen alles Instinktive, die Sexualität, wie sexuelle Gier und sexuelle Gewalt, die Wildheit emotionalen Ausdrucks, Impulsivität, Furcht, Zorn, Wut und Hass, aber auch die Intoleranz, der Neid, der Geiz, die Eifersucht und die Angst vor dem Tod und viel Ekstatisches und zuletzt auch die Freiheit, jetzt alle regressiv, dem Menschen feindlich gesinnt. Dort, wo im Geburtshoroskop Chiron steht, sind wir mit unserem persönlichen Schatten konfrontiert:

Die von Chiron im Horoskop berührten Fähigkeiten leben wir verzaubert in der Kompensation. Dort gestalten wir unser Leben aus dem Verstand, als „gute“ (Saturn) und „edle“ (Jupiter) Menschen. Was gut, richtig und edel war, bestimmte unser „Kopf“ und nicht unserer Herz, geschweige denn unsere Intuition (Uranus).116

Die Aufforderung der chironischen Wunde gilt einem begrenzten Bereich der menschlichen Person – Chiron ist der Schattenherrscher117 des Schützen. Chirons Pferdeleib, seine tierische Seite, repräsentiert dies alles. Sein Mythologem symbolisiert die Diskrepanz von innen (Innenwelt und psychische Gestalt) und außen (Außenwelt und Projektion), die ich in Lichtträger in dunkler Zeit beschrieben habe. Die Anerkenntnis der chironischen Verletzung impliziert die Vorstellung von der Integration des Schattens, der instinktiven sowie sexuellen Seite, die sich nur ausgelebt – zumindest sublimiert - respektiert fühlt. Auch hier bietet Chiron das zugehörige Bild: Jeder Teil unserer Persönlichkeit, den wir nicht annehmen, wendet sich gegen uns, so lautet seine Lehre; seine pädagogische Aufgabe besteht in der Vermittlung des richtigen Umgangs. Ungünstigerweise bindet die Operation des Schattens, die immer unter der Oberfläche des Bewusstseins stattfindet, der Inhalt des Sackes sozusagen, Energie, die, ist sie erst einmal durch anstrengende Verdrängungsarbeit gebunden, nicht mehr so leicht zur Verfügung steht. Ist diese Vielfalt, die der Schatten darstellt, erst einmal verdrängt, kann man mit anderen nicht mehr über seine Gefühle reden. Und genau aus diesem Grund muss der Jäger den Eisenhans aus der Tiefe des Wassers frei schöpfen, muss man sich eine Vorstellung vom Zustand der eigenen Psyche bilden, indem die Schattenmaterie allmählich sichtbar und annehmbar wird, ohne dass das Ich dabei Schaden nimmt. Die jüngeren Männer darin zu unterweisen, wie Schattenmaterie handhabbar ist, ohne dass die Persönlichkeit überwältigt wird, darin lag einst die Aufgabe alter Männer, die Chiron oder Eisenhans hießen. Und noch etwas lehrt der Mythos: Zum Helden der griechischen Menschheit wurde nur derjenige auserwählt, dem diese Energie gewandelt zur Verfügung stand, dem sein volles Potential als eigener Schatz, und nicht nur als Projektion in die Außenwelt gehörte.

Chiron, dem die Mythologie die Zuständigkeit für die Kriegsführung und die Heilkunst zuweist, versöhnt Gegensätze, indem er die Fusion der animalischen mit der geistigen Seite des Menschen repräsentiert. Da Chiron die Macht hat zu heilen, hat er auch die Macht zu verwunden, so lautet die Lehre, die aus der Ikonographie des Pfeiles spricht. Auch Eve Jackson beruft sich auf Chirons Kunst zu kämpfen und zu heilen. Als Erzieher griechischer Krieger und Heroen wusste er,

wie man Wunden schlug, aber auch, wie man sie heilte. Die Hausposition von Chiron könnte uns zeigen, wo wir auf irgendeine Weise verwundet oder beschädigt wurden, aber gerade durch diese Erfahrung zu einer Sensibilität und Selbsterkenntnis gekommen sind, die uns befähigt, auch andere Menschen besser zu verstehen und ihnen helfen zu können.118

>Wer seinen Schatten auf diese Weise integriert, der macht einen dichteren Eindruck, meint Marie-Louise von Franz. Für andere Menschen wird er auf jeden Fall zu einer Autorität in menschlichen und moralischen Fragen, er wird zu einem wissenden Mann. Im Mythos bereitet Chiron Menschen auf ein »Heldenleben« vor, dessen individuelle Relevanz im Radixhoroskop in der Hausstellung des Planetoiden zum Ausdruck kommt, wo er nicht nur darauf hinweist, wo wir andere lehren können, sondern auch, wo unsere eigenen heldenhaften Fähigkeiten zutage treten könnten.119 Dass es wichtig ist, seinen Schatten zu integrieren, wissen wir durch C.G. Jungs Forschungen, ohne dass sich der moderne Mensch davon merkbar beeinflussen ließ. In dessen Vorstellung trennt sich weiter die obere (geistige) Hälfte des Lebens und die untere (sinnliche) Hälfte des Lebens [...]. Die erste steigt langsam immer höher, die andere, ohne Verbindung mit der oberen, sinkt immer tiefer.120 In seiner Höhle führt Chiron seine Schüler zu einer psychischen Ganzheit, die ihnen helfen soll, ihren Schatten zu erlösen, um das chironische Dilemma positiv zu wenden. Was Chirons Schüler in dessen Höhle erleben, gleicht einer tiefen Irritation des Ich-Welt-Verhältnisses, einer Sinnkrise, die ihr ganzes psychisches Gefüge erschüttert. Das Ziel der chironischen Initiation liegt darin, dass psychische Wunden nicht unverstanden und ungeschützt bleiben, Traumata, Verletzungen und Kränkungen zu einem gewissen Grad verarbeitet werden können. Über diese Strategien garantiert das chironische Mysterium psychotherapeutische Heilung, die nicht unempfindlich, aber unverletzlicher machen kann.121 Dennoch vermögen diese Wunden, ob alte oder neue, immer wieder ein Gift abzusondern, das seine Wirkung tut: eine Erfahrung von Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit, die jäh und schockartig wirkt. Im Erleben und Verarbeiten dieser Vergiftung, dieser offenen Wunde, auch das lehrt uns das Chiron-Mythologem, entsteht der Freiheitsimpuls als Kern menschlicher Sehnsucht. Ins Zentrum des Heil-Seins – ins Ge-heil-igte – zu treffen, heißt in die Ur-Wunde zu treffen, an die alle sekundären, akzidentiellen Verwundungen nur erinnern.122 Insofern repräsentiert Chiron mythologisch den archaischen Heilerarchetypus, den Schamanen, dessen Pfeil im therapeutischen Prozess verwunden, aber auch heilen kann. Hier befindet er sich in einem eklatanten Gegensatz zu Apollons Sohn, dem göttlichen Asklepios, der eine viel mehr symptomorientiertere Medizin vertrat.
Ist die Annahme berechtigt, dass Chiron sich seine Verletzung im rituellen Kontext einer Initiation oder Mysterieneinweihung absichtlich beibrachte oder beibringen ließ, um sie dann an seine Schüler weiterzugeben, muss auch eingeräumt werden, dass Chiron, Óðinn oder der kretische Zeus Idaios123 Mysterien und deren rituelles System begründeten, deren erste Initianden sie selbst waren. Vermuten lässt sich dann aber auch, da Pfeil und Schlange morphologisch ähnlich sind, dass unheilbare Wunden verursachende Instrument eine Schlange in Pfeilform oder ein Pfeil in der Form einer Schlange gewesen sein könnte. Entsprechend verwandelte sich Óðinn in eine Schlange, als er den Dichtermets Óðrærir aus Gunnlöðs Halle stahl.123.1 Die hundertköpfige Schlange, die beispielsweise über dem Juwelengarten der Hesperiden wacht, und die hundertkrallige Kröte, die ein kostbares Juwel auf dem Kopf trägt, gehören beide zu den alten Krötenpilz-Mysterien, von denen Robert von Ranke-Graves spricht.124 Noch im Grimmschen Märchen Der Froschkönig taucht diese Vorstellung in abgeschwächter Form als Frosch auf, der den goldenen Ball, der das Selbst der Prinzessin verkörpert, aus der Tiefe der Unterwelt zurückbringt. Die europäischen Pilz-Mysterien sind kaum erforscht, sicher ist aber, dass der präkolumbianische Krötenpilzgott Tlalóc, als dessen europäisches Gegenstück Dionysos angesehen wird, mit Schlangenkopfputz abgebildet wird.
Chiron und seine Schüler waren schamanistische Ekstasetechniker,125 die eine durch Blut-Kult und Halluzinogene erworbene magische Macht und Kenntnis zu nutzen wussten. Sie waren - wie Amfortas und Parzival - archaische Gralssucher, die Hüter eines mit Blutweihen und Blutreliquien verbundenen Mysterienwissens, die ihr Leben in den Dienst der Erlösung der Menschheit stellten. Chirons Verletzung, Herakles Arbeiten, Isaons Argonautenfahrt und die Vision menschlicher Unsterblichkeit, die Asklepios träumte, werden berechtigterweise mit Schmerz, Tod und Wiedergeburt assoziiert, mit denjenigen Entbehrungen, welche die persönliche Individuation mit der Befreiung, Bewusstmachung und Integration des Schattens verbindet. Auch Chiron, Herakles und Asklepios mussten sich dem Ritual der Katabasis in der unterirdischen Welt ihrer Ungeheuer und Dämonen unterziehen, mussten den Schmerz nicht heilender Wunden auf sich nehmen, um ihr Potential zu erfüllen; erst dann ihres gewährte der Mythos ihnen die Unsterblichkeit. Chirons Verletzung ist deshalb von einer besonderen Art, und alles andere als zufällig entstanden, ihm womöglich unfreiwillig aufgezwungen. Sie ist Symbol einer rituellen Reinigung, einer wesentlichen Phase in der Biographie fast aller griechischen Heroen. Nur weil er selbst in der Lage war, sich zu reinigen, konnte Chiron das Amt des Heilers übernehmen, und es an seinen Ziehsohn Asklepios weitergeben. Zur Reinigung verurteilt durch eine unheilbare Verletzung infolge einer Schuld (Hybris) an der göttlichen Ordnung, gerät Chiron in den Besitz der Heilkunde. Chiron: ein prähellenischer Apollon? Dieser nämlich versündigte sich an den Göttern, als er die Drachin Python, eine Repräsentanz der Erdgöttin (Gaia) tötete. Trotzdem nahm er ihr Heiligtum (Delphi) in Besitz, und wurde so zum Patron aller Sühnenden.

Die Verletzung der Chiron-Gruppe ist zentrales Ereignis einer esoterischen Mysterieneinweihung, die im Mythos nur deshalb nicht überliefert ist, weil sie wie alle Mysterieninitiation einer rigiden Geheimhaltung unterlagen. Stationen dieser Einweihung sind, wie erörtet, die Verletzung mit einen Pfeil oder einem ähnlichen Instrument, Blutweihe (Blutreliquie), Berauschung und Bewusstseinserweiterung als Mittel veränderter Wahrnehmung. Die besondere, kennzeichnende und priviligierende Todesart, welche die Stigmatisierung einleitet, führt nicht in den Hades der Nicht-Eingeweihten, sondern in eine Heldenbiographie als Voraussetzung für die Aufnahme in die elysischen Gefilde oder direkt in den Olymp.
Wenn Robert von Ranke-Graves Recht hat, dann pflegte der prähellenische Volksstamm der Pelasger einen Pferdekult, den die spätere griechische Mythologie im Bilde Chirons überlieferte. Dessen Verehrung beruhte auf einer archaischen Mysterienreligion, in der Verletzung und unheilbare Wunde zu einer Transformation junger Männer führte, die dann als Heroen ihr Leben in den Dienst der Gemeinschaft stellten. Der Name Chiron / Cheiron könnte dabei der (erbliche) Titel eines Hohepriesters (Sakralkönig) dieses Mysterienkultes gewesen sein, in dem die Beziehung des Pferdes zur Unterwelt sowie die Auszeichnung mit einer unheilbaren Wunde als Stigma bei Initiation und Erwählung eine zentrale Rolle spielten. Spätere Generationen personifizierten Chiron als Mysterienbegründer, als Demiurg und großen Pädagogen (Menschenfreund) und stellten ihn in einem eklatanten Gegensatz zur Wildheit der übrigen Kentauren. Chirons Unsterblichkeit und seine Aufnahme in den Olymp spiegelt die ideologische Verehrung eines verehrten Gründers und den Versuch, den Ruf der Chiron-Mysterien zu stabilisieren. Handelt es sich bei Chiron um den Titel eines Hierophanten, so steht dessen Unsterblichkeit für die dynastische Vererbung dieses Titels. Liz Greenes Argumentation von „guten“ und „wilden“ (bösen) Kentauren ist daher zu widersprechen. Ihre Auffassung entspricht nicht der mythologischen Überlieferung. Chiron muss nicht stellvertretend für die wilden und ungezügelten Kentauren leiden, denn seine Verletzung geschieht nicht akzidentell und unabsichtlich.126 Eine solche Sicht heißt, die Symbolik des Mythos zu wörtlich zu nehmen; genau das Gegenteil scheint richtig zu sein. Es gibt nicht die bösen Kentauren, zu denen Chiron früher auch gehörte, und nicht den einsamen, guten Chiron. Der Kentaur ist ein Bild für das Dilemma im Menschen: im Irdischen fixiert, nach den Himmeln strebend. Diesen Konflikt erlebt innerpsychisch jeder Mensch – die beiden Kentaurentypen sind die mythologischen Bilder für diesen Konflikt. Chiron repräsentiert das Bild der Spaltung zwischen Körper und Geist, aber auch deren Überwindung. Ihm gelang es, diesen Konflikt zu lösen, indem er seinen Schatten aß; den »wilden« Kentauren blieb die Transformation ihrer Persönlichkeit versagt, sie erlagen ihrem Dilemma.127
Chiron ist aus der Ordnung gefallen, darin ist Eva Stangenberg zuzustimmen, aber auf eine andere Weise, als es der Autorin vorschwebt, beabsichtig und rituell inauguriert.128 Ob er vorher in Ordnung war, erscheint aufgrund der vorausgehenden Argumentation eher zweifelhaft. Nur indem Chiron aus der Ordnung fiel, folgte er Gesetz und Ordnung, wie für die Biographie griechischer Heroen vorgesehen: Er transzendierte seine Persönlichkeit und schuf so eine Wirklichkeit höherer Ordnung. Apollon der Gott, Chiron der Halbgott, Herakles und Asklepios die vergöttlichten Helden, und alle anderen Chiron-Schüler, gemeinsam repräsentieren sie Facetten des Heilerarchetypus in der griechischen Mythologie. Sich dieser Heilkunst zu bemächtigen, bedarf es einer Verletzung wie derjenigen, die Chiron davongetragen hat. Aus diesem Grund ist seine Wunde eine besondere Wunde. Chirons Verletzung bewirkt mehr als nur seinen Rückzug in eine Höhle auf dem Berg Pelion, wo er die Systematisierung der antiken Phytotherapie um seiner eigenen Heilung willen entwickelt haben soll. Chiron verkörpert jedoch mehr und anderes als den Heiler, Lehrer und weisen Ratgeber einer archaischen Kultur. Bevor er zum großen Pädagogen werden konnte, war Chiron als Schamane, ein gesellschaftlicher Außenseiter, der selbst erst lernen musste, was er anderen später gab. Erst wenn man die Perspektive in der Betrachtung des Chiron- Mythos auf diese Art erweitert, und den Blick auf die Chirons Verletzung verursachenden Mittel lenkt, auf Blut und Pfeil, verlagert sich seine Bedeutung vom zufällig verletzten Heiler zum Magier-Schamanen, der Mittel und Wege der Initiation in andere Bewusstseinszustände sucht, systematisiert und experimentell – im Selbstversuch sozusagen - anwendet und nach erfolgreicher Verifikation als Initiationsmeister seine Schüler auf ihren Erkenntniswegen begleitet.

Stellten Chirons Schüler ihr Leben nicht in den Dienst der Gemeinschaft, von ihrem Lehrer Chiron auf diese gesellschaftliche Aufgabe vorbereitet? Chirons Verletzung wird berechtigt mit Schmerz, Tod und Wiedergeburt assoziiert, mit denjenigen Entbehrungen, welche die persönliche Individuation mit der Befreiung, Bewusstmachung und Integration des Schattens verbindet. Chiron, Herakles und Asklepios mussten sich dem Ritual des Abstiegs unterziehen, um ihr Potential zu erfüllen und zuletzt die Unsterblichkeit zu erringen.
Der astrologischen Theorie und Deutung bietet die Mythologie mehr als nur ihr Fundament. Sie genau zu studieren löst immer noch die meisten Rätsel und Unstimmigkeiten astrologischer Forschung und bewahrt den Astrologen vor modischer Attitüde und Zeitgeisthuldigung. Apollon der Gott, Chiron und Asklepios die Halbgötter, gemeinsam repräsentieren sie den Archetypus des Heilers in der griechischen Mythologie, wobei Chiron mehr den Typus des Schamanen und Psychotherapeuten repräsentiert. Im individuellen Horoskop öffnet Chiron den Blick auf die Aspekte des persönlichen Schattens, die zuvörderst „gegessen“ werden müssen. Sich dieser Kunst zu bemächtigen, bedarf es einer Verletzung wie der Chirons. In seiner Einstellung zu Initiation, Ritual und dem (kleinem) Tod ist Chiron ein Heilerarchetypus, denn sein Umgang mit Gesundheit, Heilung und einer präventiv-ritualisierten Erziehung junger Menschen sind Grundanforderungen auch der Zeit, in der wir leben. Dieser chironischen Haltung ihren Sitz im Leben wiederzugeben, darin liegt eine der prominenten Herausforderungen der Moderne.

Anmerkungen

105 Ker, so fährt Gebser fort, steht in enger Nachbarschaft mit den Wurzeln quer und gher, die an der Bildung der Namen Chronos und Cheiron beteiligt sind; zudem bildet die Wurzel ker auch den Namen der griechischen Todes- und Unheilgöttinnen, die Keren heißen (Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. 1.Teil: Die Fundamente der aperspektivischen Welt, München, 1973, S.276-277). Die Bedeutung der Wurzel ker ist: wachsen, wachsen machen, sich erheben, nähren; und verletzen, treffen; wobei in der Spannung, daß sie einerseits »nähren«, andererseits »verletzen« bedeutet, die Einheit dieser Urwurzel deutlich wird, welche sie zum Träger von Leben und Tod macht; siehe dazu auch ker = Todesgöttin und ker = Herz, das Lebensträger ist (Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. 3.Teil: Kommentar, München, 1973, S.190).
106 Homerische Hymnen, hg. v. Anton Weiher, München, 1951, S.7-33. Mircea Eliade zitiert eine andere Übersetzung: Selig die Menschen auf Erden, die diese Mysterien geschaut!
Wer aber nicht eingeweiht ist im Heiligen, wer nicht teilhat, der hat niemals gleiches Los
im Tode, unter dem modrigen Dunkel
(Schamanen, Götter und Mysterien, Freiburg i.Br., 1992, S.62; Vers 480-482).
107 Werner Priever, Aspekte des Unbewußten bei Rudolf Steiner, in: ders. Aspekte des Unbewußten, Beiträge zur Ausgestaltung einer anthroposophischen Psychotherapie, Stuttgart, 1999, S.15.
108 Die Höhle birgt das Göttliche, schreiben Moltmann-Wendel, Schwelien und Stamer. Und auch bezüglich der Höhle findet sich eine Parallele zwischen Chiron und seinem Halbbruder Zeus: Im Idagebirge auf Kreta befindet sich eine Höhle, in der, so erzählt man, Zeus geboren wurde. In Höhlen fanden die Ritaule des Mithraskultes statt, und in byzantinischen Gemälden wird die Geburt Christi meist in einem Berginneren dargestellt (Elisabeth Moltmann-Wendel, Maria Schwelien und Barbara Stamer, Erde, Quelle, Baum. Lebenssymbole in Märchen, Bibel und Kunst, Stuttgart, 1994, S.76-77).
109 Wir stoßen hier auf verborgene Tiefen, die uns vielfach selbst nicht bewußt sind, die wir auch gerne ruhenlassen würden, da wir instinktiv spüren, dass das, was am Grunde dieses Sees liegt, uns – sollte es auftauchen – völlig aufwühlen würde (Daniela Kosten, Die Einladung des zwölften Hauses, in: Astrologie Heute 81, 1999, S.38).
110 Heraklit, Fragment 90, in: Die Vorsokratiker 1, Übersetzung und Erläuterung von Jaap Mansfeld, Stuttgart, 1983, S.271. Oder: Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluß hineinzusteigen, so Heraklit. [Der Fluss] zerstreut und bringt wieder zusammen [...] und geht heran und geht fort (Fragment 96, S.273).
111 Gebser, Ursprung, 1.Teil, S.310.
112 Gebser, Ursprung, 1.Teil, S.36.
113 Gebser, Ursprung, 1. Teil, S.114. Leben und Tod sind nur für den rational denkenden Europäer Gegensätze; gläubige Christen gehen »heim«, zurück in die Höhle.
114 Um unserem täglichen Leben Sinn zu geben, unser tägliches Brot zu verdienen, müssen wir uns in die Welt der Ungeheuer, Dämonen und Clowns, der Grausamkeit und der Poesie begeben (Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M., 1989, S.195).
115 Bly, Die dunklen Seiten, S.29ff (hier S.10).
116 Schütz, Jupiters Pferdefuß, S.20.117 Ebd. S.17.
118 Eve Jackson, The wounded healer, Vortrag bei der Astrological Association Conference of Great Britain, September, 1984 (zitiert in Sasportas, Astrologische Häuser, S.516).
119 Sasportas, Astrologische Häuser, S.516.
120 Bly, Die dunklen Seiten, S.127.
121 So weist Eve Jackson auf das Aufkommen des allgemeinen Interesses an psychotherapeutischen Techniken und Hilfen mit der Entdeckung des Kleinplaneten Chiron hin (zitiert in Sasportas, Astrologische Häuser, S.516).
122 Henning Köhler, Ursprung der Sehnsucht. Die Heilkraft von Kreativität und Zärtlichkeit, Stuttgart, 1998, S.20ff.
123 In diesem Kontext gehören auch die Einweihungen in die germanischen Männerbünde, deren Ritual Óðinn mit dem Hängen an der Weltesche eingeführt hat. Auch der Kult des Zeus Idaios, der in einer Höhle des Berges Ida begangen wurde, weist die Struktur einer Mysterien-Initiation auf: Zeus war aber keineswegs ein Mysteriengott. Dennoch zeigte man ebenfalls auf Kreta später das Grab des Zeus; der große olympische Gott war also einer der Mysteriengottheiten assimiliert worden, die sterben und wieder auferstehen (Eliade, Schmananen, S.18).
123.1 Herbert W. Jardner, Met aus Gunnlöðs Halle. Óðinn und die Dichtung, Blogbeitrag Grüne Sonnen, https://gruenesonnen.files.wordpress.com/2014/11/dichtermet-c3b3dhrc3a6rir.pdf.
124 Von Ranke-Graves, Die weiße Göttin, S.48-49. Er schlägt vor, die Kentauren als historische Ethnie aufzufassen, mit Chiron (oder Cheiron) als ihrem Sakralkönig. Für ihn gehören sie zu der einem Pferdekult anhängenden pelasgischen Bevölkerung Griechenlands, die dem Druck der indoeuropäischen Achaier standhielten, und sich mit ihnen verbünden konnten: In meinem Essay What Food the Centaurs Ate stelle ich die Vermutung an, daß sie sich durch den Genuß des Fliegenpilzes, Amanita muscaria, berauschten, von der hundertarmigen Kröte aßen, von ein Exemplar, in einen etruskischen Spiegelrahmen geschnitzt, zu Füßen ihres Ahnherren Ixion zu sehen ist (Ebd. S.70).
125 Terminus nach Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt a.M., 1975.
126 Das wichtigste an dieser Geschichte ist, daß die Verletzung rein zufällig und unabsichtlich geschieht. [...] Der Mythos zeigt eine gewisse Logik – wenn nicht sogar Gerechtigkeit -, sobald wir den Kampf des Herakles gegen die »bösen« Kentauren als einen Grundkonflikt verstehen, für den Chiron leiden muß, obwohl er unschuldig ist. [...] Gehen wir von der zweiten Version der Geschichte aus, in der es um den Kampf des Herakles gegen die Hydra geht, so steckt darin ein gewisse Logik, wenn nicht sogar Gerechtigkeit, denn wieder leidet Chiron aufgrund eines Kampfes, mit dem er zwar selbst nichts zu tun hat, zu dem er aber durch seine Beziehung zu Herakles in Verbindung tritt (Abwehr und Abgrenzung, S.232).
127 Wie ich in Lichtträger in dunkler Zeit gezeigt habe, symbolisiert der Pferdeleib des Kentauren, in esoterischer Sicht, dessen Bindung ans irdisch-physische der materiellen Welt, die er bemüht zu transzendieren. Psychische Reifung und Selbstwerdung habe ich dort als das chironische Thema der Pubertät beschrieben. Der Individuationsprozess, wie Carl Gustav Jung ihn verstanden hat, führt den Menschen erst in der zweiten Lebenshälfte zu einer Auseinandersetzung mit seinen Gefühlen. Wie Chiron muss jeder erst die materielle Welt überwinden, seinen animalischen Leib, muss in der Krise der Lebensmitte seine Verwundung als Herausforderung, Reinigung und Läuterung begreifen, bevor es ihm gelingt, durch die Integration von Anima und Schatten, vollständig oder heil zu werden. Natürlich gehört zu dieser Herausforderung auch, seine Verletzung anzunehmen, aber nicht um sie zu behalten, sondern um sie zu verwandeln. Es ist ausgesprochen wichtig, meint Jung, diesen Individuationsprozeß nicht in der Abgeschiedenheit (in Chirons Höhle) zu erleben, sondern mitten hineingestellt in sein Leben. Gibt Chiron wirklich auf, wie Eva Stangeberg meint (vgl. Chiron, S.44)? Im Gegenteil, er ergreift die ihm durch seine Verwundung entstehende Chance: indem er sein Ego überwindet, erlösen sein Mitleid und seine Teilhabe schließlich Prometheus aus seiner misslichen Lage im Kaukasus.
128 Er ist allerdings verwundet, »unheil« [...], ist aus der Ordnung gefallen und er leidet darunter (Stangenberg, Chiron, S.42).

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