Dienstag, 20. August 2024

Die Entfremdung des Alltäglichen


Magic is better than crazy!
Megan Lindholm

Vorbemerkung

Gegenstand dieser Studie ist die Bedeutungsebene der Kurzgeschichte Neighbours der US-amerikanischen Schriftstellerin Margaret Astrid Lindholm Ogden, die seit über zwanzig Jahren unter den Pseudonymen Megan Lindholm und Robin Hobb Phantastische Literatur veröffentlicht.1 Wer eine Erzählung von Megan Lindholm wählt, erwartet eine Fantasy-Erzählung. Doch in Neighbours suchen Leser*innen vergeblich nach mittelalterlichem Ambiente, wundermächtigen Artefakten oder übernatürlichen Protagonisten und auch die in der Fantasy allgegenwärtige Magie spielt nur eine eher subtile Rolle. Die erzählte Zeit sowie die erzählte Welt, das ganze Worldbuilding, entsprechen der realen Welt der Leser*innen. Selbst der Nebel, der zunehmend merkwürdiger wird, und Sarah, die intern-fokalisierte Erzählfigur einer heterodiegetischen Erzählerin, verunsichert, ist letzten Endes ein normales Phänomen in der Welt der Leser*innen. Hermann Hesse hat diese Atmosphäre in seinem Gedicht Im Nebel eingefangen:

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

[...]
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Wie in Lindholms Kurzgeschichte beschwört Hesse in seinem Gedicht eine magische Atmosphäre. Ohne dass Magie unmittelbar zum Thema wird, schildert Hesse eine Situation, die jeder kennt, der einmal in einen Nebel geraten ist. Nebel ist unheimlich, weckt Fantasien und vermittelt einen gewissen Thrill, der zwischen Neugier, Lust und Angst schwankt. Er verunsichert die Wahrnehmung derjenigen, der unerwartet in dichten Nebel geraten, wenn er die Umgebung in seinen weißen, undurchsichtigen Mantel hüllt, der das Alltägliche entfremdet. Ich glaube nicht, dass jemand Hermann Hesses Gedicht, obwohl der Nebel Protagonist ist, in das Genre Fantasy einordnet. Warum also sollte man Megan Lindholms Erzähltext als Fantasy bezeichnen? How long can an author continue to resist resolution into the fantastic? fragt Farah Mendlesohn,2 und ich würde ihr antworten: Nie! Denn jeder Erzähltext, unabhängig vom Genre, ist Fantasy, Fiktion, etwas Gemachtes. Ich will die Frage, ob oder dass Hesses Gedicht Fantasy ist, hier nicht vertiefen und sie den Leser*innen überlassen. Unzweifelhaft ist allerdings, dass sich das Geschehen in Megan Lindholm Neighbors, und auch in Hesses Gedicht in der Realität der Leser*innen ereignet.

1 Megan Lindholm, Neighbors, in: George R.R. Martin und Gardiner Dozois, Dangerous Women, London, 2013:125-270.
2 Farah Mendlesohn, Rhetorics of Fantasy, Ebook, 2008, Pos. 4492.

Nachbarn

Alles beginnt mit der denkwürdigen Aussage: Linda Mason was loose again, so als ob es normal ist, dass jemand wieder verloren geht, wieder einmal losgelöst ist, eine Situation, die die deutsche Übersetzung mit wieder unterwegs transkribiert, was weniger bedeutsam klingt als das mehrdeutig gemeinte loose again im Kontext von Lindholms Erzählung. Denn Linda tritt keine normale Reise an. Natürlich, sie bricht auf, ist irgendwohin unterwegs, aber mehr noch hat sie sich von ihrer sozialen Umgebung losgesagt (loose, lose, locker). Wie sich zeigen wird, wählt die reale Autorin diese Formulierung bewusst, denn mit ihr deutet sie an, dass sich Linda in einer sozialen und psychischen Ausnahmesituation befindet. Doch dazu später. Und noch etwas anderes ist wichtig, dass sich mit Hermann Hesses Zitat bereits andeutet: Linda löst sich von ihrem bisherigen Leben als billows of fog cloaked the street, was die Erzählfigur Sarah Wilkins, Lindas Freundin, in diesem Moment allerdings noch nicht als ungewöhnlich empfindet, denn die Erzählung spielt im Staat Washington, am Nordpazifik im Herbst, und Nebel ist für sie lediglich a precursor to fall in the Pacific Northwest. Mit dieser Szene, die erzählte Zeit und erzählte Welt äußerst minimalistisch skizziert, beginnt Megan Lindholms Kurzgeschichte Neighbors.

Eines Nachts taucht Linda aufgeregt und wie für eine Reise zurechtgemacht am Gartentor ihrer Freundin Sarah auf und verlangt von ihr, dass sie mit ihr aufbricht. Linda und Sarah sind Nachbarinnen, beide Seniorinnen, beide jenseits der Sechzig. Linda ist anscheinend an Alzheimer erkrankt, und keiner nimmt ihr Handeln mehr sonderlich ernst. Auch Sarahs kognitive Fähigkeiten scheinen nachzulassen, denn ihr Sohn versucht sie zu überreden, ihr Haus zu verkaufen und in ein Pflegeheim zu ziehen. Zwei alt gewordene Frauen, für ihre Familien lästig geworden, zu nichts anderem zu gebrauchen als zu sterben. Ihr Leben liegt unter den zermürbenden Routinen des Alterns begraben, ohne Sinn, ohne Verpflichtungen, ohne Glück, und hat ihnen nichts mehr zu bieten. Frustriert fasst Sarah in einem Moment der Verzweiflung ihre Situation in wenigen Worten zusammen: Cried for her mind that was slipping away, cried for Sarge being gone, cried for a life spinning out of her control. Cried for being alone in a foreign world. [. . .] Done and over. Canning was as done and over as dancing or embroidery or sex. No use mooning over it.3 Dann taucht Linda eines Nachts vor Sarahs Haus auf, verrückt gekleidet und ausgerüstet, aufgedreht und enthusiastisch, emotional hoch erregt: No, Sarah. You come with me! Magic is better than crazy. And time is the only difference between magic and crazy. Stay in there, you`re crazy. Come with me, you`re magic.4 Mit dieser mysteriösen Botschaft verschwindet Linda auf Nimmerwiedersehen. Trotzt der intensiven Suche von Familie und Polizei bleibt sie verschwunden, und Sarahs Leben verfließt wieder langweilig und ereignislos wie zuvor.
Sarah leidet unter Durchschlafstörungen, sitzt nachts oder am frühen Morgen häufig am Küchenfenster und starrt hinaus in den Nebel, der ihre Wohngegend dann in eine unwirkliche Atmosphäre taucht. Im Nebel ereignen sich merkwürdige Dinge, die sie unerklärlich anziehen, die sie verunsichern und die ihr niemand glaubt, weil man sie für alt und sonderbar hält. Fast zwanghaft fühlt sie sich vom Nebel angezogen. Was sie im Nebel beobachtet hat, davon überzeugt sie sich selbst, hinterlässt im Licht des Tages keine Spuren. Eines Morgens, es ist wieder neblig, sie hatte nachts eine Schlaftablette genommen und ist erst spät aufgewacht, findet sie ihre gepflegte, kleinbürgerliche Wohngegend verändert vor. Als sie vor Jahrzehnten mit ihrer Familie hierherzog, war die Gegend

an upwardly mobile neighborhood where lawns stayed green and mowed all summer, houses were repainted with clockwork regularity, and flower beds were meticulously tended. Now her eyes snagged on a sagging gutter on the corner of the old McPherson house. And down the way, the weeping willow that had been Alice Carter`s pride had a broken branch that dangled down, covered in dead leaves. Her lawn was dead, too. And the paint was peeling on the sunny side of the house. When had it all become so run-down? [. . .] This was not how she recalled her street. [. . .] Red and rusting, one tire flat, algae on the windows. The pieces of broken tree branch still littered the street, and the wind had heaped the fallen leaves against them. [. . .] The more she studied her familiar neighborhood, the more foreign it became. Broken windows. Chimneys missing bricks, dead lawns, a collapsed carport.5

Sie beobachtet einen Mann, der plötzlich im Nebel auftaucht, Lindas Rucksack trägt, und in einen Pick-up, der gegenüber auf der Straße parkt, einbricht. Ihr Beagle Sarge verbellt den Mann, aber den beeindruckt das nicht. Sarah geht zurück ins Haus, um ihr Telefon zu holen und die Polizei anzurufen, doch als sie zurück in den Garten kommt, ist die Straße leer; kein Mann, kein Pick-up.

Empty. No truck. No fallen branches or dead leaves. A mist under the greenbelt trees at the end of the street vanished as the sun broke through the overcast. She stood in a tidy urban neighborhood of mowed lawns and swept sidewalks. No shattered windshield, no shabby thief. [. . .] No beagle. »Sarge!« she called, her voice breaking on his name. But he was gone, just as gone as everything else she had glimpsed.6

Nachdem auch ihr Hund im Nebel verschwunden ist, wird die Zeit für sie völlig bedeutungslos: unhooked from time stellt sie verwundert fest:

That, she decided, was the secret of it. She wondered if it happened to all old people, once they realized that time no longer applied to them. She began to deliberately go out into the yard on the foggy days to stare by choice into that dismal other world.7

Drei Tage nach Sarges Verschwinden, sieht sie wieder Menschen im Nebel, und sie begreift allmählich, dass die nebelige Welt, in die sie seit Lindas plötzlichem Verschwinden blickt, nicht die gleiche sein kann, wie ihre eigene Welt. Dieses Mal beobachtet sie a ragged little girl, das im Nachbargarten den Apfelbaum schüttelt, an dem schon lange keine Äpfel mehr hängen. Sarah wirft dem Mädchen zuerst Äpfel über ihren Gartenzaun hinüber in den Nebel, damit das Mädchen seinen Hunger stillen kann. Später fragt sie sich: Was it as cold in that other world? und legt zu den Äpfeln auch Kleidung und Süßigkeiten, die am hellen Tag verschwunden sind. Sie überlegt, was passieren wird, wenn der Nebel auch ihr Haus einhüllt. Verwandelt es sich in einen verlassenen Ort with broken windows like the house across the street? A burned-out hulk like the Masons` home halfway down the block? Der Nebel dehnt sich zunehmend weiter aus, und hat inzwischen bereits ihren Garten erreicht, und die immer dichter werdende Atmosphäre kippt ins Unheimliche. Und dann passiert es, das Ungeheuerliche: Die Besucher im Nebel, die Sarah seit Tagen beunruhigen, nehmen Kontakt mit ihr auf. Einer der Männer kommt in ihren Vorgarten, unhampered by an iron fence that didn’t exist in his world, und ruft sie mit ihrem Namen: »Sarah!« [. . .] »Sarah!« he shouted again. »You are there. You hear me! Come out!« Behind him, his cohorts took it up. »Sarah!«8

Wie bewerten Leser*innen eine Erzählung wie Neighbors, die das Altern von Frauen jenseits der Sechzig schildert, deren Leben sich auf diese früher nicht für möglich gehaltene Weise verändert? Was geschieht mit Sarah Wilkins? Und was ist aus Linda Mason geworden, die zu Beginn der Erzählung Sarah ihr trotziges Magic is better than crazy entgegenhält? Dieser merkwürdige Appell Lindas an Sarahs Gartenpforte, der in dem Augenblick, in dem sie ihn äußert, noch wie ein isoliertes Fragment im Raum steht, irritiert nur kurz, denn im nächsten Augenblick kehrt Sarah zur Normalität des Alltags zurück. Solange die Leser*innen den Nebel für ein natürliches Phänomen halten, bewegt sich das Geschehen der Erzählung in ihrer Realität. Doch spätesten als die Ereignisse, die Sarah im Nebel beobachtet, immer seltsamer werden, fahnden die Leser*innen nach Gründen und Ursachen für Sarahs merkwürdige Wahrnehmungen und Interpretationen.
Jemand, der eine nüchterne Perspektive favorisiert, dem jedes Empfinden für das Fantastische fehlt, erkennt in Sarahs und Lindas Verhalten nicht mehr als eine psychiatrische Diagnose. Allzu sehr gleicht das Verhalten der beiden Frauen den Symptomen der Altersdepression, einer Alzheimerdemenz oder der Ich-Störung einer paranoiden Schizophrenie. Sind Sarah und Linda aus Einsamkeit und durch die Enttäuschungen des Alters psychisch krank geworden? Leiden beide altersbedingt an den psychischen Begleiterscheinungen einer subkortikalen Alzheimerdemenz oder an psychotischen Symptomen?
Der psychiatrische Terminus Demenz ist ein Derivat des lateinischen dementia, Wahnsinn oder Torheit, beziehungsweise demens (ohne mens, d.h. ohne Verstand), deren Leitsymptom ein Nachlassen oder eine Verschlechterung kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten ist. Das loose again am Anfang der Erzählung deutet in eine ähnliche Richtung. Sarahs ungewöhnliches Verhalten führt oberflächliche Beobachter schnell auf eine falsche Spur, auch ihren Sohn, der ähnliche Schlüsse zieht. Doch den Leser*innen, die der Erzählfigur beim Lesen über die Schulter schauen, erscheint Sarah geistig gesund, wenn auch ein wenig eigensinnig. Den Alzheimertest ihres Sohnes, der ihre Zurechnungsfähigkeit anzweifelt, weil er nicht verstehen will, was mit seiner Mutter geschieht, besteht sie jedenfalls problemlos. Viele Seiten lang spricht nichts gegen eine solche Auffassung, und die heterodiegetische Erzählerin lässt ihre Figur, sowie ihre Leser*innen, darüber im Unklaren, ob die Welt des Nebels nicht allein das Resultat qualitativer Bewusstseinsstörungen der beiden Frauen ist. So gesehen spricht auch nichts dagegen, den Nebel als Metapher für ihre veränderte Wahrnehmung, als Symptom einer fortgeschrittenen psychischen Erkrankung zu betrachten.
Sarah ist eine intern-fokalisierte Erzählfigur, die nur mitteilt, was sie selbst weiß und wahrnimmt, was sie fühlt und denkt. Die heterodiegetische Erzählerin ist keine Figur der erzählten Welt. Und obwohl sie außerhalb der narrativen Welt steht, ist sie nicht gleichzeitig eine auktoriale Erzählerin. Deshalb kann sie nur erzählen, was ihr die Umstände gestatten. Und so können die Leser*innen nicht mehr wissen, als Sarah weiß. Sie sind vollkommen auf ihre Sicht der Dinge angewiesen, müssen die erzählte Welt durch Sarahs Augen betrachten. In dieser Situation gefangen, hilft ihnen anfangs nur, willentlich ihre Ungläubigkeit zu suspendieren, sich auf Sarahs Erzählperspektive einzulassen und zu beobachten, was Sarah sieht, und zu glauben, was sie glaubt, in der Hoffnung, dass Ganze führe am Ende zu irgendetwas Vernünftigem. Doch diese Perspektive betrifft nur die manifeste Ebene der Erzählung. Die reale Autorin verlangt mehr, denn sie mutet ihren Leser*innen zu, mitzudenken, besser noch, mitzufantasieren. Deshalb müssen die Leser*innen ihre reale Welt verlassen, und die fiktive Welt von Megan Lindholm Kurzgeschichte betreten.

3 Lindholm, Neighbors, 263.
4 Lindholm, Neighbors, 237.
5 Lindholm, Neighbors, 249.
6 Lindholm, Neighbors, 251.
7 Lindholm, Neighbors, 253.
8 Lindholm, Neighbors, 256.

Die Welt des Nebels

Jede Erzählung besteht aus einer manifesten und einer latenten Ebene. Die manifeste Ebene repräsentiert die Textoberfläche, das, was erzählt und im emotionalen und geistigen Zustand des suspense of disbelief gelesen wird. Die latente Ebene setzt sich aus Symbolen und Metaphern, philosophischen, sozialen und psychologischen Implikationen eines Erzähltexts zusammen, nicht sofort offensichtlich, aus wie nebenbei eingestreuten Bemerkungen, dem was zwischen den Zeilen steht, und dass sich den Leser*innen nur auf der Grundlage ihres Vorverständnisses und ihres Wissens erschließt. Alles Geschehen in Neighbors beginnt und endet im Nebel, in der Nacht, in der Linda Mason spurlos verschwindet, und in einer späteren Nacht, als Sarah Wilkins ihr in den Nebel folgt. Im weiteren Verlauf drängt sich zunehmend der Gedanke auf, dass es sich bei dem Nebel um mehr handeln muss als um ein gelegentlich auftretendes Wetterphänomen. Sarah beobachtet immer mehr und regelmäßiger seltsame Ereignisse in ihrer Nachbarschaft, die sie daran zweifeln lassen, was real und was Illusion ist.
Sarah Wilkins ist eine Seniorin, deren zunehmendes Alter, und die damit verbundenen körperlichen und geistigen Veränderungen, sie immer mehr isoliert und von ihrer Umgebung entfremdet haben. Ihre Kinder und die Nachbarn betrachten sie als senil, glauben, ihr Gedächtnis lässt nach, und sie bildet sich Dinge ein, die nur in ihrer Fantasie existieren. Aber Sarah weiß es besser, denn bei den Wahrnehmungen ihrer Nachbarn handelt es sich um ein Missverständnis, das die Distanz zwischen ihr und den Menschen um sie herum symbolisiert, die sie zunehmend isoliert haben. Die Isolation, die Sarah empfindet, führt zwangsläufig zu ihrem inneren Rückzug und einer stärkeren Beschäftigung mit ihren eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen.
Ihre Freundin Linda macht mit ihrer Familie und den Nachbarn die gleichen Erfahrungen wie Sarah und hat in jener Nacht die Konsequenzen gezogen. Als sie eines nachts vor Sarahs Haus randaliert und ruft: »Sarah! Sarah Wilkins! You’d better hurry! It’s time to go!«, beobachtet Sarah sie mit klopfendem Herzen vom Fenster aus. Plötzlich fühlt sie sich an ihre Kindheit erinnert, war für einen Moment eight years old again. Don´t look under your bed, fällt ihr dabei ein. Don`t open the closet at night, denn dort wartet der Butzemann oder, wie Sarah ihn nennt: Schrödingers Boogeymen. Die Dringlichkeit, mit der Linda sie auffordert, mitzukommen, erzeugt eine ungemütliche Resonanz in ihr. Doch sie verdrängt schnell, was versucht sich in ihr Bewusstsein zu drängen, etwas Beruhigendes, und rettet sich damit, zu denken, was alle über Linda denken: Alzheimer`s was what most people said about Linda, but »just plain nuts« seemed as apt. Es ist nur Schrödingers Butzemann.9
Megan Lindholms Sentenz Schrödingers Butzemann (oder Schwarzer Mann) verweist klanglich und inhaltlich auf Schrödingers Katze, sodass gleich von der ersten Seite an deutlich gesagt ist, welches Thema Megan Lindholm beabsichtigt in ihrer Kurzgeschichte Neighbors zu behandeln. Es ist zwar naheliegend, aber viel zu einfach und oberflächlich, das eigenartige Verhalten der beiden Frauen, wie es die Nachbarn tun, auf psychische Störungen des Alters zurückzuführen. Die reale Autorin bietet diese Perspektive zwar an, aber erfahrene Fantasyleser*innen zweifeln an dieser Lösung, und fragen sich, ob Sarah wirklich nur verwirrt ist, oder ob es sich bei ihrer Beobachtung des Nebels nicht um eine alternative, parallele Realität handelt, wo ihre Freundin Linda sie bereits erwartet.
Die Bezeichnung »verrückt« für psychische Störungen ist ein interessantes Wort. In der Alltagssprache verrückt jemand die Tassen im Schrank, das heißt, er stellt sie an eine andere Stelle. Oder jemand verrückt seinen Stuhl, um besser aus dem Fenster sehen zu können, um eine andere Perspektive einzunehmen. In Neighbors verrückt Sarah die Perspektive auf ihre Realität. Es beginnt damit, dass sich Sarahs Gefühl für die gemessene Zeit ändert, nach der die Dinge in der realen Welt funktionieren: She wouldn’t tell him [ihrem Sohn] that the clock no longer mattered to her. Wouldn`t say that time no longer controlled her. Sie hat sich aktiv selbst verrückt, ist nicht verrückt geworden, wie ihre Nachbarn es sehen, denn das ist etwas anderes, sondern sie nimmt eine andere Perspektive auf sich und ihre nun vergangene Realität ein, denn sie fühlt sich mehr und mehr zu der nebeligen Welt vor ihrer Haustüre hingezogen. Indem sie ihren unerträglichen Konflikt, ihre Isolation, loslässt, erreicht die Katharsis der Erzählung ihren Höhepunkt, der einsetzt, als Sarah sich der liminalen Sphäre des Nebels bewusst geworden ist. Das sukzessive Vordringen des Nebels lenkt Sarahs Aufmerksamkeit auf eine mögliche Lösung ihres Konflikts. Der mysteriöse Nebel, der nur für sie und Linda existiert, denn sonst scheint ihn niemand wahrzunehmen, erscheint ihr als Portal in eine andere Welt, keine von der sie überzeugt ist, dass sie besser ist, doch eine von der sie spürt, dass sie möglich ist.
Das zentrale Motiv von Megan Lindholms Kurzgeschichte Neighbors tangiert die verschwimmende Grenze zwischen alternativen, parallelen Realitäten. Wie leicht überliest man eine nebenbei eingestreute Bemerkung wie Schrödingers Boogeyman? Sarahs Erinnerung an ihre kindliche Angst vor dem Butzemann wirkt an dieser Stelle der Erzählung wie beiläufig, nicht mehr als eine Charakterisierung von Sarahs Persönlichkeit. Doch sie erweist sich als äußerst relevant für das Fortschreiten der Erzählung, denn sie ist mehr als ein unbewusster Reflex auf Lindas Verhalten, sondern ein Hinweis auf die latente Ebene der Erzählung. Obwohl Sarah aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in jener Nacht am Fenster gut versteht, was mit Linda nicht stimmt, will sie die Wahrheit nicht akzeptieren, und enthält damit die noch unsichtbare Botschaft der Kurzgeschichte auch den Leser*innen vor. Megan Lindholms Schrödinger-Sentenz verweist klanglich und inhaltlich auf ein berühmtes Gedankenexperiment, das unter dem Namen Schrödingers Katze bekannt geworden ist, sodass man schon auf der ersten Seite Megan Lindholm Thema vermuten kann.10
Was macht Schrödingers Boogeymen in einer Erzählung, in der übernatürliche Gestalten wie Kobolde und Zwerge überhaupt nicht zum Plot gehören? Die Antwort auf diese Frage schwingt im Titel von Megan Lindholms Kurzgeschichte Neighbors bereits mit, der ambivalent und hintergründig zugleich ist, ohne unmittelbar offenbar zu sein, denn

  • nicht nur Sarah und Linda sind Nachbarn, sondern auch
  • zwei parallele Welten: Sarahs alltägliche Realität, in der sie fast ihr ganzes Leben verbracht hat, und die Welt, die sich ihr nur dann im Nebel zeigt, wenn sie ihn beobachtet.

Portale in andere Welten sind wahrscheinlich das häufigste narrative Motiv von Fantasy-Erzähltexten. Die alternativen Möglichkeiten, das Fantastische, liegen auf der anderen Seite des Portals. In Steven Eriksons Romanauftakt der Malaz-Serie, Die Gärten des Mondes, kann ein Magier ein Portal, Gewirr (warren) genannt, mit seinen psychischen Fähigkeiten öffnen:

Die Gewirre der Magie befinden sich im Jenseitigen. Suche das Tor und drücke es einen Spalt weit auf. Das, was herausfließt, kannst du formen [...]. Öffne dich dem Gewirr, das zu dir kommt, das dich findet. Entziehe ihm Macht - so viel, wie dein Körper und deine Seele bändigen können.11

Obwohl Portale von Erzählung zu Erzählung variieren, sind zwei Arten des Portals die verbreitetsten:

  • Portale als materielle Tore, wie die speziellen Portale in Stephan Kings Epos Der Dunkle Turm, von denen Pfade ausgehen, entlang derer die verschiedenen Realitäten (keystone worlds) koexistieren, alternative Versionen der eigenen Realität der Figuren, oder einfacher gestaltet wie das Portal, durch das Will in The Subtle Knife erstmals aus seiner eigenen Realität in die parallele Welt der verwunschenen Stadt Cittagazze gelangt (eine portal quest fantasy).12
  • Portale öffnen sich in der Realität der Figuren durch magisch-naturwissenschaftliche Techniken, durch einen Code, der an einem Portalstein eingegeben werden muss, wie in Robin Hobbs Farseer Trilogy oder The Ways in Robert Jordans Wheel of Time, mittels eines veränderten Bewusstseinszustands beziehungsweise einer außergewöhnlichen psychischen Befindlichkeit, wie die Gewirre in Die Gärten des Mondes, die Löcher in der Zeit in The Anubis Gates oder die auf einer Karte verzeichneten Wurmlöcher, die Time Bandits einem höchsten Wesen gestohlen haben (immersive fantasies).13

Die beiden Portalarten kennzeichnet ein qualitativer Unterschied. Portale der ersten Art führen den Reisenden in eine andere Welt oder Kultur, denn er verlässt seine eigene Welt. Wo diese andere Welt liegt, ist meistens nicht genauer thematisiert, vielleicht grenzen sie aneinander, vielleicht liegen sie in einer anderen Zeit oder in einem anderen Raum, aber es gibt immer eine Schnittstelle, die der Kundige durchqueren kann. Jemand, der ein Portal der zweiten Art benutzt, betritt keine andere Welt, sondern eine alternative, parallele Realität, die sich neben der eigenen Realität, eben parallel zu ihr, befindet. Die Welt des Nebels, die Sarah und Linda wahrnehmen, gehört der zweiten Art an, denn sie stellt eine parallele Realität dar, die sich qualitativ nicht von der eigenen Realität der beiden Frauen unterscheidet. Beide Realitäten sind nach den gleichen Regeln strukturiert und funktionieren unabhängig voneinander. Die Existenz der beiden Realitäten erscheint oder verschwindet allein durch Sarahs Wahrnehmung. Es braucht kein Portal, denn die parallele Realität erscheint als Resultat der Beobachtung wie ein Gewirr für die Magierin Flickenseel in Eriksons Welt von Malaz: Öffne dich dem Gewirr, das zu dir kommt, das dich findet. Und damit komme ich zu Schrödingers Butzemann, der eigentlich eine Katze ist.
Die Portale der Fantasy sind nur die eine Seite der Medaille, das Multiversum liegt auf der Rückseite. In Philip Pullmans Kurzgeschichte The Collectors unterhalten sich zwei Kunstsammler über die Herkunft eines Gemäldes, das eine mysteriöse Frau abbildet. Einer der Sammler kennt diese Frau von früher, und erklärt seinem erstaunten Kollegen, dass sie aus einer anderen Welt stammt:

»There are many worlds, Horley, many universes, an infinity of them, and none of them knows about any of the others. Except that at very rare intervals, a breach appears between one world and another. A little crack. Things slip through. Once you become attuned to it, you can spot things that don`t come from here. There`s a different sort of light that seems to play on them.«14

Unzweifelhaft besteht zwischen Megan Lindholms Kurzgeschichte Neighbors und Hugh Everetts Viele-Welten-Theorie (Many Worlds Interpretation) eine Verbindung. In seiner Interpretation der Quantenmechanik postuliert Everett, dass jede mögliche Entwicklung des Universums tatsächlich in einem eigenen, parallelen Universum stattfindet. In diesem Sinne existieren unendlich viele parallele Welten, die nebeneinander existieren, ohne dass die Bewohner die Existenz einer alternativen, parallelen Realität, neben ihrer eigenen, bewusst wahrnehmen. Die Kopenhagener Deutung betrachtet die Quantenwelt als eine superposition, in der ein Quantensystem mehrere mögliche Zustände gleichzeitig einnimmt, bis eine Messung durchgeführt wird. Erst durch eine Messung beziehungsweise einen Beobachter kollabiert die Wellenfunktion, und das System nimmt einen definitiven Zustand an. Dieser Kollaps der Wellenfunktion ist eine der mysteriösesten und am meisten diskutierten Aspekte der Quantenmechanik.15
Alternativ behauptet nun die Viele-Welten-Theorie (VWT), dass die Wellenfunktion niemals kollabiert. Stattdessen existieren alle möglichen Zustände eines Quantensystems gleichzeitig, jedoch in separaten, parallelen Realitäten. Bei jeder quantenmechanischen Beobachtung verzweigt sich die Realität, sodass alle möglichen Ergebnisse der Messung in unterschiedlichen, aber realen parallelen Realitäten eintreten. Das bedeutet, dass für jede Entscheidung oder jeden Zufallsprozess im Quantenbereich eine neue, parallele Realität entsteht, in dem sich die alternativen Ergebnisse realisieren. Durch dieses Phänomen entstehen unzählige, alternative Realitäten, die koexistieren und auch dann real sind, wenn ein Beobachter sie nicht direkt wahrnehmen kann, wie Kings Multiversum, in dem der Dunkle Turm das Zentrum (Nexus) ist, das alles zusammenhält. Anstatt zu sagen, dass nichts real ist, solange man es nicht beobachtet, behauptet die VWT, dass alles real ist, auch wenn man es nicht beobachten kann. Nach der VWT ereignet sich diese Spaltung jedes Mal, wenn in der Quantenwelt eine Entscheidung getroffen wird. Aus diesem Grund kann es unzählige Realitäten geben, die alle voneinander verschieden sind und irgendwie nebeneinander existieren. Horleys Frage, »And these other worlds – are they all the same as this one?«, beantwortet sein Kollege Grinstead, in dem er ein weiteres Merkmal multipler Welten erwähnt: »No. Some of them are just like this one, except for one detail. Imagine. Time passes differently in different worlds.« Eine Erfahrung, die Grinstead mit Sarah und Linda teilt, die beobachtet haben, dass time is the only difference between magic and crazy, woraufhin Sarah die Konsequenz zieht, sich von der alltäglichen Zeit zu lösen (unhooked from time) und ihr keine Bedeutung mehr gibt. Ein interessantes Detail, wie ich finde, dass es unmöglich macht, die Relevanz der VWT für die Kurzgeschichte Neighbors zu ignorieren.
Aus Sarahs Perspektive, und gemäß der Hypothese der VWT, ist die Welt des Nebels genauso real und gültig wie die Realität, die sie zurücklässt, unabhängig davon, was in den anderen Realitäten geschieht. Wenn Everetts Theorie impliziert, dass jede Entscheidung, die ein Individuum trifft, zur Entstehung einer neuen, parallelen Realität führt, dann entsteht durch diese Wahl auch eine alternative Version des Selbst. Durch ihre Entscheidung, in die Welt des Nebels zu wechseln, ist aus Sarah eine Alternativ-Sarah geworden. Ihre Entscheidung hat dazu geführt, gemäß VWT, dass sich ihre Realität spaltet, und dass eine parallele Sarah-Realität mit ihrem alternativen Selbst entsteht. Diese alternative Sarah-Realität ist aber genauso real wie die Welt ihrer Nachbarn, auch wenn diese die Sarah-Realität, die für sie die Welt der »Geister« ist, nicht wahrnehmen. Die hypothetische Wahrscheinlichkeit paralleler Realitäten führt zu der Konsequenz, dass eine alternative Sarah-Version in der Welt des Nebels existiert, die physisch und objektiv real ist, denn die VWT betrachtet diese parallelen Selbst-Versionen nicht nur als hypothetische, theoretische Konstrukte: Sie sind physische Entitäten, die in ihren eigenen Welten leben, eigene Erfahrungen machen und Entscheidungen treffen. Deshalb ist Alternativ-Sarah genauso real wie Sarah in ihrer alltäglichen Welt gewesen ist.
Was bedeutet es, real zu sein? Die Frage nach der Realität eines alternativen Selbst von Sarah Wilkins betrifft ihre Identität und Existenz. In der traditionellen Philosophie wird Realität als etwas definiert, das physisch existiert und erfahrbar ist. Wenn diese Definition zutrifft, und ich finde, das tut sie, sind alternative Selbst-Versionen auch in parallelen Realitäten real, weil sie in ihrem eigenen Kontext physisch existieren und Erfahrungen machen. In ihrer alternativen, personalen Version ist Sarah ein wirkliches Du mit einer eigenen, separaten Identität, die unterschiedliche Erfahrungen macht und andere Entscheidungen trifft. Megan Lindholm hat ihre Hauptfigur Sarah Wilkins so gemeint, und genauso erleben die Leser*innen sie, und identifizieren sich mit ihr. Sarah (diese Realität) und Alternativ-Sarah (parallele Realität; alternatives Selbst) sind nicht dieselbe Person, obwohl sie denselben Ursprung haben. Aus der Perspektive ihres eigenen Bewusstseins existiert eine Person nur in ihrer eigenen Realität als reale Entität. Die Vorstellung von parallelen Realitäten und alternativen Selbstentwürfen ist aus Sicht des mechanischen Weltbilds absurd und führt im Allgemeinen dazu, dass die Existenz paralleler Realitäten und alternativer Versionen von sich selbst infrage gestellt wird, da diese Phänomene nicht ohne Weiteres beobachtbar und unerreichbar sind, weshalb sie als unbedeutend und fiktiv wahrgenommen werden.16 So weit zu der Wahrscheinlichkeit paralleler Realitäten und der Möglichkeit physisch in diese einzutreten.
Obwohl Neighbors nicht explizit eine Erzählung ist, die die VWT thematisiert, benutzt Megan Lindholm die Konzepte paralleler Realitäten und alternativer Existenzformen. Auf jeden Fall regt ihre Kurzgeschichte dazu an, über die Natur der Realität nachzudenken und darüber, wie unser Bewusstsein und unsere Entscheidungen möglicherweise in einem weiten, multidimensionalen Kosmos verankert sind, in dem unendlich viele Möglichkeiten koexistieren. Allerdings will ich einräumen, dass Sarahs und Lindas Übergang in die Realität des Nebels auch symbolisch verstanden werden kann und für eine alternative Lebenswahl steht, für das Leben, das sie hätten führen können, wenn andere Umstände geherrscht hätten. Doch führt diese Entscheidung sie nicht ebenfalls in eine andere (neue) Realität, die zwar nichts mit physikalischen Phänomenen zu tun hat, dennoch für die beiden Frauen und ihre Nachbarn einen parallelen Charakter hat. Die Idee, dass Sarah eine andere Welt findet, in der sie sich angenommen und gebraucht fühlt, kann als Metapher gelesen werden, dass in den unzähligen Welten des Multiversums für jede mögliche Lebenssituation eine passende Realität existiert.
Das Ende der Geschichte bleibt bewusst mehrdeutig, was charakteristisch für Lindholms Erzählweise ist. Sarah verschwindet aus der realen Welt, und es bleibt offen, ob sie in einer parallelen Realität, der Welt des Nebels, weiterlebt oder ob ihr Verschwinden symbolisch für ihren endgültigen, inneren Rückzug ist. Neighbors zeichnet ein tiefgründiges Porträt einer älteren Frau, die mit den Herausforderungen des Alterns, der Isolation und dem Verlust ihres Selbstwertgefühls konfrontiert ist. Die mysteriöse parallele Realität des Nebels dient als Fluchtort vor ihrer harschen, alltäglichen Wirklichkeit, bietet aber auch eine Möglichkeit zur Erfüllung ihrer emotionalen Bedürfnisse. Megan Lindholms Erzählungweise, die geschickte Nutzung von Analepse (nicht-chronologische, fragmentarische Rückblenden, die Sarahs mentalen Zustand spiegeln, verwirren die Ordnung der erzählten Zeit) und Dehnung (wenn sie über ihre Vergangenheit nachdenkt oder die Realität infrage stellt), sowie die knapp gerafften äußeren Ereignisse unterstreicht Sarahs Isolation und die Entfremdung von ihrer Umgebung. Außerdem steigert die schwebende Unzuverlässigkeit von Sarahs Wahrnehmung, die ständig Fragen nach ihrem Realitätsbezug aufwirft, die Spannung des Geschehens. Gemeinsam werfen diese narrativen Strategien spannende Fragen über die Wahrnehmung der Realität auf, die Bedeutung von Gemeinschaft und die oft unsichtbaren Kämpfe älterer Menschen. Lindholms geschickte Verwendung von Mehrdeutigkeiten lässt die Leser*innen am Ende mit einer tiefen Reflexion über das Leben, das Altern und die psychische Befindlichkeit älterer Menschen zurück.

9 Lindholm, Neighbors, 235. Der Butzemann, eine Kinderschreckfigur, ist eine Sammelbezeichnungen für erschreckende Dämonen und Gespenster, Kobolde und Zwerge, mit denen Eltern ihren Kindern früher gerne Angst einjagten, weil sie diese Drohung für eine pädagogische Maßnahme hielten. Etwas äußerst Beängstigendes lauert mit dieser Erinnerung unterhalb Sarahs Bewusstseinsschwelle, etwas dem sie sich nicht stellen will, etwas, das sie als Erwachsene belächelt: Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann / In unserm Haus [in Sarah Gedanken] herum, fidebum.
10 Das berühmte Gedankenexperiment des österreichischen Physikers Erwin Schrödinger (1935), das unter dem Namen Schrödingers Katze bekannt wurde, ist selbst eine Erzählung, die metaphorisch die Essenz der Quantenphysik auf den Punkt bringt. Es illustriert die Prinzipien der Quantenmechanik, insbesondere das Konzept der Überlagerung und das Problem der Messung in der Quantenwelt.
11 Steven Erikson, Die Gärten des Mondes, Bd. 1: Das Spiel der Götter, München, Ebook, 2000:96.
12 Termini nach Farah Mendlesohn, Rhetorics. Eine andere Katze, Philip Pullmans Ironie ist einfach köstlich, macht sich die VWT in seinem Multiversum zunutze: She reached out a paw to pat something in the air in front of her, something quite invisible to Will. Then she leapt backwards, back arched and fur on end, tail held out stiffly. [. . .] Again she leapt back, but less far and with less alarm this time. After another few seconds of sniffing, touching, whisker-twitching, curiosity overcame wariness. The cat stepped forward, and vanished (Philip Pullman, The Subtle Knife, Bd.2: His Dark Materials. The Complete Trilogy, London, Ebook, 2015:310; Robert Jordan, Die Suche nach dem Auge der Zeit, Bd.1: Das Rad der Zeit, München, 2004:741ff.
13 Tim Powers, Die Tore zu Anubis Reich, München, 1988; Terry Gilliam, Time Bandits, Fantasyfilm, 1981.
14 Well, in theory all these worlds are mutually unreachable. The physics wouldn`t allow things to be otherwise. In practice, the whole structure . . . leaks (Philip Pullman, The Collectors, Ebook, London, 2015:11-13). Vgl.a. You can see them sometimes in the Northern Lights. They aren`t part of this universe at all; even the furthest stars are part of this universe, but the lights show us a different universe entirely. Not further away, but interpenetrating with this one. Here, on this deck, millions of other universes exist, unaware of one another . . . (Philip Pullman, Northern Lights, His Dark Materials, Vol.1, Ebook, 2015:138).
15 Hugh Everett III, The Theory of the Universal Wavefunction, Diss. 1957.
16 Vgl.a. meinen Blogbeitrag Das unwahre Leben der Grace Stewart. Haunted House Horror in Alejandro Amenábars Psychothriller The Others, in: Grüne Sonnen. Die anderen Welten der Fantasy, 2024.

Eine Frage des Genres

Auf den ersten Eindruck scheint Neighbors eine moderne Kurzgeschichte zu sein, in der eine reale Autorin ein aktuelles Thema aufgreift: die Probleme des Alterns in der modernen Zivilisation sowie altersbedingte, psychische Erkrankungen des Individuums und die Konsequenzen für das soziale Umfeld. Ihre Figuren sind alt geworden, und ihr Leben neigt sich dem Ende entgegen. Dass Linda Mason psychisch krank zu sein scheint, daran besteht lange kein Zweifel, denn ihre Diagnose Alzheimerdemenz bietet den Nachbarn bereits Gesprächsstoff. Auch Sarah Wilkins kognitive Fähigkeiten scheinen abzunehmen, zumindest bezweifelt ihr Sohn ihre Zurechnungsfähigkeit.
Leser*innen von Megan Lindholm kennen sie als Fantasy-Erzählerin, sodass die Annahme, mit Neighbors eine Fantasyerzählung zu lesen, zuerst nicht weiter hinterfragt wird, da sie den Erwartungen an das Genre entspricht. Auch wenn Klassifizierungen oder Genres nur einen ersten Eindruck eines Erzähltextes vermitteln, sagen sie nicht viel über ein literarisches Werk aus, denn das Genre trifft nicht die Tiefe einer Erzählung. Letzten Endes ist es eine Frage der Perspektive und der Kriterien, die verwendet werden, um einen Erzähltext einzuordnen und zu bewerten, um ihn angemessen und zielgruppenorientiert zu vermarkten.
Megan Lindholms Kurzgeschichte Neighbors ist stilistisch gesehen ein hybrider Text, in dem sie ihre Leser*innen von Anfang an im Unklaren lässt: einerseits darüber, dass sie unterschiedliche Arten der Fantasy in ihrer Erzählung kombiniert, andererseits mit rhetorischen Stilmitteln, der Metapher des Nebels und der Ironisierung des Schicksals ihrer Figuren, mit scheinbar hinter Sarkasmus verstecktem Ernst, der das Gegenteil des Gemeinten ausdrückt. Betrachtet man das Worldbuilding in Megan Lindholms Kurzgeschichte, eine kleinbürgerliche Wohngegend im Umland von Seattle und das Geschehen in einem mysteriösen Nebel, der sich zunehmend in Sarahs Wahrnehmung drängt, wird deutlich, dass Neighbors mehr ist als eine schlichte portal quest fantasy. Ein Blick hinter die Oberfläche der Erzählung wirft die Frage auf, mit welcher Art Erzähltext es die Leser*innen denn zu tun haben, denn die Kurzgeschichte ist auch in Bezug auf das Genre ein hybrider Text. In ihrer Studie Rhetorics of Fantasy klassifiziert Farah Mendlesohn Erzählttexte der Fantasy nach operationalen Kriterien. Der Versuch, Neighbors anhand von Mendlesohns Rhetorics einzuordnen, lässt drei Möglichkeiten zu, zwischen denen die Erzählung oszilliert:17

  • In einer Portal Quest Fantasy verlässt eine Figur ihre vertraute Umgebung und gelangt durch ein Portal an einen unbekannten Ort. Der Nebel, den man zuerst für ein natürliches Wetterphänomen hält, verändert sich im Lauf der Erzählung so sehr, dass man sich fragt, ob es sich nicht um ein Portal in eine andere Welt handelt. Wäre Neighbors eine Portal Quest Fantasy, dann wäre der mysteriöse Nebel ein Portal in eine andere Welt des Multiversums und Sarahs Bemühen in den veränderten Umständen eine Entscheidung zu finden, wäre eine Queste in einen neuen Status.
  • Eine Immersive Fantasy schildert eine Welt, deren Worldbuilding so konstruiert ist, dass sie als eine vollständige Welt funktioniert, die gegenüber äußeren Einflüssen unempfindlich ist. Die Stadt Seattle an der amerikanischen Nordwestküste ist eine moderne Großstadt, ökonomisch, sozial und politisch unabhängig. Sie ist nicht nur Sarahs und Lindas Lebenswelt, sondern auch die reale Welt der Leser*innen, und so viel sei vorweggenommen, auch der Schauplatz eines anderen Erzähltexts von Megan Lindholm. Dass Neighbors eine Immersive fantasy ist, bleibt daher unwidersprochen.
  • Doch Neighbors ist nur auf den ersten Blick eine Immersive Fantasy. Die Bühne des Geschehens ist eine moderne Metropole, die die Handlung stark beeinflusst. Wenn das urbane Umfeld als eigene Figur auftritt, und eins der zentralen Merkmale ist, spricht man von einer Urban Fantasy, wo Städte als lebendige, dynamische Orte dargestellt werden, die ebenso Teil der Handlung wie die Figuren sind. Betrachtet man das erzählerische Werk von China Miéville, mit seiner Mischung aus Steampunk-Technologie, New Weird, Magie und apokalyptischen Prophezeiungen, dann scheint die Nähe von Neighbors zur Urban Fantasy fehlgeleitet. Allerdings nicht ganz, denn die Kombination von zeitgenössisch-urbanem Milieu und Magie beziehungsweise metaphysischen Phänomenen, als das sich der Nebel schließlich entpuppt, teilt die Urban Fantasy mit der von Mendlesohn als Liminal Fantasy beschriebenen, rhetorischen Kategorie.
    Eine Liminal Fantasy ist jene Art Fantasy, die Figuren der Erzählung sowie deren Leser*innen von ihren alltäglichen Erfahrungen entfremdet (deshalb auch estranged fantasy). In den Worten von Farah Mendlesohn: Es ist die idea of the ordinary that can be estranged.18 Das Attribut liminal betont die Schwelle, nicht das Portal, zwischen dem Fantastischem (Magischen) und der alltäglichen Realität. Beide Aspekte der Erzählung existieren nebeneinander wie zwei Seiten einer Medaille. Nie kann man sich sicher sein, welche der beiden Realitäten die Illusionäre ist. Der Clou von Neighbors besteht in der rücksichtslosen Verunsicherung der einfachen, beinahe langweiligen Alltäglichkeit des Lebens der beiden Frauen, das durch den Einbruch des Fantastischen in ihren Grundfesten erschüttert wird, das zentrale Merkmal einer Liminal Fantasy.

Das Debut von Megan Lindholm, Wizard of the Pigeons (1986), ist ein von der Literaturkritik hoch gelobter Erzähltext und gilt als Vorläufer der Urban Fantasy.19 Und er stellt, Jahrzehnte später, die Blaupause für ihre Kurzgeschichte Neighbors dar. Nicht nur der Schauplatz Seattle, sondern auch die perspektivische Ambivalenz der Erzählung, die sich ständig zwischen der Wirklichkeit und dem Fantastischen bewegt. In beiden Erzähltexten werden Realität und Fiktion nach den gleichen Regeln konstruiert, ein Kniff, der es den Leser*innen letztlich unmöglich macht, von der Annahme auszugehen, dass Sarah und Linda verrückt sind.
Einmal abgesehen von Schrödingers Boogeymen, die Sentenz, die für die unterschwellige Bedeutung des Worldbuilding verantwortlich ist, kreist der Erzähltext um zwei Leitmotive: Linda Masons Programm - Magic is better than crazy! – veranlasst sie dazu ihre alltägliche Realität zu verlassen und sich für ihre eigene Wahrnehmung (magic – magisch zu sein) und gegen die Zuweisungen ihres Umfelds (crazy – verrückt zu sein) zu entscheiden. In Neighbors trennt die beiden Welten nur ein schmaler Grat, den Sarah überschreitet, als sie erkennt: Time passes differently in different worlds. Darüber hinaus repräsentieren die beiden Aussagesätze auch das narrative Programm der realen Autorin. Neighbors ist eine Erzählung über Illusion und Realität, und das macht sie zu einer Liminal Fantasy. Megan Lindholm fügt in den Erzählfluss eine Vagheit ein, die nicht nur die offensichtliche Unsicherheit der erzählten Welt repräsentiert, sondern sich in den Köpfen der Leser*innen über Sarah psychische Gesundheit und wie sie ihr Leben lebt, fortsetzt.Neighbors fordert die Leser*innen auf, sich für eine Wahrheit zu entscheiden und herauszufinden, welche der dargestellten Welten die Illusion ist.
Die Kurzgeschichte Neighbors und der Roman Wizard of the Pigeons zeigen wie zwei Genre der Fantasy - Urban Fantasy und Liminal Fantasy - miteinander korrespondieren. Beide integrieren gemeinsame, genretypische narrative Motive, Magie in einer modernen, urbanen Welt, und sind Erzählungen, die sowohl die Realität als auch die Illusion reflektieren können. Das Geschehen in beiden Erzähltexten spielt in einer modernen, urbanen Umgebung, die auf den ersten Blick völlig alltäglich erscheint. Doch in dieser realen Welt existieren verwirrende, rational nicht oder nur schwer fassbare Elemente, zentrales Merkmal der Urban Fantasy. Wenn auch in Wizard of the Pigeons und Neighbors Magie nicht als etwas Abgehobenes, aus einer fernen Welt kommendes dargestellt wird, sondern als etwas, das in die moderne Welt hineinragt und dort unerkannt existieren kann, agiert sie doch in Neighbors subtiler, zweifelhafter, nicht so offensichtlich in die Erzählung integriert. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung, und der Unsicherheit darüber, was wirklich magisch ist, ist charakteristisch für eine Liminal Fantasy, die mit der Grenze zwischen Realität und Illusion spielt. Liminal Fantasy beschäftigt sich weniger mit den Auswirkungen von Magie auf das Alltagsleben, sondern mehr mit sozialen und psychologischen Themen, die in einem modernen Kontext relevant sind, indem sie reale Probleme mit einer fantastischen Ebene verknüpft. Diese Verschmelzung von Magie, sozialen Problemen und alltäglichem Leben, deren Reflektion Figuren und Leser*innen zwischen Vertrautheit und Entfremdung hin- und herwirft, ist auch charakteristisch für die Urban Fantasy.
Die Grenze zwischen Urban-Fantasy- und Liminal-Fantasy-Erzähltexten ist hauchdünn, und nur durch die Weise der Verwendung von Magie in den Texten erkennbar. In Neighbors präsentiert Megan Lindholm, wie Jahre zuvor in Wizard of the Pigeons, einen Liminal-Fantasy-Erzähltext, der sich virtuos auf der Schwelle (liminal) zwischen Wirklichem und Imaginären bewegt, betwixt and between, wie Victor Turner es ausdrückt. Sarah lebt im Alter auf der Schwelle, und die Autorin mutet ihren Leser*innen zu, die psychische Befindlichkeit nachzuvollziehen, in die jemand wie Sarah gerät, der von seiner Alltagswelt entfremdet ist, - the idea of the ordinary that can be estranged - sich nicht mehr sicher ist, welche der Realitäten, die er wahrnimmt, die wirkliche, welche die illusionäre ist. Dass sich Sarahs Zustand mit einem psychiatrischen Krankheitsbild deckt, ist unbenommen. Es bedeutet aber nicht, dass ihr Verhalten gleichzeitig pathologisch ist. Eigensinnig und sonderlich zu werden ist eine Definition eines verständnislosen Umfelds. Alt zu sein und alt zu werden ist eine Phase des Lebens, die wie jede andere Phase ihren eigenen Regeln folgt. Doch in unserer Gesellschaft zählt zuletzt nur das, was diese Gesellschaft als normal empfindet und definiert.
Welche Gefühle, welche Reaktionen, stellen sich bei den Leser*innen ein? Aristoteles führt in der Poetik aus, welche Eigenschaften eine Erzählung enthalten muss, damit sich das angemessene, charakteristische Vergnügen, die oikeia hedone, entfalten kann, die er so sehr schätzt: Mitleid (eleos) mit den Figuren, die unverschuldet Unglück erdulden, Furcht (phobos), dass es ihnen früher oder später genauso oder so ähnlich ergehen kann, und am wichtigsten, die psychische Reinigung, die Abfuhr belastender Affekte (kátharsis), die zur Reflexion und Annahme der eigenen Situation führt. Ich finde, Megan Lindholms Kurzgeschichte Neighbors wird den Anforderungen, die Aristoteles an eine gelungene Erzählung stellt, mehr als gerecht, da sie ihre Leser*innen mit den Unwägbarkeiten konfrontiert, die jedes Leben ausmachen, die Herausforderung, wie Linda und Sarah, sich für oder gegen etwas zu entscheiden: für eine enttäuschende Wirklichkeit oder für die Hoffnung, dass ein Schritt, auch wenn er in eine unbekannte, parallele Realität führt, das Leben bessert.

17 Mendlesohn, Rhetorics, Ebook, 2008, Pos. 4136-5445.
18 Mendlesohn, Rhetorics, Ebook, 2008, Pos. 4492.
19 Megan Lindholm, Wizard of the Pigeons, London, 2002 [1986].

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