[...] das Unvergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr,
und, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.
Richard Wagner
Auf einen dieser mysteriösen, ihn eigenartig berührenden Namen stieß Tolkien schon sehr früh, noch während seiner Tätigkeit als Hochschullehrer in Oxford (1913), im Zusammenhang seiner Studien altenglischer und altnordischer Sprachen an der Honour School of English Language and Literature. Verlyn Flieger fasst die Bedeutung dieses Moments für Tolkiens Werk in wenigen Worten zusammen, wenn sie auch darin irrt, dass Earendil the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction ist, eine Rolle, die auch Frodo Beutlin für sich in Anspruch nehmen kann:
No one familiar with Tolkien´s mythos could mistake the importance of the name Earendel or miss its pervasive presence deep in the fabric of his comology. [...] Earendel is, of course, the half-Elv half-Man savior figure from The Silmarillion who sailed his ship to Valinor in order to plead with the Valar for the rescue of Elves and Men. The resonance of the figure developed over time and underwent considerable change, yet he stands out as the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction.1
In ihrer Studie kommt Verlyn Flieger hinsichtlich der Herkunft des altenglischen Namens Éarendel und dessen Bedeutung für Tolkien zu einer eher pessimistischen Auffassung: But why the name itself was so important and what precisely it meant to Tolkien has never been made clear, perhaps even to him.2 Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist auch, diese Hypothese zu hinterfragen.
Im Verlauf seiner mythologischen und sprachwissenschaftlichen Studien in Oxford las Tolkien auch den Crist des Cynewulf und fand dort die beiden Zeilen, die ihn nicht mehr losließen. In der Folge seines Schaffens bildeten sie den Kern der Quenta Silmarillion, einer Kette von Ereignissen, die um den Verlust und Wiedererwerb der Silmarilli rankt, die strahlende Splitter des reinen, unverdorbenen Lichtes schöpferischer Kreativität repräsentieren,3 die Tolkien anderenorts als flame imperishable,4 in mehr katholischer Perspektive als den Heiligen Geist, verstanden wissen will.5
Tolkiens Biograph, Humphrey Carpenter, stellt ausführliche Überlegungen dazu an, woher Tolkien die Idee zu Earendil nahm und verweist auf die religiöse Dichtung Cynewulfs, welche die folgende Stelle enthält:
Eala Earendel engla beorhtast
Ofer middangeard monnum sended.
Heil Earendel, stahlenster der Engel,
über der mittleren Erde den Menschen gesandt.6
In A New Star Is Risen Up In The West habe ich darauf hingewiesen, dass sich diese Cynewulf-Stelle, in nur leicht veränderter Form in Tolkiens Earendil-Saga wiederfinden lässt. Als nämlich in der Qenta Noldorinwa Manwës Sohn, der Herold Fionwë, Earendil bei seiner Ankunft in Valinor begrüßt, wendet dieser sich mit einem Gruß an den Ankömmling, der das Erendel-Lob des Crist fast wörtlich zitiert (abweichend star statt engla):
»Hail Eärendel, star most radiant (im Crist: Eala Earendel engla beorhtast; HWJ), messenger most fair! Hail thou bearer of light before the Sun and Moon, the looked-for that comest unawares, the longed-for that comest beyond hope! Hail thou splendour of the children of the world, thou slayer of the dark! Star of the sunset hail! Hail herald of the morn!«7
In ihrer reichhaltig mythologische Quellen kommentierenden, kulturvergleichenden Untersuchung Die Mühle des Hamlet zitieren Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend den Cynewulf-Vers vollständiger, als dies Tolkiens Biograph Carpenter tut, und ergänzen die Persönlichkeit, die Tolkien in Earendil, den strahlendsten der Engel sieht, um weitere wichtige Merkmale, denn Cynewulf spricht auch davon, dass Earendel aus sich selbst leuchtet.
Heil Earendel, der Engel glänzendster,
über Mittgart den Menschen gesandter,
du sicher-wahrer Strahl der Sonne,
über die Sterne strahlend, der du
aus dir selbst leuchtest.8
Dieser Hinweis ist bei weitem nicht redundant, sondern in Bezug auf die beiden altnordischen Helden, Aurvandillr und Sólbjartr, von denen später die Rede ist, äußerst relevant.
Doch selbst dieses Zitat ist noch verkürzt, um Tolkiens Faszination wirklich zu verstehen. Die vollständige Belegstelle im Crist, die den Kontext der Zeilen, die Tolkien bewegten, herstellt, muss daher ausführlich zitiert werden, damit die Bezüge von Earendils Persönlichkeit vollständig sichtbar werden. Die von Carpenter selektierten Zeilen, aber auch das von de Santillana und von Dechend bei Reuter gefundene Zitat verschweigen wichtiges:
Siehe! du Glanz des Tagesanbruchs, schönster der Engel, den Menschen auf Erden gesandt, du Sonnenstrahl der Gerechtigkeit, mit deinem Wesen allein erhellst du alle die wechselnden Zeiten! Gott von Gott gezeugt, Sohn des wahren Vaters, der du wohntest ohne Anfang in der Herrlichkeit des Himmels von Ewigkeit her, dich flehet in seiner gegenwärtigen Not an, du wolltest uns die helle Sonne senden und in deiner wahren Gestalt kommen, zu erleuchten, die da lange von dunklen Wolken bedeckt waren und die da saßen in Finsternis.9
Tolkien kannte sicher den ganzen Text und als gläubigem Katholiken mag ihm der Cynewulf-Vers in dieser Vollständigkeit wichtig gewesen sein. Außerdem macht sie sein qualitatives Earendil-Bild verständlicher. Es ist deshalb auch schwer nachvollziehbar, warum sein Biograph Carpenter diese so wichtigen Zeilen kürzte.
Tolkiens fiktive Mythologie, was deutlich hervorgehoben werden muss, wurde zuerst als Poesie geboren, ein Beleg für seine numinose Ergriffenheit, die er beim Lesen der zitierten Crist-Stelle empfunden haben muss; erst später fügte er sie in die prosaische Form der Quenta Sillmarillion. Die später betrachteten, poetischen Fassungen der fiktiven Earendil-Saga bezeugen unmittelbar die Erfahrung naturräumlicher Ergriffenheitserlebnisse, die Tolkien in seinen frühen Earendil-Gedichten äußerst verdichtet zum Ausdruck gebracht hat. Tolkiens gesamter mythologischer Kosmos, seine zutiefst katholische Mythographie, entwickelte sich nachweisbar aus einem einzigen Samen: aus seiner Faszination für die Persönlichkeit des strahlenden Earendil. In einem Brief an Stratford Caldecott schildert Tolkien unmissverständlich die Erregung (den thrill), die Ergriffenheitserfahrung (stirred in me, half wakened from sleep), die in ihm ein leiblich spürbares Glücksgefühl auslöste (remote and strange and beautiful): seine erste Begegnung mit dieser Gestalt der altenglischen Dichtung aus dem achten Jahrhundert, deren emotionale Atmosphäre er rational zu erfassen (grasp) trachtete.10
Im Altenglischen, so erläutert Carpenter seinen Lesern allzu nüchtern, bedeute éarendel, Lichtschein, Strahl. Tolkien, so fährt Carpenter fort, habe einerseits angenommen, dass es sich bei diesem Namen um eine symbolische Bezeichnung für Johannes den Täufer handele. Das vollständige Zitat der entsprechenden Crist-Stelle weist zwar auf einen solchen Boten hin, der zwischen Gott und den Menschen vermittelt, die Licht-Qualitäten deuten eher auf einen Messias-, einen Heils- oder Lichtbringer hin, wie Verlyn Flieger vermutet. Denn auch Jesus, der Christus, kann als ein Bote, als ein Vermittler zwischen Gott und Menschen aufgefasst werden. Andererseits fährt Carpenter fort, sei Tolkien auch davon ausgegangen, das altenglische Lexem éarendel ursprünglich den Stern bezeichne, der den Tag ankündige, nämlich den Planeten Venus, den die christliche Symbolik oft mit Maria (Isis, Astarte etc.) assoziert. Ein Moment der Ergriffenheit durch eine klangliche Assoziation legte wahrscheinlich das Fundament für eine komplexe fiktive Mythologie, so zumindest lassen sich die erläuterten Schlussfolgerungen bewerten. Humphrey Carpenter berichtet auch, dass Tolkien sich seit 1913 nicht nur mit dem Angelsächischen, sondern ebenfalls mit dem Altnordischen (und Altisländischen) beschäftigt hat:
Tolkien war mit dem Nordischen bereits ein wenig vertraut, und nun machte er sich an ein gründliches Studium seiner Literatur. Er las die Sagas und die Jüngere Edda oder Prosa-Edda. Er las auch die Ältere oder Lieder-Edda, und so geriet er an die alte Schatzkammer der isländischen Mythen und Sagen.11
Hinter dem altenglischen Text, der religiösen Literatur des Cynewulf, verbirgt sich nun ein äußerst mysteriöser, altnordischer Mythenrest. Er ist fragmentarisch und dunkel, doch Tolkien, der sich damals intensiv mit der altnordischen Sprache und Mythologie befasst hat, hat diesen Zusammenhang mit Sicherheit erfasst. Vielleicht war ihm auch die umfangreiche Fachdiskussion vertraut, die über diese Mythenabbrevation damals in der germanischen Altertumskunde geführt wurde. Auch Randel Helms hebt hervor, dass Tolkien schon in seiner Oxforder Zeit, als er sich philologisch mit der norrönen Literatur befasste, und auch die Prosa-Edda (Snorra-Edda) las, wissen konnte,
dass Earendel im Angelsächischen „strahlendes Licht“ bedeutet und sich auf den Planeten Venus bezieht, doch in Verbindung mit „Midgard“ und „Engel“ erschien ihm das Wort wie ein Widerschein eines tieferen Sinns.12
In der Snorra-Edda begegnete Tolkien dem Sternen-Engeln Earendil in der erwähnten Mythenabbrevation erneut, dieses Mal in einer früheren Phase seiner Existenz. Dem Leser eddischer Traditionen ist es nämlich vergönnt, einer Katasterisation beizuwohnen, die erst das Earendel-Bild altenglischer, christlich motivierter Texte inspiriert hat.
Der entsprechende Text der Snorra-Edda (SnE) berichtet von einem gewissen Aurvandillr. Über dessen mythische Rolle ist wenig Charakterisierendes tradiert, dass dessen Persönlichkeit erhellen oder auf seine mythische Funktion würde schließen lassen können. In einem þórr-Mythos, der von dessen Kampf mit dem Jöten Hrungnir erzählt, spielt Aurvandillr eine unverstandene Nebenrolle. Snorri Sturluson erzählt in den Skáldskaparmál (Skaldsk) das Mythenfragment um Aurvandillr.13
In freier, kommentierender Übersetzung behandelt Skaldsk 17 das folgende Ereignis: þórr, von Norden kommend, sei durch den Fluss Élivágar gewatet, den Grenzfluss am Ende der Welt, der Riesen (Jötunheimr) von Æsir (Asgarðr) und Menschen (Midgarðr) trennt. Er habe in einem Korb auf seinem Rücken einen gewissen Aurvandillr getragen, von dem sonst nirgends in der norrönen Mythologie die Rede ist. Aufgrund des Morphems aur- in seinem Namen kann auf den ersten Blick lediglich vermutet werden kann, er sei einer der Riesen aus Jötunheimr, von jenseits des Élivágar. Jan de Vries scheint diesbezüglich unsicher zu sein, wagt deshalb nur den Nebensatz, Aurvandill [...], der wohl doch kein Riese war.14 Jan de Vries hat sich auch gefragt, warum in diesem einzelnen Fall þórr, der erklärte Feind der Riesen, und Aurvandillr befreundet sind. Es muss deshalb, wenn Aurvandillr kein Riese ist, die Beziehung zwischen ihm und þórr geklärt werden. Aufzuklären ist dann ebenfalls, wo und warum die beiden sich gerade in dieser Region und in einer Zeit trafen, in der þórr von einem Riesenwettstreit heimkehrte. Dies sind insgesamt schwer zu verstehende Sachverhalte, die noch unbeantwortete Fragen aufwerfen.
Während der gemeinsamen Reise habe ein Zeh Aurvandills aus dem Korb herausgeragt und sei deshalb erfroren. þórr habe diesen Zeh abgebrochen und an den Himmel geworfen. Aus dem Zeh sei, Beweis dieser Tat, ein Stern entstanden, der Aurvandils Zeh (an. Aurvandils tá) heißt. Diese Geschichte erzählt þórr retrograd einer Riesin, der Seherin (an. völva) Gróa, die Aurvandills Frau ist, und die gerade dabei ist, den Steinsplitter aus þórrs Kopf zu entfernen, der noch aus seinem Kampf mit Hrungir stammt. Diese Episode lässt erneut daran denken, dass Auvandillr ein Riese sein könnte, hat er doch eine Riesin zur Frau. Dies ist aber nicht konsequent mythologisch gedacht, da Mythologie wenig Rücksicht auf menschliche Formen agnater oder affinaler Verwandtschaft nimmt. Aurvandillr kann alles Mögliche aus dem weiten Spektrum belebt-unbelebt, organisch-anorganisch, tierisch-menschlich, göttlich-menschlich sein, bedeuten, selbst ein Stern, und doch mit einer Riesin verheiratet.
Aus Freude über þórrs voreilig überbrachte Nachricht unterlässt sie weitere Heilungsversuche, sodass der Steinsplitter in þórrs Kopf verbleibt.15 Es soll nicht ratsam sein, fährt Snorri volkstümlich fort, einen Wetzstein quer über den Fußboden zu werfen, weil sich dann der Stein in þórrs Kopf bewege.16 Das hohe Alter dieses Motivs beweist der Name der Hochsitzsäulen (an. reginnaglar) in der germanischen Halle: In den Kopf der darauf abgebildeten þórr-Bilder war ein Nagel eingeschlagen. Auch der irische Cúchulain besitzt auf der Stirn einen Auswuchs, der so dick ist, wie der Wetzstein eines Kriegers. Diese Mythenabbrevation der Skáldskaparmál teilt nur Details über Aurvandillr mit, nämlich,
- dass þórr ihn in einen Korb aus Jötunheim herausgetragen, ihn, da versteckt im Korb möglicherweise sogar herausgeschmuggelt und vor irgendeiner Gefahr gerettet hat (den Korb auf þórrs Rücken erwähnt auch der Verfasser von Hársbarðsljóð 3);
- dass Aurvandillr anscheinend, sicher aber seine Frau Gróa, Riesen sind;
- dass þórr die erfrorene Zehe Aurvandills abbrach, sie an den Himmel warf, wo sie zu einem Sternbild wurde.
Der Name Gróa kommt in der nordischen Mythologie in drei unterschiedlichen Quellen vor:
- in der eddischen Dichtung Grógaldr (Gg; dem sogenannten Zauberlied der Gróa) ist sie die Mutter des Svipdagr; Grógaldr und Fjölsvinnsmál (Fjm) bilden zusammen die Dichtung, die die Jugend des Helden Svipdagr schildert vgl.(auch Svipdagsmál; Svm);
- in der Snorra-Edda (Skaldsk 17) ist sie Aurvandills Frau;
- in Saxos Gesta Danorum (I.21ff.)17 tritt Gro (Gróa) als Tochter des schwedischen Königs Sigtrugus (Sigtrygg) auf, die mit einem Riesen verlobt ist und die von Gramr vor diesem vermeintlich unwürdigen Schicksal bewahrt wird, indem dieser sie kurz entschlossen entführt.
Setzt man mit Viktor Rydberg etwas gewagt voraus,18 dass es sich in diesen drei Quellen um ein und dieselbe Gróa handelt, was aber nicht unbedenklich ist, dann erhalten wir eine mythische Genealogie, in der Aurvandillr seine soziale Position erhält. Die Vermutung, Aurvandillr könne ein Riese sein, ist allenfalls hypothetisch nutzbar und setzt voraus, dass es sich bei den Riesen der norrönen Literatur um die authochthone Bevölkerung des hohen europäischen Nordens handelt. Die Erklärung, warum þórr, der den Riesen feindlich gesinnt ist, einen solchen freundlich behandelt, wie er es mit Aurvandillr tut, klärt sich nicht gleichzeitig. Genealogisch eingeordnet, nähme Aurvandills folgende Stellung ein:
G+1 | Sigtryggr |
G 0 | Signe / Gramr / Gróa / Aurvandillr |
G-1 | Haddingr / Guðormr / Svipdagr |
Erstaunlicherweise löste diese Mythenabbrevation, die darüber hinaus innerhalb der nordischen Mythologie keine erkennbar eigenständige Rolle spielt, sondern im Rahmen des Zweikampfes zwischen þórr und Hrungir überliefert wird, eine heftige wissenschaftliche Diskussion aus. Die Fragen, die dabei aufgeworfen wurden, sind weit von einer Beantwortung entfernt. Aurvandillr-Earendil scheint eine Persönlichkeit zu sein, die die Gemüter der Gelehrten unterschiedlicher Zeiten in ihren Bann gezogen hat.
Der Hinweis für die Interpretation, dass Gramr eine Prinzesin namens Gróa entführt, die mit einem Riesen verheiratet werden soll, geht auf Saxo zurück, der in christlicher Perspektive mutmaßt, eine solche Verbindung könne nur unwürdig und verwerflich sein:
>Gram erfuhr zufällig, dass Gro, die Tochter des Schwedenkönigs Sigtrugus, mit einem Riesen verlobt sei; voll zornigen Eifers über eine Verbindung so unwürdig königlichen Blutes (keine Standesgleichheit als Grundlage der Ehe; H.W.J.), begann er einen Krieg mit den Schweden, um nach dem Beispiel von Herkules´ Tapferkeit den Kampf gegen Ungeheuer aufzunehmen.19
Die anderen Quellen berichten von der mit Aurvandillr verheirateten Gróa (Skaldsk 17) und von deren Sohn Svipdagr (Gg). Ob Svipdags Vater Aurvandillr heißt, wird nicht erwähnt. Die beiden eddischen Quellen (Gg und Skaldsk 17) schildern Gróa als eine Völva, als Heilerin und Seherin, geschickt in Wortmagie (an. galdr) und in magischem Ritual (an. seiðr). Die Fehde, die jener Svipdagr mit Gramr und dessen Sohn Haddingr austrägt, interpretiert Viktor Rydberg als Vaterrache des Sohnes für seinen Vater Aurvandillr, den Saxo möglicherweise unter dem Namen Grip einführt, und seinen matrilinearen Großvater Sigtryggr, die Gramr beide tötete.20 Bestätigung dieser These könnte der Sachverhalt sein, dass sich Svipdagrs Rache allein gegen Haddingr richtet, dessen Mutter bei Saxo Signe heißt, nicht gegen seinen Halbbruder Guðormr, Gróas Sohn mit Gramr.
Es sind Mythenabbrevationen und kritisch zu bewertende Spekulationen, mehr nicht, die über diesen in Snorra-Edda und bei Rydberg ins frækna genannten „Helden“ (der Tapfere), wenn er denn einer ist, berichten. Die Persönlichkeit Aurvandills bleibt verborgen und nichts anderes übrig, als den kulturellen und semantischen Kontext, in dem sich diese mysteriöse Gestalt nordischer Mythologie einst bewegte, hypothetisch zu erschließen. Evident ist, dass es sich bei dem von Tolkien gefundenen altenglischen Éarendel (ae.) und Aurvandillr (an.) um die gleiche Person handelt. Allein schon seine Existenz in den Traditionen von zwei altgermanischen Ethnien, insbesondere aber die Übernahme seines Namens und seiner Persönlichkeit in die frühe christliche Lehre altenglischer Provinienz, unterstreicht die Bedeutung dieses mythischen Protagonisten. In der altenglischen Überlieferung erscheint Éarendel in der Gestalt eines Lichtträgers, der in christlicher Doktrin ein Engel ist, und noch ursprünglicher in der altnordischen Version ein Stern, ein bestimmter Planet. Ein vernachlässigbarer Unterschied, der sich ohnehin nur auf symbolischer Ebene deuten lässt, denn das Phänomen des Glänzens und Leuchtens verbindet Engel und Stern. Eine reale Beziehung zu einem Stern hat der altnordische Aurvandillr, zumindest aber sein Zeh, wie gezeigt wurde. Beiden mythischen Protagonisten gemeinsam ist ein Glänzen, allgemeiner ein strahlendes Licht. Wobei allerdings noch nicht feststeht, ob mit diesem Sternen-Engel (an. aurvandils tá beziehungsweise ae. éarendel engla beorhtast), wie Tolkien aufgrund der Mitteilung Carpenters vermutete, nach altgermanischer Überzeugung wirklich der Planet Venus gemeint ist. Dass es sich bei diesem strahlenden Licht nach christlicher Überzeugung um Johannes den Täufers handelte, symbolisiert in dessen Botenrolle, der dem noch helleren Strahlen des Christus vorausgeht, wie der Morgenstern der Sonne, mag unmittelbar einleuchten. Ob Tolkien aber wirklich vermutete, wie Carpenter zu glauben scheint, dass es sich nur um die Venus handeln könne, da der entsprechende Stern in der Morgendämmerung aufgeht, erscheint doch angesichts Tolkiens fundamentalistisch-katholischer Einstellung äußerst fraglich. Außerdem reicht das Indiz, es handele sich um die Venus, allein nicht aus, denn geogaphisch-kulturell unterschiedlich wahrgenommen, kann jeder heliakisch aufgehende Stern der Morgenstern sein.
Fest steht bisher nur eins: Die altnordische Aurvandillr-Mythe und die Éarendel-Stelle bei Cynewulf sind kaum verständlich, das Erzählmotiv fragmentarisch und der Inhalt dunkel, für Tolkien ein äußerst lohnender Fund, den er imaginativ aufspüren und vollenden konnte. Vorsichtig urteilt Jan de Vries:
Etwas Mythisches steckt wohl dahinter, aber der Sinn des Auvandillmythus bleibt dunkel, und es wird leider nicht weniger, wenn wir die außerskandinavischen Erzählungen zum Vergleich heranziehen. [...] Die Überlieferungen gehen so weit auseinander, daß man sie nicht zu einer einheitlichen Form verbinden kann. [...] Wenn man nun beachtet, daß der Mythus sich leichter in eine Heldensage verwandelt als umgekehrt, wird man die Möglichkeit nicht bestreiten, daß die an. Tradition uns näher zum Ursprung führt als die südgermanische.21
Tolkien haben solche Bedenken herausgefordert, und er schuf mit seiner Earendil-Saga ein Amalgam, das wie ein Mosaik die verschiedenen Splitter zu einem kohärenten Bild zusammenfasst. Nicht nur seine an der Linguistik geschulte Methode, auch seine guten Kenntnisse der altnordischen Sprache und Kultur, erhellen nach seiner Korrektur und Ergänzung der Mythenabbrevation Aurvandillr viel Unverständliches. Tolkiens Eraendil-Aurvandillr ist, wie ich zeigen werde, eine Persönlichkeit, die in einem kulturellen Rahmen eine Aufgabe hat und eine Funktion erfüllt.
Weiter lesen: Die semantische Ambivalenz von altnordisch aurr
Anmerkungen
1 Verlyn Flieger, A Question of Time. J.R.R. Tolkiens Road to Faërie, Kent, Ohio, 1997:148-149 [Question].
2 Flieger, Question, 149.
3 Neuerdings hat der amerikanische Fantasy-Autor Brandon Sanderson Tolkiens Idee von Splittern als Fragmente der kreativen Ur-Substanz (Energie) Adonalsium, als shards oder shardworlds, in seiner Kosmogonie wieder aufgegriffen.
4 Tolkien, HME, X.13-14 (Ainulindalë); Tolkien, HME, X.301-366 (Athrabeth Finrod ah Andreth).
5 Ist das Motiv von dem in die Silmarilli eingeschlossenen Licht der Zwei Bäume nicht die Umkehrung eines Märchenmotivs, das Hans Christian Andersen als narrativen Ausgangspunkt in Die Schneekönigin verwendet hat? Dort erzählt er, dass der Teufel (ein böser Kobold) einen Spiegel angefertigt hat, der die Eigenschaft besaß, dass alles Gute und Schöne, das sich darin spiegelt, fast zu nichts zusammenschwand, und alles, was nichts taugte und schlecht war, das trat hervor und wurde noch schlimmer. Die Hilfe, die Feänor von Melkor bei der Herstellung der Silmarilli erhielt, und vor allem die Verunreinigung der Silmarilli durch ihn und die Spinne Ungolinat, beeinflussten die Reinheit der Kleinodien. So wie der Spiegel in Die Schneekönigin zerbricht, und die Splitter in die Augen der Menschen geraten, und großes Unglück über sie brachte, da die nun alles verkehrt sahen, so brachte auch die Habgier und der Eid Feänors und seiner Söhne Unglück über die Noldor und Edain. Dieses Schicksal konnte erst die selbstlose Tat Earendil wenden. In Die Schneekönigin rettet die Schwester Gerda, wieder durch selbstlose Hingabe, ihren Bruder Kai, dem ein winziger Splitter des Spiegels des Teufels im Auge sitzt, wodurch er ganz gefühllos wurde.
6 Carpenter, Biographie, 79.
7 J.R.R. Tolkien, The Quenta herein is the Qenta Noldirinwa or Pennas-na-Ngoelaidh (This is the brief History of the Noldoli or Gnomes, drawn from the Book of Lost Tales), The History of Middle Earth, Volume 4, The Shaping of Middle-Earth, London, 1993:154 (HME IV].
8 Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend, Die Mühle des Hamlet. Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit, Berlin, 1993:341 [Hamlet]. Die beiden Autoren zitieren die Cynewulf-Stelle nach Otto Sigfrid Reuter, Germanische Himmelskunde. Untersuchungen zur Geschichte des Geistes, München, 1934:256 und Isaac Gollancz, Hamlet in Iceland, London, 1898:xxxvii.
9 Cynewulf, Crist, neuenglische Version, übersetzt von A.C. Cook, Boston, 1900:21.Vgl. auch: Eala Earendel engla beorhtast, ofer Middangeard monnum sended, and sodfasta sunnan leoma, tohrt ofer tunglas þu tida gehvane of sylfum þe symle inlihtes (Heil Earendel, strahlendster der Engel, über der mittleren Erde den Menschen gesandt. Du der du wahrlich der Strahl der Sonne bist, der du über den Himmelskörpern scheinst, ewiglich aus dir selbst Licht gebend); vgl. Codex Exoniensis, der diese Hymne an Christus tradiert, hier zitiert nach Victor Rydberg, Teutonic Mythology. Gods and Goddesses of the Northland, in three Volumes, Authorized Translation from Swedish by R.B. Anderson, London-Kopenhagen-Stockholm-Berlin-New York, 1907, Kap.99: Svipdag´s Father Orvandil, the Star-Hero [Teutonic Mythology].
10 Stratford Caldecott, Over the Chasm of Fire: Christian Heroism in The Silmarillion and The Lord of the Rings, in: Joseph Pearce, Tolkien. A celebration, Collected Writings on a Literary Legacy, San Francisco, 1999:22: I felt a curios thrill, he wrote, as if something had stirred in me, half wakened from sleep. There was something very remote and strange and beautiful behind those words, if I could grasp it, far beyond the ancient English (Carpenter, Biographie, 79; vgl. auch Tolkien, Briefe, 495-504, hier: 50a galdra, ok varð heinin eigi lausari ok stendr enn í höfði Þór, ok er þar boðit til varnanar at kasta hein of gólf þvert, því at þá hrærist heinin í höfði Þór. (Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd.1, Berlin, 1956:249 [ARG 1].).
11 Carpenter, Biographie, 80.
12 Helms, Simarille, 10.
13 Skáldskaparmál 17, Snorri Sturluson, Etext: Prosa-Edda.
14 Þórr fór heim til Þrúðvanga, ok stóð heinin í höfði honum. Þá kom til völva sá, er Gróa hét, kona Aurvandils ins frækna. Hon gól galdra sína yfir Þór, til þess er heinin losnaði. En er Þórr fann þat ok þótti þá ván, at braut myndi ná heininni, þá vildi hann launa Gró lækninguna ok gera hana fegna, sagði henni þau tíðendi, at hann hafði vaðit norðan yfir Élivága ok hafði borit í meis á baki sér Aurvandil norðan úr Jötunheimum, ok þat til jartegna, at ein rá hans hafði staðit úr meisinum, ok var sú frerin, svá at Þórr braut af ok kastaði upp á himin ok gerði af stjörnu þá, er heitir Aurvandilstá. Þórr sagði, at eigi myndi langt til, at Aurvandill myndi heim koma, en Gróa varð svá fegin, at hon mundi eng.
15 Die jüngere Edda mit dem sogenannten grammatischen Traktat, übertragen von Gustav Neckel und Felix Niedner, Düsseldorf und Köln, 1966:147-148. Gróa ist eine Seherin und die Mutter Svipdags (Grógaldr, Gg); in den Skáldskarpamál ist sie Aurvandills Frau. Élivágar heißt der Fluss, der die Grenze nach Jötunheimr (Wohnort der Riesen) hin bildet, aber auch: die aus der Quelle Hvergelmir in die Urschlucht Ginnungagap fließenden Ströme, deren giftige Reiftropfen, als sie auf die Hitze Muspelheims stossen, im schmelzenden Eis das erste organische Leben, den Riesen Ymir, entstehen ließen. þrudvang (þrúdhvangr, Kraft-Feld) ist þórrs Wohnung, allerdings eine späte Ausschmückung.
16 Skaldsk 17; zitiert nach: Die Edda des Snorri Sturluson, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause, Stuttgart, 1997:110-111 [SnE]. Vgl. auch Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd.2, Berlin, 1970:133ff. [AGR 2].
2-503 (Brief 297, Entwürfe zu einem Brief an »Mr. Rang«, August 1967).
17 Saxo Grammaticus, Die ersten neun Bücher der Dänischen Geschichte, übersetzt und erläutert von Hermann Jantzen, Berlin, 1900, hier: Erstes Buch, 21ff. [Saxo].
18 Rydberg, Teutonic Mythology, Kap.24: Halfdan´s Enmity with Orvandel and Svipdag.
19 Saxo, Erstes Buch, 21-22.
20 Es ist eine Hypothese, dass mit dem Namen Grip der Riese, Gróas Verlobter / Ehemann, gemeint ist (Saxo, Erstes Buch, 23). Dass Gramr diesen aber erschlug ist aus der Bemerkung, Gramr sei nach Schweden aufgebrochen, den Kampf gegen Ungeheuer aufzunehmen, zu entnehmen (Saxo, Erstes Buch, 21-22).
21 De Vries, AGR 2.137.
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