Donnerstag, 4. April 2024

Drachengesänge


Erzähl mir eine Geschichte.«
»Erzähl von Anfang an.«

Jenn Lyons

Vorbemerkung

Jenn Lyons High-Fantasy-Pentalogie Drachengesänge ist ein komplexes Werk, und eher für Leser*innen geeignet, die weniger konsumieren als mitdenken und mit entdecken wollen. Denn dazu gibt es Gelegenheiten genug; aber auch Notwendigkeiten, will man in den vollen Genuss ihrer Fabulierkunst kommen. Und, was auch nicht verschwiegen werden darf, deren Frustrationstoleranz es aushält, Rätsel hinzunehmen, längere Zeit widersprüchliche Aussagen zu akzeptieren, bis sich auf den ersten Blick überzeugende Lösungen abzeichnen, die einige Kapitel später doch wieder verworfen werden, mit einem Satz: abzuwarten, bis die Figuren genug Erfahrungen und Wissen gesammelt haben, um ihren Wahrnehmungen zu vertrauen. Denn erst dann können sie ihr Wissen mit den Leser*innen teilen, und deren Erwartungsspannung lösen. Jedenfalls für den Moment, bevor die nächsten Rätsel auf Figuren wie Leser*innen warten. Geschehen und Figuren erweisen sich immer wieder als unwägbar.
Es ist ihre ungewöhnliche Erzähltechnik, die Jenn Lyons zu einer interessanten Autorin macht. Jedenfalls bringt sie frischen Wind in ein Genre, das mittlerweile mehr von der Variation genretypischer Klischees als von Ideenreichtum und Kreativität lebt. Jenn Lyons hat in dieser Hinsicht einen Coup gelandet, und wer bereit ist, ihr in ihre komplexe, mit einer Flut von Figuren bevölkerten, erzählten Welt zu folgen, dem bereitet sie nicht nur manche Überraschung, sondern auch manch Rätselhaftes. Die immer wieder aufgeschobenen Informationen müssen Leser*innen aushalten, zum gerne gezahlten Preis der Spannungssteigerung und mitfiebernder Neugier. Das Überraschendste aber ist, wie gesagt, ihr Erzählkonzept, das sich erfrischend vom bisher Vorgelegten abhebt. Man muss sich mit ihrem Roman beschäftigen wie mit einem Videospiel, muss auf jedem Level sein Repertoire zusammentragen, um aufs nächste Level aufzusteigen. Die Lektüre von Der Untergang der Könige gleicht Tempers und Kiskas odysseeartige Queste durch die Straßen und Viertel von Malaz-Stadt, bei der sie die Desorientierung und Verwirrung ihrer Ortskenntnis, magische Hindernisse und Blockaden sowie Angriffe von dämonischen Kreaturen bewältigen müssen, bevor sie der Aszendenz von Kellanved und Dancer durch mehrere Level in der historischen Raum-Zeit von Insel und Stadt Malaz auf die nächste Stufe folgen können.

1 In den folgenden Ausführungen zu Jenn Lyons Roman ist mit SPOILERN zu rechnen. Um meiner Argumentation folgen zu können, ist es hilfreich, den ersten Band der Drachengesänge gelesen zu haben (Jenn Lyons, Der Untergang der Könige, Drachengesänge Bd.1, Stuttgart, 2019:282 [DGS 1], Band 2: Der Name aller Dinge (2019) und Band 3: Die Erinnerung der Seelen (2020) sind bereits in deutscher Übersetzung erschienen, aber nicht Thema dieses Blogbeitrags. Die Übersetzung von Band 4: The House of Always (2021) und Band 5: The Discord of Gods (2022) steht noch aus. Diese Studie beschäftigt sich nur mit dem ersten Band der Pentalogie von Jenn Lyons, da sich die narrative Struktur der anderen Bände nicht wesentlich unterscheidet).


Einleitung

Drachengesänge! Welcher Fantasy-Liebhaber wird bei einem solchen Titel nicht hellhörig. Gibt es überhaupt einen literarischen Topos der Fantasy, der mehr Magie verspricht als es Drachen tun? Und in einer Geschichte, in der Drachen ihren Auftritt haben, sind Zauberer, Hexen, Assassinen, Gestaltwandler und Dämonen nicht fern. Und natürlich magische Artefakte und Rituale, die magische Manipulationen ins Werk setzen, insgesamt die charakteristischen Zutaten jeder guten Fantasy-Erzählung. The Ruin of Kings (dt. Der Untergang der Könige) heißt der erste Band der Pentalogie A Chorus of Dragon (dt. Drachengesänge, 2019-2022), das literarische High Fantasy-Debüt der US-amerikanischen Videospiel- und Buchautorin Jenn Lyons. Der Untergang der Könige ist nicht nur der Titel des ersten Bands; denselben Namen trägt auch ein Schwert, das für Kaiser Simillon hergestellt wurde, und das noch weitere Namen besitzt wie Urthaenriel oder Gottesschlächter.1 Auf fast fünftausend Seiten präsentiert sie ein beeindruckendes Debüt der Fantasy. Ihr ist eine komplexe, epische Geschichte gelungen, mit überzeugendem, differenziert gestaltetem Worldbuilding, einer kaum zu überblickenden Anzahl vielschichtiger Figuren, unterschiedlicher sozialer, politischer und religiöser Gruppen und geschickt konstruierten Diskursen. Einfallsreich jongliert sie die vielen Tropen des Genres und stellt sie mitunter souverän auf den Kopf. Anders als viele Neuerscheinungen der letzten Jahre, oder unvollendeter Serien sich verzettelnder Autoren, die ihre Fans unerträglich warten lassen, hat Jenn Lyons ihre Geschichte in einem Stück, ohne lange Pausen, erzählt. Obwohl Schemaliteratur, entfaltet ihre Geschichte eine ungewöhnliche Kompleren geht. Hinzu kommt die Vorliebe der realen Autorin für Rätsel, vermeintliche Ungereimtheiten und vorsätzlich falsche Informationen, die nicht ihr, sondern der eingeschränkten Wahrnehmung und den Wissenslücken ihrer Erzähler angelastet werden muss. Jenn Lyons präsentiert unverfälschte Fantasy, die auf der ganzen Klaviatur der Magie spielt, ohne hybride Einspengsel anderer Genre, changierend zwischen Sword and Sorcery und epischer Fantasy, eine Pseudo-Chronik, überliefert von einem Chronisten, der nach und nach selbst zur Figur der erzählten Welt wird.

1 Für weitere Namen vgl. DGS 1, Anm.**.


Die Autorin und ihr Genre

Die reale Autorin Jenn Lyons kommt aus der Welt der Videospielentwicklung. Von sich selbst sagt sie, die Konstruktion Anderer Welten (worldbuilding) sei ihre Leidenschaft. Wer Biografisches über die Autorin wissen möchte, stellt schnell fest, wie auch die Leser*innen der Drachengesänge, die lange über Herkunft, Motive und Entwicklung ihrer Figuren rätseln müssen, dass Jenn Lyons wenig über ihre Person mitteilt. Die spärlichen biografischen Daten in den Paratexten ihrer Verlage, im Internet redundant verbreitet, informieren schlicht über ihren Wohnort Atlanta, wo sie mit ihrem Mann und drei Katzen lebt, Videospiele entwickelt, um sich abends und nachts ihrer Leidenschaft dem Schreiben und Erfinden von Welten hinzugeben. Etwas mitteilsamer, wenn auch noch immer so vage, sodass ein persönlicher Eindruck ausbleibt, ist die Fandom-Website A Chorus of Dragons Wiki. Wer online nach Einträgen in der englischen und deutschen Wikipedia fahndet, wird enttäuscht. Bisher gibt es keine. Die reale Autorin verschwindet hinter ihrer Geschichte, nicht ohne eine Spur ihrer Vorlieben und Persönlichkeit in Thurvishar D'Lorus zu hinterlassen, einem sekundären Erzähler.
Reale Autor*innen schaffen sich in einer Nebenfigur wie John R.R. Tolkiens Ethnograf Eriol oder Robert Jardans Gaukler Thom Merrilin, eine Erzählinstanz als Alter Ego und sichern sich auf diese Weise eine Repräsentanz im eignen Werk. Thurvishar D'Lorus übernimmt diese Repräsentanz in Jenn Lyons Drachengesängen. Er ist von Anfang an und kontinuierlich präsent. Im ersten Teils von Der Untergang der Könige als fiktiver (auktorialer) Chronist und Kommentator. Schließlich tritt er selbbst als Figur in der erzählten Welt auf. Als Erzähler übernimmt zwei Funktionen für die reale Autorin Jenn Lyons: Einerseits ist er für philosophische, theologische oder kulturkritische Positionen zuständig, die sie in ihre Erzähltexte integrieren will, die meistens ein textexterner, auktorialer Erzähler übernimmt. Andererseits vermitteln er zwischen ihr und ihren Leser*innen, wenn er Sachverhalte ergänzt oder erweitert, die die primären Erzähler nicht oder noch nicht wahrnehmen oder wissen können.

Als narratives Erzählkonzept ist Worldbuilding inzwischen in der fiktionalen Literatur so populär wie kaum ein anderes. Es ist vielmehr das dominierende Erzählkonzept der Fantasy und Science Fiction auf dem Buchmarkt, für Videospiele sowie im Film. Ebenso genießen Fortsetzungen, meistens als Trilogien, große Beliebtheit in der Fantasyszene. Serielles Erzählen gibt inzwischen auf dem Buchmarkt und im Film den Ton an. Die Erfindung einer kohärenten Welt, erzählter Zeit sowie Welt, in der die Motivationen und Handlungen der Figuren sinnvoll funktionieren, bildet die grundlegende Voraussetzung für jede Erzählung. Dass es sich bei einem Roman wie Der Untergang der Könige um Fantasy handelt, daran lässt die Autorin von Beginn an keinen Zweifel aufkommen: Mit Magie könnte er entkommen. Indem es das Tenyé der Stäbe veränderte und das Eisen aufweichte oder die Mauersteine so spröde machte wie vertrocknetes Laub heißt es bereits im Prolog.1 In solchen Szenen zeigt sich das Charakteristische einer fiktionalen Erzählung, die für die Umsetzung ihrer Wünsche und Ziele auf Mittel zurückgreift, die in der Realität der Leser*innen keine Entsprechung besitzen:

  • Fantasy bewerkstelligt in der sekundären Realität Unmögliches mit Hilfe der Magie. Sie lässt Figuren mit ungewöhnlichen Fähigkeiten auftreten, die Konflikte mit magischen Mitteln und Artefakten bewältigen. Die Protagonisten besitzen oder erwerben Zugang zu übernatürlichen Phänomenen, die ihnen ungewöhnliche Mittel zur Manipulation natürlicher Vorgänge und ihrer sozialen Umgebung zur Verfügung stehen.
  • Die Handlungen der Fantasy besitzen keine Verwurzelung in der empirischen Realität der Leser*innen. Sie ereignen sich in einer alternativen, fiktionalen oder sekundären Welt, deren Regeln als ein Spiegel ihrer primären Realität funktionieren.

Ganz anders sind die Erzählungen der Science Fiction beschaffen. In deren erzählten Welt dominieren wissenschaftliche und technische Spekulationen oder Artefakte, die die Lebenswelt und die zukünftige Entwicklung von Kulturen auf der Grundlage eines aktuellen Kenntnisstands vorauszusagen versuchen, indem sie Entwicklungen theoretisch antizipieren. Deshalb wird auch niemand bei einem Titel wie Drachengesänge ernsthaft eine andere Textsorte vermuten als Fantasy.

Der Untergang der Könige erfüllt die Erwartungen an eine epische Fantasy, die durch die Natur der Schauplätze, der Figuren sowie der Themen bestimmt wird, und die darüber hinaus von Elementen des Sword and Socery durchsetzt sind. Wendet man die Kategorien von Farah Mendlesohn an, dann gehört Jenn Lyons Pentralogie in Mendlesohns Kategorie der Immersive Fantasy, in der zwar Portale eine Rolle spielen, ohne dass deshalb auch von einer Portal Quest Fantasy gesprochen werden kann.2 Portale werden geöffnet, durch die Figuren ohne Zeitverlust an andere Orte, nicht aber in andere Welten, gelangen.3 Die Hauptfigur, wie charakterisch für die Young Adult Fiction, befindet sich auf der Suche nach seiner Herkunft und Identität. In Träumen wird die Rettung der Welt antizipiert, die eine geschlossene Welt mit spezifischen Normen und Werten ist; eine Verbindung oder Kommunikation mit anderen, parallelen Welten beziehungsweise der primären Welt der Leser*innen existiert prinzipiell nicht.
Portal Quest Fantasys sind immer auch Initiationsdiskurse, die Jugendliche auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden begleiten (Coming of Age), und das trifft auch auf Khirin, den Protagonisten im Untergang der Könige zu. Als solche übernehmen sie die Funktion sprachlich vermittelter Lebenszyklusrituale (Rite de Passage), in denen ein realer Autor ein imaginäres Szenario entwirft, in dem fiktionale Erzähler als narrativ gestaltete Initiationsmeister auftreten, die die Initianden Schritt für Schritt durch die einzelnen Phasen des Rituals führen. Für diesen Zweck verwendet die reale Autorin die archaische, universell gültige Struktur der Heldenreise,4 die bereits in den Mythologien die symbolische Funktion besaß, den individuellen Lebenszyklus als einen Prozess sich ändernder Phasen des persönlichen, sozialen oder gesellschaftlichen Status zu markieren. Als archaische Struktur wirken die Regeln der einzelnen Riten - Trennungsphase, Schwellenphase, Wiedereingliederungsphase - wie die Grammatik einer Sprache, die unbewusst jede menschliche Interaktion steuert. Die von der Heldenreise symbolisierten Herausforderungen, Konflikte und Lösungen müssen die Figuren eines Erzähltextes stellvertretend bewältigen, um den Leser*innen auf diese Weise anschauliche Beispiele für die in dieser Phase ihrer Biografie anstehenden Fragen und Probleme anzubieten. Ich halte deshalb Farah Mendlesohns Kategorie Portal Quest Fantasy für zu weit gefasst. Angemessener ist es, sie in zwei eigenständige Kategorien aufzuteilen, da so gut wie jeder Quest-Plot5 intern die rituelle Struktur des Coming of Age aufweist, die der Young Adult Fiction entspricht.6 Portale sind für eine Quest nicht erforderlich, die auch in einer Immersive Fantasy stattfinden kann, und eine Portal Fantasy kommt gut ohne eine Quest aus.

1 Vgl. DGS 1:20. 2 Farah Mendlesohn, Rhetorics of Fantasy, Wesleyan University Press, Middleton, 2008. 3 Beispiele für Portale und ihre Funktion siehe DGS, 1:55 und 706 (Portal als magisches Torsystem ähnlich wie Die Wege in Robert Jordans Rad der Zeit oder wie die Gewirre in Steven Eriksons Spiel der Götter); DGS, 1:399 und 662 (Portal auf Ynisthana und in der Hafenstadt Zehrias); DGS, 1:744 (das Portal nach Shadrag Gor, ein Leuchtturm außerhalb der erzählten Zeit). 4 Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M.1999. 5 Die Erzählkonzepte der Suche (#1 Quest) und der Reifung (#13 Maturation), die diese fiktionalen Erzähltexte der Fantasy strukturieren, hat Ronald B. Tobias, (20 Masterplots (and How to Build Them), Cincinnati, 1993) beschreiben. Diese Plots stimulieren und reflektieren das Bedürfnis von Jugendlichen, ihren Status und ihre Identität in dieser Lebensphase neu zu entwerfen, Aufgaben, die Elternhaus, Schule und Gesellschaft inzwischen nur noch ungenügend leisten, sodass den fiktionalen Erzähltexten der Fantasy eine pädagogosche Funktion zukommt. 6 Die theoretische Basis der rituellen Struktur wurde in der Ethnologie von Arnold van Gennep und Victor Turner eingeführt (Arnold van Gennep, Übergangsriten (Rites de Passage), Frankfurt a.M., 1986; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., 1989).


Die biografische Chronik als Textsorte der Fantasy

Jenn Lyons beansprucht für ihre Pentalogie nicht explizit eine Chronik zu sein, doch bereits der Diskurs des Prologs, in dem sich pseudohistorische Geschehnisse mit der Biografie der Hauptfigur verschränken, ist eindeutig.
Eine Chronik handelt von historischen Ereignissen, die sie aufeinanderfolgend erzählt; eine Geschichts-Prosa, die diese Prozesse in zeitlicher Reihenfolge geordnet darstellt, ohne unbedingt absolut chronologisch zu verfahren. Chroniken reichen von nüchternen Datenlisten mit dürren Kommentaren bis zu ausführlichen Schilderungen für einzelne Jahresereignisse; in literarischen Werken, um individuelle Biografien mit Herkunfts- und Familienhintergrund ergänzt, wie beispielsweise Snorris Heimskringla, die Chronik der norwegischen Könige. Nicht verschwiegen werden darf, dass Chroniken, trotz ihres Anspruchs historisch zu sein, höchst fiktive Texte sind, erst recht dann, wenn Autor*innen handelnden Protagonisten die Ereignisse in den Mund legen. Selbst so bedeutende Texte wie die Germania oder die Annalen des Tacitus, die Anglo Saxon Chronicle oder die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus gehören in die Kategorie fiktionaler Erzähltexte. Obwohl sie sich um reale historische Kerne ranken, repräsentieren sie in vielen Fällen die subjektive Perspektive eines externen Kommentators, des Chronisten, der an den geschilderten Ereignissen nicht unbedingt persönlich teilgenommen hat. In The Kingslayer Chronicle bemerkt ein reisender Chronist, der die Aufgabe übernimmt, Kote-Kvothes Biografie zu schreiben: Aber gerade ihr solltet euch doch im Klaren sein, wie schmal der Grad ist, der die Wahrheit von einer überzeugenden Lüge trennt. Die historische Wahrheit von einer unterhaltenden Geschichte.1
Eine populäre Chronik postmoderner Fantasy-Literatur beginnt mit der Behauptung: Eine Chronik der Sechs Provinzen ist notwendigerweise auch eine Chronik ihres Herrschergeschlechs, der Weitseher,2 und da die Hauptfigur selbst ein Weitseher ist, muss Robin Hobb, die Autorin, wenn sie Fitz Chivalric Weitseher Lebensberichts verfasst, auch von seiner Familie erzählen. Deshalb verwebt der Ich-Erzähler seine Biografie mit der Geschichte der Weitseher-Dynastie und des Königreichs der sechs Provinzen. Der Ich-Erzähler Fitz Chivalric Weitseher schickt seiner Lebensgeschichte einen Kommentar voraus, der seine besondere Herkunft betont. Zu Beginn der Erzählung seines Lebens reflektiert er, wie der Chronist in The Kingslayer Chronicle, die Glaubwürdigkeit eines literarischen Erzähltextes. Rückblickend fragt sich der Ich-Erzähler Fitz Chivalric nämlich, ob nicht jedes historische Ereignis, mit dem ich mich befasse, unfehlbar meine dunklen Erinnerungen von Einsamkeit und Verlust weckt. Ich fürchte, fährt er fort, ich habe keine andere Wahl, als entweder diese Arbeit ganz aufzugeben oder mich den Erinnerungen an all das auszuliefern, das mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Unschlüssig beginne ich wieder und wieder von neuem, nur um jedes Mal festzustellen, dass ich von meinen eigenen, statt den Anfängen dieses Landes berichte.3
Fitz beginnt seinen Lebenslauf in seinem sechsten Jahr, ein kleiner, eltern- und heimatloser Junge von ungewisser Herkunft, der auf einem militärischen Stützpunkt abgegeben wird, umgeben von geheimnisvollen Gerüchten und Vermutungen: Mein Blick in die Vergangenheit reicht bis zu meinem sechsten Lebensjahr zurück. Davor ist nichts, eine absolute Leere, die keine Anstrengung meines Bewusstseins je zu füllen vermochte – als hätte ich erst an jenem Tage in Mondesauge zu existieren begonnen. Doch an dem Zeitpunkt setzt die Erinnerung schlagartig ein, mit einer Schärfe und Deutlichkeit, die mich überwältigt, aber auch Zweifel weckt an ihrer Glaubwürdigkeit.4 Der Anspruch des eingangs zitierten Leitmotivs, eine Geschichte vollständig zu erzählen, zieht sich als roter Faden durch Klaues Version von Kihrins Biografie. Im zweiten Kapitel wirft sie dem Ich-Erzähler Kihrin vor: Es hat keinen Sinn, Teile deiner Geschichte vor mir zu verheimlichen. Und sie verspricht ihm: Ich werde dir jetzt deine Geschichte erzählen, damit du weißt, wie sie abgelaufen ist, und zwar aus der Sicht eines anderen. Genau genommen aus der Sicht vieler anderer. Denn das ist es, was ich bin: viele Augen.5 Und sie hält ihr Versprechen, denn in den folgenden ihrer Version liefert sie die Kapiteln die Informationen, die für die Kohärenz der Biografie Kihrins erforderlich sind.

Ein Erzählkonzept ist nicht einfach zu realisieren, da das Risiko besteht, dass die Plausibilität einer Geschichte leicht zerbricht, die Gefahr besteht, zu früh zu viel mitzuteilen, sodass die Spannung auf das Ende hin abnimmt, und dass Interesse der Leser*innen erlahmt. Die Kompetenz jedes Erzählers liegt in seiner Fähigkeit, seine Rezipient*innen zu der Bereitschaft zu bewegen, eine vorgetäuschte, fingierte Wirklichkeit vorübergehend als wahr zu akzeptieren, sich einer Gegenwärtigkeitsillusion hinzugeben, eine Voraussetzung, die historische Chronik und fantastische Erzählung miteinander teilen.6 Natürlich wissen die Leser*innen sofort Bescheid, wenn sie sich aus dem Bann des Erzählens lösen: die Geschichten sind erfunden. Fiktiv! Gleichgültig wie fantastisch oder unmöglich diese Erzählungen auch sind, auf Unterhaltung und Kunstgenuss wirken sich die Fiktionalität des Erzählten nicht aus. In dieser willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit, im sogenannten Suspense of Disbelief, liegt die Chance jeder Erzählung, sein Publikum zu fesseln, in ihren Diskurs einzubinden. Darin liegt die Kunst des Geschichtenerfindens, die J.R.R. Tolkien in seinem Essay Über Märchen auf fast schon poetische Weise verteidigt.7

1 Patrick Rothfuss, Der Name des Windes, Ebook, Stuttgart, 2010:67. 2 Robin Hobb, Der Weitseher, Bd.1, München, 2000:7. 3 Hobb, Weitseher, 2000:8. 4 Hobb, Weitseher, 2000:9. 5 Vgl. DGS, 1:33. 6 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart, 1968 [1957]. 7 J.R.R. Tolkien, Die Ungeheuer und ihre Kritiker, Gesammelte Aufsätze, Stuttgart, 1987:141-201.


Die Ausgangssituation

Noch bevor die Geschichte beginnt, erfahren die Leser*innen Wesentliches über Geografie und Geschehen aus zwei einleitenden Paratexten. Der erste Paratext bildet eine Landkarte ab, einen Kontinent, die sogenannte Bekannte Welt, eine meerumspülte Insel, die sich rivalisierende Kulturen als Siedlungsraum teilen. Der zweite, interessantere Paratext veröffentlicht anscheinend einen Auszug aus einem Brief. Der Verfasser, ein gewisser Thurvishar D'Lorus, schildert einer namenlosen Majestät die Ereignisse, die dazu führten, dass die Hauptstadt niederbrannte; in Vorwegnahme der vorliegenden fiktionalen Chronik, was die Leser*innen aber erst in den abschließenden Kapiteln erfahren. Der Verfasser bezieht sich auf eine nachträglich niedergeschriebene Unterhaltung zwischen zwei Personen, die die Leser*innen im folgenden Prolog kennenlernen. Der Briefschreiber deutet an, dass er nicht der reale Autor der erwähnten Niederschrift ist, sondern, wie er schreibt: nur spätere Passagen beruhen auf meiner eigenen Rekonstruktion. Das weist ihn zunächst als Co-Autor oder Bearbeiter aus. Den Zweck seines Briefs erläutert er in den letzten beiden Sätzen: einem namenlosen Erblord gegenüber Milde walten zu lassen und diejenigen, die auf eine Anklage wegen Hochverrats und Todesstrafe plädieren, zu beschwichtigen.1

Zwei Buchseiten später beginnt er seinen Bericht mit dem Zwiegespräch zwischen einer Kerkermeisterin und ihrem Gefangenen im ersten Teil der Drachengesänge. Missverstehen Leser*innen den gleich zu Beginn wiedergegeben Auszug aus dem Brief von Thurvishar D'Lorus, selbst Erblord des adeligen Hauses D'Lorus, als eigentlichen Auftakt der Geschichte, fehlen ihnen zwei Informationen: einerseits wissen sie dann nicht, dass der Kihrin des Prologs der Erblord des Briefs und auch der Gefangene ist, der auf sein Urteil wartet, auf den sich Thurvishars Brief bezieht, und dass er in ihm einen Fürsprecher hat. Andererseits verstehen sie auch nicht, was Jenn Lyons mit diesem Brief bezweckt, den sie wie absichtlos als Paratext ihrer Geschichte vorausschickt, ohne dass ihre Leser*innen ahnen, welchen verstecken Zweck Thurvishars Brief verfolgt.
Geschichten der Gattung Fantasy sind fiktionale Erzähltexte, die keine Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen besitzen. Das bedeutet gleichzeitig, dass ein Fantasy-Erzähltext seine Wirkung nur dann entfalten kann, wenn seine Leser*innen die Rede eines fiktiven Erzählers als authentisch anzunehmen bereit sein, obwohl sie wissen, dass sie imaginär ist. Eigentlich eine paradoxe Situation. Doch gerade in dieser Doppeldeutigkeit liegt der Reiz der Lektüre fiktionaler Erzählungen. Um diesen Widerspruch zu überbrücken, bildet ein Paratext wie Thurvishars Brief ein probates Mittel. Die zahlreichen Bezüge fiktionaler Erzählungen der Fantasy nehmen gleichzeitig an einer realen wie an einer imaginären Kommunikation teil, die Real-inauthentisches mit Imaginär-authentischem kombiniert. Thurvishar stellt deshalb in seinem Brief auch klar, dass er die Ereignisse im Kern wahrheitsgetreu darzustellen in der Lage ist; weil er, ganz Chronist, Augenzeugen befragt und recherchiert hat. Damit gibt er vor, dass seine Niederschrift an eine Reportage grenzt. Viel mehr können auch reale Autor*innen und ihre Erzähler*innen für sich nicht in Anspruch nehmen, wollen sie doch erreichen, dass sich die primäre Realität ihrer Leser*innen bei der Lektüre ihrer fiktionalen Erzählungen für andere Wirklichkeiten und Perspektiven öffnet. Fiktionale Erzählungen der Fantasy wie die Drachengesänge bilden eine genuin imaginäre Kommunikationssituation, die einen Sekundärglauben erfordert, wie ihn J.R.R. Tolkien für sein Werk fordert. Die eigentliche Kunst des fiktionalen Erzählers besteht nämlich darin, dass Autor*innen Welten konstruieren, die Tolkiens Grüne Sonne ermöglichen. Nicht in der dürren Sprache wissenschaftlicher Konvention, sondern in metaphorisch-lyrischen Tönen erklärt Tolkien seinen Leser*innen die Implikationen dieser paradoxen Kommunikationssituation: Um eine Sekundärwelt zu schaffen, in der die grüne Sonne glaubhaft ist, nämlich einen Sekundärglauben erzwingt, bedarf es vermutlich einiger Mühe und Überlegung, gewiß aber einer besonderen Fertigkeit, einer Art Elbenkunst. Nur selten wird so Schwieriges überhaupt versucht. Wird es aber versucht und gelingt es auch nur einigermaßen, so erleben wir etwas höchst Seltenes: die Kunst des Erzählens, des Geschichtenerfindens in ihrer ursprünglichsten und mächtigsten Form. Verzauberung erschafft eine Sekundärwelt, in die sowohl Schöpfer als auch Betrachter eintreten können, zur Zufriedenheit ihrer Sinne, solange sie darinnen sind; in ihrer reinsten Form aber ist Verzauberung nach Zweck und Bestreben eine Kunst.2 Gelegentlich treten solche Erzähltexte dann als Bericht oder Chronik eines vermeintlich wirklichen Geschehens auf, beispielsweise durch eine distanzierte, narrative Ich-Instanz, deren Erzählung eine weitestgehende szenische Darstellung fokussiert. Oder sie knüpfen an reale Geografien an, die wie kognitive Trigger wirken, und ihre fingierte Wirklichkeit geschickt maskieren.
»Erzähl mir eine Geschichte.« So lautet der programmatische Auftakt des Prologs in eine viele tausend Seiten lange Erzählung, die mit einer zweiten Aufforderung endet: »Erzähl von Anfang an.« Selten sprechen Autor*innen so unverblümt aus, was von ihnen erwartet wird, und versprechen damit gleichzeitig eine sekundäre Wirklichkeit. Schnörkellos einfach, diese beiden Sätze des Prologs im Untergang der Könige: eine Anforderung von Leser*innen und gleichzeitig deren Bekenntnis zuzuhören.

1 Vgl. den zweiten Paratext, DGS, 1:o.S. 2 Tolkien, Über Märchen, 190.


Erzählte Zeit und erzählte Welt

Zu Beginn der Geschichte ist Khirin, der Hauptfigur, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, je nachdem wer erzählt: In sechs Monaten wurde Kihrin sechzehn.1 Über den Anfang der Geschichte sind die beiden Erzähler*innen unterschiedlicher Auffassung, sofort als sie mit ihrer Erzählung beginnen. Khirin selbst behauptet, alles habe angefangen, als er mit sechzehn Jahren in Kishna-Farriga an die Schwarze Bruderschaft als Sklave verkauft wurde. Klaue gegenüber behauptet er: Wie, du glaubst mir nicht, dass das der Anfang ist. Doch er muss einräumen: Wessen Anfang? Meiner? So gut erinnere ich mich nicht daran.2 Klaue, die Antagonistin, vertritt die Meinung, dass alles schon ein Jahr früher begann: Wenn du mich fragen würdest, ob es einen Zeitpunkt gab, der alles verändert hat, würde ich dir diesen Tag nennen - als du in das Haus Kazivar eingebrochen und aus reiner Neugier geblieben bist.3 Über Kihrins Kindheit erfahren die Leser*innen zuerst kaum etwas, nur soviel, dass sein Adoptivvater Surdyeh ist, ein blinder Musiker, und Ola, seine Mutter, das Bordell zum Zerrissenen Schleier im Unteren Zirkel von Quur betreibt. Von seinem Verkauf in die Sklaverei erzählt Kihrin er habe monatelang unter Deck auf der Ruderbank gekauert4. Zu Beginn der Geschichte lebt er im Unteren Zirkel von Quur, wo er als Dieb arbeitet, wird aber als Erwachsener angesehen, und das seit seinem dreizehnten Lebensjahr. Im Prolog, dessen Handlung nach den Ereignissen des ersten Roman spielt, ist er lediglich der junge Mann, ohne dass ein Alter oder eine Jahreszahl genannt werden.
Es liegen nur sechs bis höchstens zwölf Monate zwischen Khirins Einbruch ins Haus Kazivar und seinem Verkauf auf dem Sklavenmarkt in Kishna-Farriga. Dieser Einbruch mit sechzehn Jahren stellt einen Wendpunkt in Kihrins Leben dar, mit neuen Infomrationen, Motiven und Zielen. Nachdem ihn die Schwarze Bruderschaft freigekauft hat, gelangt er zusammen mit ihnen auf die Insel Ynisthana, wo seine Ausbildung in Magie und Kampfkunst stattfindet und er zum ersten Mal einem Drachen begegnet: In all den Jahren meiner Ausbildung [. . .]5 Nach seiner Flucht von Ynisthana heißt es, weil du dich vier Jahre nicht bei deiner Familie hast blicken lassen.6 Tatsächlich sind seit Kihrins Einbruch in das Haus Kazivar vier Jahre vergangen,7 zwei Jahre auf Ynisthana und zwei weitere Jahre, die die Umsetzung seines Plans in Anspruch nehmen.8 Als Kihrin schließlich als erwachsener Mann nach Quur zurückkehrt, und von seiner leiblichen Familie aufgenommen wird, ist er neunzehn Jahre alt.9
Entgegen den Erfordernissen einer Chronik, die für einzelne Ereignisse das Jahr angibt, existieren keine absolut chronologischen Daten für Kihrins Biografie. Seine Geburt und sein Alter zu Beginn der Erzählung lassen sich nur relativ chronologisch darstellen, sodass die erzählte Zeit ungenau und vage bleibt. Jahreszahlen für die Ereignisse sind keine bekannt, allenfalls das Lebensalter der Hauptfigur in einer bestimmten Phase seines Lebens: der Einbruch mit fünfzehn, der Verkauf in die Sklaverei mit sechzehn, die Zeit seiner Ausbildung und Rückkehr zwischen sechszehn und neunzehn, vielleicht auch zwanzig Jahren. Von dieser Zeit an gibt es keine Angaben seines Alters mehr, wahrscheinlich, nimmt man Kontext der Ereignisse zu Hilfe, vergehen höchstens einige Monate bis zum Ende der Erzählung.

Das Worldbuilding, der diegetische Raum der Welt der Drachengesänge, ist diffus mittelalterlich. Troubadoure begleiten ihren Gesang auf der Harfe und es gibt rivalisierende, reiche und mächtige Adelshäuser. Die politische Organisation besteht aus Oberem Zirkel (Kaiser, Hochadel), Unterem Zirkel (Volk, Schattentänzer) sowie den Bewohnern der Samtstadt (Bordelle und Kneipen). Der Kerker des Prologs ist ein unterirdisches Verließ mit Gitterstäben aus Eisen und kahlen, gemauerten Wänden; ohne Fenster. Die Hafenstadt Kishna-Farriga betreibt einen Sklavemmarkt und ein Amphitheater und bestückt Galeeren mit Rudersklaven. Und auf der Insel Ynisthana zelebriert der Kult der Schattentänzer und die Schlangenmänner im Thaena-Tempel archaische Rituale.
Das Worldbuilding im Untergang der Könige berücksichtig neun verschiedene Aspekte mittelalterlicher Provenienz, die für eine sekundäre Welt in der modernen Fantasy obligatorisch sind:

  • mehrere Gründervölker und ihr Schicksal;
  • die politisch-territoriale Gliederung der Bekannten Welt: Großes Kaiserreich Quur mit den Territorien - Westen: Kiripis, Kazivar, Eamithon, Khorvesch mit der Hauptstadt; Osten: Yor, JorazMarakor; Manol, Doltar und die Freien Städte;
  • diverse Ethnien: Menschen, Vané etc.;
  • historische Überlieferungen;
  • der Wettbewerb des Adels um die absolute Kaiserwürde;
  • die soziale Gliederung Quurs in Unteren und Oberen Zirkel;
  • die wirtschaftliche Macht der Häuser des Hochadels in Quur verbunden mit dem Verbot zu herrschen;
  • der Rat der Ogenra, vom Hochadel delegiert, denn das Verbot zu herrschen nicht betrifft;
  • acht Gottheiten, Magie, magische Artefakte, magische und religiöse Funktionsträger sowie religiöse Überzeugungen.

In der Erzählung existieren zwei verschiedene Betrachtungsweisen der erzählten Welt: eine geografische und eine metaphysische, über die es in gelehrten Kreisen der Erzählung zwei Versionen gibt, eine der Volksfrömmigkeit und eine aufgeklärt wissenschaftliche. Die äußere, physische Welt der Geografie bildet eine illustrierte Landkarte ab, ein einleitender Paratext, der einen meerumspülten Kontinent zeigt, einen Archipel, mit mehreren ethnisch und politisch diversen Territorien sowie einigen vorgelagerten Inseln, der von verschiedenen, rivalisierenden politischen Kulturen bewohnt wird. Über die innere, geistige Welt denkt Kihrin auf der Sklavenauktion in Kishna-Farriga nach, als er sich von der Glücksgöttin Taja verlassen fühlt, die eine der Welten beherrscht: Es existieren drei Welten, die einander überlappen, und jede davon wird von eine der drei Schwestern regiert; die Welt der Lebenden, die Welt der Magie und die Welt der Toten. In einem anderen Zusammenhang erklärt Kalindra Kihrin die Welten und Schleier: »Die Welt ist in drei Seinszustände unterteilt: Leben, Magie und Tod. Und zwei Schleier, die sie voneinander trennen.«10 In einer Anmerkung bezweifelt der Chronist Thurvishar D'Lorus diese volkstümliche Überzeugung, die er für Aberglauben hält - Das ist ... vollkommen falsch - und hält dagegen, es gibt lediglich zwei Welten, und die Magie ist kein »Reich«, sondern ein metaphysischer Fluss, der die beiden parallel verlaufenden Ufer voneinander trennt.11
Trotz Thurvishars Einwand existiert in der Erzählung eine magisch fundierte Sicht der Welt, die zwei Schleier (Quasi-Portale) postuliert, durch die hindurch ein Blick hinter die alltäglichen Phänomene möglich ist, auf die wahre Essenz der Gegenstände, auf Tenyé, die Grundlage jeder Magie. Hinter den Ersten Schleier können Menschen wie Kihrin sehen, die besonders begabt sind: Alle drei Monde waren aufgegangen und strahlten mit der violett-rot-grünem Aurora von Tyas Schleier um die Wette: Es war eine Nacht für Zauberer, in der man Magie wirken oder sie umgehen konnte. Denn wenn Tyas Schleier am Himmel erscheint, ist es leichter hinter den Ersten Schleier und in ihr Reich zu sehen. Thurvishar kann sich einer spöttischen Anmerkung nicht enthalten: Oh, wie sehr ich den Mangel an Bildung in der Welt bedaure. Dies ist alles Aberglaube. Hinter den Zweiten Schleier können allein die Götter sehen. [...] Manche halten den Zweiten Schleier nicht für eine transparente Hülle, sondern für einen unergründlichen Zugang zu Thaenas Reich. Das letzte Portal, durch das keiner hereinkommt und alle nur herausgehen, um zumeist als greinender Säugling in die Welt zurückzukommen und noch einmal ganz von vorne anzufangen.12 Kihrin geht aber davon aus, dass uns allen dieser Blick vergönnt sein wird, sobald wir die letzte Reise in das antreten, was dahinter liegt, in Thaenas Totenreich.13
In Widerspruch zu Thurvishars Ironie stellt Qhadri Silorma in seiner Untersuchung Der Archetyp des sterbenden Gottes die Theorie auf: Die Unterwelt- und Todesgöttin Thaena sei nur eine Komponente des ewigen Kreislaufs spiritueller Wiedergeburten, die sämtliche Daseinsformen bestimmt. Die drei Göttinnen Taja, Tya und Thaena herrschen je über einen der drei Teilbereiche der Realität, die den physischen, magischen und jenseits-metaphysischen Zuständen entsprechen.14

1 Vgl. DGS, 1:84. 2 Vgl. DGS, 1:23. 3 Vgl. DGS, 1:35. 4 Vgl. DGS 1, 571, 650; Kap.67. 5 Vgl. DGS 1:664. 6 Vgl. DGS 1:665 s.a. DGS 1:682. 7 Vgl. DGS 1:639. 8 Vgl. DGS, 1:111. 9 Vgl. DGS 1:696. 10 Vgl. DGS, 1:281-282. 11 Vgl. DGS, 1:29. 12 Vgl. DGS, 1:37 und 55. 13 Vgl. DGS, 1:29 sowie Funktion Erster Schleier, DGS, 1:38-39. 14 Vgl. DGS, 1:86 sowie Anm.1.


Die zentralen Figuren der Erzählung

Den größten Teil des ersten Bandes der Drachengesänge bestreiten zwei Figuren: der Dieb Kihrin und das Ungeheuer Klaue, die sich abwechselnd erzählen, was der Chronist Thurvishar D'Lorus als Wechselrede wiedergibt. Alternierend ergreift einmal Khirin das Wort, dann wieder Klaue, wobei die Gestaltwechslerin Khirins Erzählung ergänzt oder kommentiert. Die Erzähler des Untergangs der Könige sind selbst Figuren der erzählten Welt. Einen allwissenden, olympischen Erzähler, der auktorial aus dem Off erzählt, gibt es nicht. Ein solcher Erzähler entspricht auch nicht mehr der modernen Diktion der Fantasy, die mittlerweile in den meisten Fällen Reflektorfiguren als charakteristischen Erzählertypus bevorzugt.
Die geheimnisvolle Herkunft das Helden Khirin wiederholt ein verbreitetes Motiv in Mythologie, Märchen und Sage, dass auch Autor*innen der Fantasy-Literatur gerne bemühen wie stellvertretend das zitierte Beispiel des Fitz Chivalric Weitsehers zeigt. Kihrin wächst bei Adoptiveltern im Bordell Zerrissener Schleier im Unteren Zirkel von Quur auf, wo er schon in jungen Jahren als Dieb seinen Unterhalt bestreitet. Zu Beginn der Erzählung hält er Surdyeh, einen blinden Musiker und Zauberer, der hinter den Ersten Schleier blicken kann, für seinen leiblichen Vater und Ola, ehemalige Sklavin im Haus D'Mon und Inhaberin des Zerrissenen Schleiers, für seine Mutter. Ola beschreibt ihren Adoptivsohn als stur: Wenn er einmal ein Problem angepackt hat, dann gibt er nicht auf, und beschäftigt sich so lange damit, bis er es gelöst hat. Da ist er wie der Wind, der Stück für Stück einen Berg abträgt.1
Wie für das narrative Motiv des Findelkinds erforderlich, liegt Kihrins Herkunft anfangs weitgehend im Dunklen und nur einige vage Hinweise in Klaues Erzählung wecken die Vermutung, dass es mit dem in ärmlichen Verhältnissen im Unteren Zirkel von Quur groß gewordenen Dieb mehr auf sich hat, als auf den ersten Blick ersichtlich. Dafür spricht auch die erbitterte Konkurrenz der Schwarzen Bruderschaft mit Relos Var um Kihrins Erwerb auf der Auktion auf dem Sklavenmarkt.2
Ola, Kihrins Adoptivmutter, erzählt die Geschichte seiner Herkunft. Ihre Version erzählt Klaue, die für ihre Auseinandersetzung mit Ola in die Rolle der homodiegetischen Erzählerin schlüpft, sodass diese Episode wie eine Binnenerzählung wirkt (s.u.).3 Die ersten konkreten Hinweise über Khirins Geburt erhalten die Leser*innen durch Moreas Vermutungen, die aus dessen physischer Erscheinung, seiner Größe, den strahlend blauen Augen und goldblonden Haaren schließt, er sei, wie Fitz Chivalric, ein Ogenra, ein Bastard,4 ein quurischer Prinz.5 Therin D'Mon sei sein Vater und die Sklavin Miya(threall) seine Mutter,6 die von Khaemezra mit den Schellenstein gegaescht wurde, den Kihrin um den Hals trägt, und so dem Kundigen seine Abstammung verrät. Vorerst gibt Darzin D'Mon noch vor, Kihrin sei sein Sohn und die Sklavin Lyrilyn (alias Klaue) seine Mutter.7
Erst nach Klaues Angriff auf den Zerrissenen Schleier,8 bei dem Kihrin schwer verwundet wird, kommt er in den Palast zu seiner wahren Familie, ins Haus D'Mon, dass seine Legitimität unmittelbar bestätigt: [. . .] junger Lord [. . .] aber er war nicht dein Vater [Surdyeh]. Dein richtiger Vater ist hier [. . .] er hat dich belogen. Du bist gestohlen worden, Kihrin.9 Außerdem gibt es eine Prophezeiung,10 die die Priesterin Kalindra auf Ynisthana anspricht, ein weiteres Beispiel für Cearowans Devoranische Paranoia? [. . .] Weil irgendein verwirrter Einsiedler mal behauptet hat, ich würde die Welt retten oder so was.11 Doch Kihrin selbst, so Klaues Erzählung, bezweifelt lange ein Ogenra (Adeliger) zu sein und wehrt sich gegen diese Zuweisungen, die andere an ihn herantragen: Das war einfach nicht möglich. Schon allein, weil er nicht wie ein Quurer aussah und folglich auch nicht wie ein quurischer Adeliger. Außerdem wäre andernfalls bestimmt irgendwann einmal ein Freund oder Feind seiner "adeligen" Familie aufgetaucht, um nach ihm zu suchen.12 Lange wird er nur indirekt profiliert, durch sein Verhalten und seinen Besitz. Doch schon vor seiner Verhaftung besaß Khirin Waffen, Dietriche, einen Intaglio-Ring sowie Talismane und eine wertvolle Halskette, die eindeutig seine Abstammung bezeugen, würden die Erzähler nur nicht so viele Details verschweigen.
Kihrin scheint ein alter kirpischer Name zu sein, ein Name, der indirekt auf eine adelige Abstammung verweist.13 Der Chronist Thurvishar hält es für äußerst unwahrscheinlich, dass er wirklich Kihrin hieß, und argumentiert, dass er nicht der ist, für den ihn andere Figuren und die Leser*innen zuerst halten.14 Thurvishar bezeichnet ihn als Erblord und auch Klaue weiß von Anfang an, dass er ein solcher ist, denn sie kennt seinen Bruder, bewahrt dieses Wissen aber wie ein gefährliches Geheimnis. Sie nennt ihn stattdessen Krähe, mit seinem Nom de Guerre als Dieb, weil der Name ihn anspornte und zu seinem Beruf passte. Sie nennt ihn auch Blauauge, seiner auffälligen blauen Augen wegen, die ebenfalls seine adelige Herkunft bezeugen. Die schwarze Bruderschaft, und selbst Relos Var, der große Antagonist der Drachengesänge, der Khirin auf dem Sklavenmarkt vergeblich zu kaufen versucht, kennen seine wahre Herkunft. Sie alle wussten wer ich wirklich war und dass ich den Schellenstein um meinen Hals trug, der ihn identifiziert, ohne dass ihm dies lange Zeit bewusst war,15 denn der Prolog stellt ihn den Leser*innen nur als den Gefangenen vor, als jemanden, der auf seine Hinrichtung wartet, der angespannt und nervös in seiner Zelle auf und ab läuft, und auf Flucht sinnt. Während er seine Zelle nach einem Fluchttunnel überprüft, träumt [er] vom Fliegen, von Freiheit und einer Welt, in der niemand ihn in Ketten legen kann.16 Trotzig weigert er sich seine Biografie zu erzählen, solange, bis Klaue seine Eltern bedroht und er schließlich nachgibt. Zuletzt siegt auch die Neugier des Gefangenen auf die Auflösung der mysteriösen Informationen, die seine Wärterin in ihren Diskurs streut, eine Eigenschaft, die Klaue für seine einzige Schwäche hält, und die ihm schließlich zum Verhängnis werden sollte.17
Wie jeder Held einer Quest Fantasy ist Kihrin eine psychisch ambivalente Persönlichkeit auf der Suche nach seiner wahren Herkunft und seiner Identität. In ihm verkörpert sich die helle und die dunkle Seite des Konflikts, der die sozialen Gruppen des Romans in Konkurrenz bringt, und dem der Erzählung ihre Dynamik verdankt. Kihrins Begegnung mit dem Dämon Xaltorath verstärkt seine dunkle Seite: Eine dunkle Seite, wir wahr;18 eine helle Seite ist in Form moralischer Bedenken zwar angelegt, aber noch nicht entwickelt. Während seiner Ausbildung durch die Dunkle Bruderschaft auf Ynisthana ist Kihrin ein Schwellenwesen, und sitzt doppelt in der Falle, zwischen einem Drachen, der ihn an der Flucht hindert, und seinem Gaesch,19 das ihn für den Einfluss der Dämonen zugänglich macht.20 Seine ganze Persönlichkeit ist zwischen diesen beiden Polen organisiert: Er ist ein liminales Schwellenwesen, between and betwixt, um einen Begriff von Victor Turner zu verwenden, wie es sich für Held*innen einer Quest Fantasy geziemt. Er lebt Da-Zwischen. Ethnisch-kulturell ist er halb Mensch halb Vané, sozial ein Dieb und quurischer Prinz, narrativ (Märchenfigur) ein elternloses Findelkind, für das ein außergewöhnliches Schicksal vorgesehen ist. Es braucht den ganzen Roman, bis es Kihrin gelingt, sich in seine Rolle zu finden, die er dann im zweiten Roman der Serie, Der Name aller Dinge ausfüllen kann.

Die lange mysteriös gehaltene Herkunft Khirins sowie das Interesse diverser, antagonistischer Kräfte an ihm, dass die zentralen Konflikte der Erzählung bewirkt, spiegelt ein zentrales Merkmal der epischen High Fantasy: Er ist von der Göttin Taja, Herrscherin über die Welt der Menschen und Göttin des Glücks, zum Retter einer untergehenden Welt berufen.21 Khirin ist nämlich ein Schlüssel,22 jemand, der die Fähigkeit besitzt, hinter den Ersten Schleier zu blicken. Seit frühester Kindheit erkennt er seine Gabe, die für einen Dieb, aber auch für einen Weltenretter, von erheblichem Vorteil ist. Er ist nämlich dazu fähig, die verschwommenen Auren, die Tenyé-Signaturen der Gegenstände zu sehen, die ich mit meinem zweiten Gesicht23 wahrnehmen kann und anfangs nur für seine Raubzüge nutzt. Krähe war ein Schlüssel, wird sich schließlich sein Hehler Butterbauch bewusst. Und wie Maus, Krähes verstorbene Lehrerin, ihm einmal erklärt hatte, lassen sich alle Stoffe der Welt anhand ihrer Auren voneinander unterscheiden. Dank seines besonderen Wahrnehmungsvermögens kann ein Schüssel erkennen, ob eine Münze aus bemaltem Blei oder echtem Gold besteht.24 Und diese Fähigkeit erstreckt sich auf alle Phänomene. Im Unteren Zirkel von Quur zeichnet ihn diese Fähigkeit als eine besondere Persönlichkeit aus, macht ihn für die Hehler zu einem lukrativen Kontakt, und lenkt Neid und Missgunst seiner Konkurrenz auf ihn. Für Khirin ein erfolgreiches, aber auch gefährliches Leben. Überdies ist Khirin ein Hexer, ein illegaler Magier, ein nicht ausgebildeter Magiekenner, der ohne offizielle Genehmigung der hohen Adelshäuser agiert, der nie eine Lizenz erhielt. Er ist kein Mitglied der Spaßmachergilde des Haus D'Jorax, dem er eine jährliche Gebühr für die Mitgliedschaft in der Gilde schuldet, [für] das Recht auf magische Manipulationen.25

Die Gestaltwandlerin Klaue, ihr richtiger Name lautet wohl Talon, Khirins Gefängniswärterin und Gesprächspartnerin, ist eine komplexe Figur, die ihre Rolle situationsbedingt virtuos wechselt, und es den Leser*innen schwer macht, ihre Motive und Interessen einzuschätzen. Sie ist eine Seelenfresserin, die sich hinter der Fassade einer schönen jungen Frau um die zwanzig verbirgt. Doch in Wirklichkeit ist sie Tausende von Jahren alt [und hat sich] die Erinnerungen ebenso vieler Opfer einverleibt,26 behauptet jedenfalls Kihrin. Sie gibt sich gerne amüsiert und gelangweilt, ist charmant und flirtet gerne und schläft nie. Früher war Klaue ein Mensch (Lyrilyn), die durch eine spezielle magische Technik zu einer Mimikerin. Die Mimiker sind ein geheimnisvolles Volk von Gestaltwandlern, Dämonen, mit Hunger auf Gehirne27 An einer Stelle spricht sie von sieben Gehirnen, die [sie ihrer] Sammlung hinzufügen will.28 Doch hinter Klaues harmloser Maske lauert ein erbarmungsloser und grausamer Dämon, der Gedanken liest, tief in die Psyche ihrer Opfer eindringt, um deren Befindlichkeit auszuspähen und sich an deren Erinnerungen für die eigenen Interessen zu bedienen. Als Gestaltwandlerin kann sie sich in die schlimmsten Schreckensgestalten verwandeln, ihre Opfer täuschen, verwirren und heimtückisch ermorden. Diejenigen, die sie tötet, nimmt sie als Objektrepräsentationen in sich auf, kann deren Gestalt, obwohl sie bereits tot sind, realistisch vortäuschen, und deren soziale Rolle sie für andere inszenieren. Allerdings kann Klaue kann nicht überall sein - und nicht alle gleichzeitig imitieren.29 Im Prolog macht sie Kihrin allen Ernstes das Angebot, ihn zu töten, ihn vor seiner Hinrichtung zu bewahren. Dann würde, erklärt sie ihm, deine Persönlichkeit für immer in mir bewahrt bleiben.30 Woraufhin Kihrin ihr ironisch zu verstehen gibt: Und da du meine Gedanken sowieso lesen kannst, muss ich dir gar nicht erzählen, was passiert ist. Bediene dich einfach bei meinen Erinnerungen.31 Dass sie Kihrin in diesen Kerker bewachte, war in etwa so, als hätte man einem Hai die Aufsicht über ein Aquarium gegeben.32

Die dritte Hauptfigur ist der oben Chronist genannte Thurvishar D'Lorus, ein fiktionaler Autor.33 Erst im Finale des Untergangs der Könige betritt er als eigenständig handelnde Figur die Bühne der erzählten Welt: Hast du seine Kleider gesehen. Nur Zauberer laufen so rum [...] Wenn du klug bist, hältst du dich von ihm fern. Es gibt Männer, die geben sich gern gefährlich, aber auch solche, die gefährlich sind, und sich einen Dreck darum kümmern, was andere von ihnen denken. Er gehört zur zweiten Kategorie.34 Je mehr die Erzählung fortschreitet, desto mehr verliert er seine Rolle als Chronist. Thurvishar ist eine äußerst ambivalente Figur, die bis kurz vor Schluss der Erzählung wie ein auktoriales Alter Ego der Autorin auftritt, begleitet das Geschehen kommentierend. Er versteht sich selbst bei alledem bestenfalls [als] eine Randfigur.35 Erst sehr spät in der Erzählung wandelt er sich vom fiktionalen Chronisten zur Figur der erzählten Welt.

1 Vgl. DGS, 1:176. 2 Vgl. DGS, 1:170-174. Ola, Kihrins Adoptivmutter, erzählt die Geschichte seiner Herkunft. Ihre Version erzählt Klaue, die für ihre Auseinandersetzung mit Ola in die Rolle der homodiegetischen Erzählerin schlüpft, sodass diese Episode wie eine Binnenerzählung wirkt (s.a. DGS, 1:260). Die ersten konkreten Hinweise über Khirins Geburt erhalten die Leser*innen durch Moreas Vermutungen, die aus dessen physischer Erscheinung, seiner Größe, den strahlend blauen Augen und goldblonden Haaren schließt, er sei, wie Fitz Chivalric, ein Ogenra, ein Bastard (DGS, 1:94-100), ein quurischer Prinz (DGS, 1:106-107), Therin D'Mon sein Vater und die Sklavin Miya(threall) seine Mutter (DGS, 1:104), die von Khaemezra mit den Schellenstein gegaescht wurde, den Kihrin um den Hals trägt, und den Kundigen seine Abstammung verrät. Vorerst gibt Darzin D'Mon noch vor, Kihrin sei sein Sohn und die Sklavin Lyrilyn (alias Klaue) seine Mutter (DGS, 1:308; s.a. DGS, 1:332-333: Miyas Vesion von Kihrins Herkunft). 3 DGS, 1:260. 4 Vgl. DGS, 1:94-100. 5 Vgl. DGS, 1:106-107. 6 Vgl. DGS, 1:104. 7 Vgl. DGS, 1:308; s.a. DGS, 1:332-333: Miyas Vesion von Kihrins Herkunft. 8 Vgl. DGS, Kap.26. 9 Vgl. DGS, 1:291. 10 Vgl. DGS, 1:110. 11 Vgl. DGS, 1:284; 844. 12 Vgl. DGS, 1:116-117. 13 Vgl. DGS, 1:175. 14 Vgl. DGS, 1:33; s.a. Anm. Seite 259. 15 Vgl. DGS, 1:50. 16 Vgl. DGS, 1:34. 17 Vgl. DGS, 1:34. 18 Vgl. DGS, 1:504. 19 Das Gaesch ist eine Art geheimnisvoller Energie, eine mystische Kraft, die in direktem Zusammenhang mit der Psyche der Protagonist*innen steht, und die es bestimmten Figuren erlaubt, außergewöhnliche Fähigkeiten auszuüben, die in der primären Realität der Leser*innen kein Äquivalent besitzen. Khirin beispielsweise hat eine besondere Beziehung zum Gaesch, da er mit einer besonderen Verbindung zu dieser Energie geboren wurde. Die Fähigkeit, das Gaesch zu manipulieren, hängt nicht nur von der Stärke und Reinheit der psychischen Energien einer Figur ab, sondern auch von der Macht und dem Wissen über das Gaesch. In der erzählten Welt der Drachengesänge kann eine Figur gegaescht werden, wenn eine andere Person das Gaesch manipulieren kann, um Kontrolle über ihn oder sie zu erlangen. Die Auswirkungen des Gegaeschtwerdens variieren, können aber im Allgemeinen als eine Art mentaler beziehungsweise psychischer Einfluss auf den betroffenen Charakter beschrieben werden. Wurde eine Figur gegaescht, kann der Manipulator ihm Befehle erteilen oder ihn dazu zwingen, bestimmte Aktionen auszuführen, indem er seine Kontrolle über das Gaesch ausnutzt. Die Wirkung des Gegaeschtwerdens hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab, wie der Stärke des Gaesch-Manipulators, der Widerstandsfähigkeit des betroffenen Charakters und der Art der Befehle, die ihm erteilt werden. Der betroffene Charakter kann sich jedoch auch gegen den manipulativen Einfluss wehren oder ihn auf andere Weise unwirksam machen. In einigen Fällen kann das Gegaeschtwerden auch physische Auswirkungen auf den betroffenen Charakter haben, wie Kopfschmerzen, Verwirrung oder Desorientierung. Insgesamt ist das Gegaeschtwerden eine gefährliche und beängstigende, magische Technik. 20 Vgl. DGS, 1:509. 21 Vgl. DGS 1, Kap.19. 22 Vgl.DGS, 34-35; 62. 23 Vgl. DGS, 1:73. 24 Vgl. DGS, 1:62. 25 Vgl. DGS, 1:188; 197-200 sowie 323-324. 26 Vgl. DGS, 1:23. 27 Vgl. DGS, 1:271-172; 273: Anm. S.258. 28 Vgl. DGS, 1:259; 270-271. 29 Vgl. DGS, 1:42. 30 Vgl. DGS, 1:20. 31 Vgl. DGS, 1:20-21. 32 Vgl. DGS, 1:19. 33 Als textexterner Autor erweist sich Thurvishar immer wieder als jemand, der weitaus mehr weiß, als die Figur - [z.B.] dass es ein Schwert gibt, dass einen Drachen töten kann (DGS, 1 Anm. 505). Er ist der Herausgeber des ersten Teils des Untergangs der Könige und als solcher nur in Form von Anmerkungen und Kommentaren präsent. Thurvishars Chronik ist die Transkription der Aufzeichnungen des magischen Erzählsteins der zwischen Kihrin und Klaue routiert (Vgl. DGS, 1:411; s.a. Anm. 1:411). Für Thurvishars wahre Herkunft s. DGS, 1:701ff. 34 Vgl. DGS, 1:79. 35 Vgl. DGS, 1:533-534. Thurvishar D'Lorus erster Auftritt als Erblord D'Lorus findet erst in Kap. 64 statt. Dort trifft er in Persona auf Kihrin; als Zauberer und Verschwörer (vgl.a. Kap. 60)


Erzählperspektive und Erzählinstanz

Die Kunst fiktionalen Erzählens liegt in der Bewältigung der Schwierigkeit, etwas über das Innenleben der Figuren mitzuteilen. Die einfachste Lösung für dieses Problem bietet die Ich-Erzählung. Was seine Introspektionsfähigkeit betrifft, ist ein Ich-Erzähler der authentischste, denn er muss für seine Erzählung in keine anderen Köpfe schauen. Und was in seinem eigenen vorgeht, der das Material für seine biografische Chronik enthält, glaubt Khirin selbst am besten zu wissen. Die Idee von Jenn Lyons, zwei unterschiedliche Erzählinstanzen, zwei ethnisch ungleiche Erzähler zu etablieren, eine Ich-Erzählung mit einer Er-Erzählung zu kombinieren, ist erzähltextanaytisch so raffiniert wie faszinierend: Der Dieb Khirin, ein Ich-Erzähler, erzählt der Mimikerin Klaue, einer Er-Erzählerin, ausgewählte Episoden aus seinem Leben, die Klaue ergänzt und kommentiert, und so Khirins Schilderungen gleichzeitig kontrolliert.
Der Roman Der Untergang der Könige besteht aus einen kurzen Prolog, der die Ausgangslage schildert, und zwei retrospektiven Handlungssträngen, die sich vor der Gefängnisszene des Prologs ereignet haben. Von einem zum nächsten Kapitel wechseln sich die Erzähler*innen (point of view) mit ihren unterschiedlichen Perspektiven ab (Interlacement). Und Thurvishar, der fiktionale Chronist, transkribiert und dokumentiert das Zwiegespräch zwischen Kihrin und Klaue aus den Informationen, die im Erzählstein gespeichert sind:

  • Prolog: Dialog eines Gefangenen (Khirin) mit seiner Wächterin (Klaue);
  • Handlungsstang 1: ein Ich-Erzähler (Kihrin) berichtet von seinem Erlebnissen nach seiner Sklaverei bis zu seiner Inhaftierung (s. Prolog);
  • Handlungstrang 2: eine Er-Erzählerin (Klaue) berichtet von Kihrins Herkunft, seiner Jugend und seiner Integration in das Haus D'Mon.

Aufgrund der Nötigung der Er-Erzählerin erinnert sich das erzählende Ich im Kerker und erzählt homodiegetisch aus der Perspektive des erlebenden Ich. Die Kerkerszene mit erzählendem Ich und aufforderndem Wächter, den beiden zukünftigen Erzählinstanzen, fungiert unterschwellig als Rahmenhandlung. Vom ersten Kapitel an teilen sich die beiden Erzählinstanzen den Fortgang der Erzählung. Kihrins Erzählperspektive eröffnet die Binnenhandlung mit seinem sechzehnten Lebensjahr als Sklave, den ein Auktionator auf dem Sklavenmarkt der Hafenstadt Kishna-Farriga zum Verkauf anbietet, während Klaues Erzählperspektive ein Jahr früher einsetzt und nicht nur Khirins Herkunft und seine Zeit als Dieb nachreicht, sondern eine Vielzahl von Ereignissen aus seiner Jugend, seiner Initiation sowie den Ereignissen, die schließlich dazu führen, dass er inhaftiert wird. Dieser Teil des Romans, der immerhin 747 von 842 Seiten dauert, enthält den Bericht eines gewissen Thurvishar, den er in seinem Brief zu Beginn des Romans ankündigt. Als Interlacement angelegt erzählen der Dieb (Ich) und die Mimikerin (Er) abwechselnd aus ihrer unterschiedlichen subjektiven Perspektive. Gelegentlich unterbrechen Khirins Einwände oder Thurvishars Anmerkungen den Erzählfluss. Die Bühne des zweiten Teils des Romans, die letzten 95 Seiten, gehören dem Ich-Erzähler (Kihrin), auch wenn Thurvishar die eine oder andere Anmerkung nicht zurückhalten kann. Den Abschluss des Romans bilden 20 Seiten enzyklopädische Paratexte, vier Anhänge, die es den Leser*innen ermöglichen, sich besser in dem erzähltechnisch doch komplexen Roman zurechtzufinden.1
Interessant ist auch die Begründung der Konstruktion der Erzählsituation durch die Mimikerin Klaue. Nachdem Kihrin nur zögerlich zugestimmt hat, aus seinem Leben zu erzählen, holt Klaue einen magischen Stein hervor. Dieser Stein? Ich gebe zu, das Tenyé-Muster ist verändert. Irgendwer hat sich daran zu schaffen gemacht.2 Dieses magische Artefakt bestimmt, wer von den beiden Erzählern das Wort hat: »So sind die Regeln.«, erklärt sie ihm. Dieser Stein hört zu und zeichnet auch die Worte desjenigen auf, der ihn hält.3 Auf diese Weise ermöglicht er Thurvishar auch Khirins Biografie rückblickend aufzuschreiben. Der magische Erzählstein funktioniert wie ein Aufnahmegerät, dass Informationen speichert, die jeder nach Belieben später abrufen kann. Deshalb kann Khirins Lebensbericht auch als Beleg gegen ihn verwendet werden, denn Klaues Interesse an Khirin ist ein Verhör (Befragung), das alle möglichen Indizien und Beweise sammelt: Die beiden Erzähler*innen repräsentieren die beiden Handlungsstränge, die sich räumlich und zeitlich unterscheiden. Sie ereignen sich nicht nur nicht in der gleichen Zeit, sondern auch an unterschiedlichen, auseinanderliegenden Orten: In seiner Erzählung ist Kihrin fünfzehn Jahre alt und lebt in Quur (Ich), in Klaues Erzählung ist er sechzehn Jahre alt und bereits in Kishna-Farriga (Er).4

Der Ich-Erzähler Kihrin ist ein personaler Erzähler, der seinen Lebensbericht im Präteritum liefert. Er ist Erlebender des Geschehens, der sein Leben aus eigener Betroffenheit schildert. Kihrin ist eine echte Figur der erzählten Welt, eine Reflektorfigur, der die Leser*innen über die Schulter schauen können, um so die erzählte Welt mit seinen Augen zu sehen. Er repräsentiert den offenen Erzähler (ouvert narrator), der in interner Fokalisierung homodiegetisch erzählt. Als Erzähler sagt er nicht mehr, als die Figur wahrnimmt und weiß. Als Ich-Erzähler ist er sich seiner narrativen Gegenwart auch in der Retrospektive des sich erinnernden Ichs bewusst, das er niemand anders ist, als er selbst. Khirin ist immer der gleiche, die Synthese von erzählen und erleben. Deshalb muss er die Bühne der erzählten Welt nie verlassen und nie die Rolle wechseln. Ganz anders Klaue. Sie ist ein anderer Typus des Erzählers, der keine narrative Ich-Spaltung benötigt. Ihr Erzählstil bedient sich des in der klassischen Fantasy gebräuchlichen epischen Präteritum der dritten Person Singular. Klaue ist nicht nur in der Erzählung eine Gestaltwandlerin, sie ist es auch im narrativen Sinne. Obwohl sie eigentlich eine Figur in der erzählten Welt ist, wird sie in den Kapiteln, die sie erzählt, als Figur erst sehr spät sichtbar. Sie repräsentiert den versteckten Erzähler (couvert narrator), der heterodiegetisch erzählt. Klaue gibt Khirins Erlebnisse so wieder, als sei er es selbst, der vergangene Episoden seines Lebens schildert. Klaue weiß aber nicht nur, was Khirin erlebt hat, und was er selbst auch wissen müsste, sie weiß viel mehr als er, und würzt mit diesem Metawissen kommentierend nicht nur ihren eigenen, sondern auch Khirins Bericht. Klaues Aussagen sind hinsichtlich ihrer Wahrnehmungs- und Wissenmöglichkeiten nicht eingeschränkt, da ihre epistemologische Position nicht unverrückbar an eine Figur innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt gebunden ist. Sie weiß mehr beziehungsweise sagt mehr als irgendeine der Figuren, und selbst alle zusammen, wissen und wahrnehmen können (Nullfokalisierung). Oberfächlich betrachtet, oszilliert Klaues Erzählposition zwischen auktorial und heterodiegetisch. Sie erlebt das Geschehen nicht wie Khirin, sondern sie ist Beobachterin des Geschehens. Klaue (heterodiegetisch) belehrt Khirin (homodiegetisch) darüber, dass sie über ihn erzählen muss, da er nicht weiß, was alles erzählt werden muss (Nullfokalisierung): Ich werde dir jetzt deine Geschichte erzählen, damit du weißt, wie sie abgelaufen ist, und zwar aus der Sicht eines anderen. Genau genommen aus der Sicht vieler anderer. Denn das ist es, was ich bin: viele Augen.5 Denn die narrative Ambivalenz, die Thurvishar D'Lorus charakterisiert, trifft auch auf Klaue zu. Solange Klaue noch keine Figur der erzählten Welt geworden ist, kennzeichnen viele Beispiele sie als eine heterodiegetische Erzählerin hinter Ereignissen, an denen sie selbst nicht teilnimmt. Nachdem beispielsweise Xalthorth, der König der Dämonen, Khirin im Unteren Zirkel angegriffen hat, erzählt Klaue von diesem Ereignis auf eine Weise, von der Khirin nichts wissen kann, da er nach dem Angriff bewusstlos war: Der Dämon lachte - ein Geräusch, dass noch Monate später durch Kihrins Albträume hallen würde.6 Klaue erzählt, was Kihrin, der bewusstlos ist, nicht wahrnimmt: Er konnte nicht sagen, wie lange er dort hing, während der Dämon seinen Verstand mit Schrecken füllte, einer scheinbar endlosen Orgie aus Schmutz und Perversionen. Eine traumatische Situation, in der Khirin in Ohnmacht fällt, die klare Erinnerungen an das folgende Geschehen fraglich macht: Den Rest des Kampfes verpasste Kihrin, da Xaltorath ihn wie ein kaputtes Spielzeug von sich schleuderte und er mit dem Kopf voran gegen eine weißgetünchte Ladenfassade krachte. Danach nahm er alles nur noch verschwommen wahr.7
Thurvishar D'Lorus, zuerst Chronist und erst später Figur der erzählten Welt, erzählt und kommentiert lange Zeit nur mit sachlich neutralen Anmerkungen. Mehr noch als Klaue ist er ein heterodiegetischer Couvert Narrator, der seine Paratexte parallel zum Erzähltext arrangiert. Sie versorgen die Leser*innen mit wichtigen Informationen über das Geschehen, sie kommentieren oder bewerten, und verleihen der Erzählung den Anstrich einer wissenschaftlich verlässlichen Chronik, die das mangelnde Wissen oder die unzureichende Introspektion der Erzähler*innen ausgleichen sollen. In seinem Brief schreibt er selbst: Ergänzend ist der Bericht mit meinen Anmerkungen und Schlussfolgerungen versehen.8 Dabei ist der Ton seiner Anmerkungen oft sarkastisch und überheblich, und er spart auch nicht mit überflüssigen oder spöttischen Bemerkungen.

Ein besonderes, in der Fantasy nicht unbedingt übliches narratives Mittel sind die zahlreichen Anmerkungen in den Fußnoten sowie die kursiv hervorgehobenen Passagen im Erzähltext. Diese apersonalen Erzählinstanzen enthalten besonders akzentuierte Äußerungen, entweder innere Monologe oder Gedankenberichte beziehungsweise Bemerkungen, die sich auf eine Geschichte hinter der Geschichte beziehen.
Die fiktionalen Fußnoten in Der Untergang der Könige, die dem Werk, über dem impliziten Anspruch eine Chronik zu sein, zusätzlich den Anschein von Wissenschaftlichkeit verleihen sollen, sind das Metier von Thurvishar D'Lorus. In erster Hinsicht erwecken sie den Anschein von Historizität und geben der fiktionalen Erzählung den Status einer faktual-historischen Chronik, ein Anspruch, den Thurvishar bereits in seinem einführenden Brief ankündigt. Den Anspruch faktuale Chronik zu sein, steigern außerdem Zitate aus fiktionaler, wissenschaftlicher Literatur. Thurvishar zitiert aus der Abhandlung des Gelehrten Qhadri Silorma, Der Archetyp des sterbenden Gottes, sowie Killus Vornigel, Die kalte Invasion oder Der niedere Schlüssel von Grizzst über Dämonen.9
Thurvishar repräsentiert die andere Seite der Erzählungen von Khirin und Klaue, die er in Form autonomer Gedankenzitate [kursiv] und Fußnoten [*] wiedergibt, das, was nicht explizit gesagt wird, sondern sich aus dem Kontext erschließt,10 vergleichbar der Asterisk-Realität der Sprachwissenschaft, für nicht schriftlich bezeugte (belegte, überlieferte), sondern lediglich rekonstruierte Wortformen. Für die Leser*innen ergeben sich durch diese Technik zusätzliche Informationen, Meinungen und aufschlussreiche Theorien darüber, was geschieht. Klaue erwähnt beispielsweise besondere Fähigkeiten des jugendlichen Khirin und Thurvishar ergänzt: Oh, wie sehr ich den Mangel an Bildung in der Welt beklage. Dies alles ist purer Aberglaube.11 Oder in Bezug auf den Schleier Tajas, der Götttin des Glücks: Welche Strahlung? Ich gäbe viel darum, wenn ich Taja fragen könnte, was genau sie damit meinte.12

Zu den besonderen Erzählinstanzen gehören auch die kursiv hervorgehobenen Passagen, die im Erzähltext verteilt als Phrasen, Sätze und Absätze vorkommen. Ihre Funktion besteht in der Vermittlung am Kapitelanfang zwischen Ich- und Er-Instanz (stilles Selbstgespräch). Diese Passagen wirken narrativ ambivalent, sodass nicht immer ganz klar ist, ob sie noch ein autonomes Gedankenzitat oder schon indirekte Rede sind. Manches deutet allerdings darauf hin, dass sie nur gedacht werden, wie Gedanken, die beim Erzählen im Hintergrund ablaufen, die man zwar mitdenkt, trotzdem nicht mitteilen will, anderenfalls macht ihre Hervorhebung keinen Sinn. Möglicherweise sind sie aber auch als alternative Informationen gedacht, die ein auktorialer Erzähler dem Dialog beisteuert, von dem weder Khirin noch Klaue wissen und auch nicht wollen, dass ihr Gegenüber sie wahrnimmt.13 Häufig treffen die Leser*innen auch auf kursiv hervorgehobene Passagen, die den Fluss des Erzählens unterbrechen. Hier handelt sich um echte autonome Gedankenzitate des jeweiligen Erzählers, die wiedergeben, was während des Erzählens sonst noch wahrnimmt, fühlt oder denkt, aber nicht offen sagt beziehungsweise um von ihm später erworbenes Wissen, das er für die Leser*innen erläutern oder korrigierend ergänzt.

1 Kritisch anzumerken ist, dass es im letzten Drittel zunehmend schwieriger wird, die beiden Handlungsstränge auseinanderzuhalten; was wer gerade wem und wann erzählt? Es gibt gelegentlich Figuren, Beziehungen und Ereignisse, die ohne Einführung oder einen nachvollziehbaren Kontext unerwartet eingeführt werden. 2 Vgl. DGS, 1:417. 3 Vgl. DGS, 1:22-23. 4 Vgl. DGS, 1:33. 5 Aus Klaues Dialog mit Ola, die früher Lyrilyn und Olas Geliebte war, bevor sie durch den Schellenstein zur Mimikerin wurde (Vgl. Kap. 26). 6 Vgl. DGS, 1:120. 7 Vgl. DGS, 1:121. 8 Vgl. DGS, 1:326 Anm. **. Besonders seine Anmerkungen wie die folgenden sind es, die Klaues Erzählposition eindeutig als Nullfokalisierung charakterisieren: [. . .] dass Surdyeh zu meiner Gedankensammlung gehört. [. . .] Surdyeh ist ein reger Teil von mir. Klaue weiß immer mehr über die Figur, über die sie erzähl oder imitiert, gleichgültig ob es ihrem Erzählen zu entnehmen ist oder nicht. 9 Vgl. DGS, 1:86. 10 Beispielsweise DGS, 1:23. 11 Vgl. Anmerkung, DGS, 1:37. 12 Vgl. Anmerkung, DGS, 1:221; ebenfalls DGS, 1:168 bzgl. Aphrodisiaka und Gifte. 13 Beispiel Klaue, DGS, 1:81; Beispiel Khirin, DGS, 1:91.

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