Robin Hobbs Novelle Homecoming, Teil Eins
Some spirit of the Rain Wilds whispered to me,
»Try to master it and it will engulf you.
Become a part of it, and live.«
Lady Carillions Tagebuch
Vorbemerkung
Es war einmal in einem Reich, in dem Drachen und Menschen zum gegenseitigen Nutzen friedlich zusammenlebten. Drachen-Essenz hatte sich mit der Natur des Menschen vermischt. Aus dieser zufälligen Mischung waren die Altvorderen hervorgegangen. Sie waren groß und schlank gewesen, drachenäugig und mit goldenem Haar. Diese uralte Rasse hatte mit den Drachen zusammengelebt und sich in dieser Symbiose gesonnt.1
Das Reich der Altvorderen (Elderlings) war schon lange untergegangen als Verbannte und Kriminelle aus Jamaillia-Stadt die Ruinen dieser alten Kultur wiederentdeckten, sie plünderten und zerstörten. Robin Hobbs Novelle Homecoming erzählt von diesen Pionieren, der Entdeckung einer versunkenen Stadt und den Konsequenten, die daraus entstehen. Sie überliefert in Form eines Tagebuchs einige Monate aus dem entbehrungsreichen Leben der jamailliaischen Adeligen Lady Carillion Waljin Carrock in der Regenwildnis. Die Erzählung ist nicht nur ein vielleicht verloren gegangenes, und Jahre später wiedergefundenes Tagebuch. Sie bietet auch eine unterhaltsame, spannende Lektüre der Schemaliteratur, die eine wichtige Funktion in Robin Hobbs mehrere tausend Seiten umfassende Serie The Realm of the Elderlings spielt. Sie gehört nämlich
- zur Geschichte hinter der Geschichte der Serie,
- ist im Kern feministische Literatur und
- überbrückt die durch die Tawny Man Trilogy entstandene Unterbrechung zwischen den Romanen der Liveship Traders Trilogy und der Rain Wild Chronicle.
1 Robin Hobb, Die vergessene Stadt, Die Zauberschiffe, Bd.5, München, 2001:221. Im Kern ist Robin Hobbs Elderlings-Serie eine fiktionale Geschichte von der Rückkehr der Drachen in die Welt der Menschen. In einer fernen Epoche fielen sie zusammen mit Kultur der Elderlings, die mit ihnen in friedlicher Koexistenz lebten, einem Kataklysmus zum Opfer, der die morphologische Gestalt der Welt nachhaltig veränderte. Nachdem synthetische Drachen, gefertigt aus Erinnerungsstein, zum ersten Mal in der Farseer-Trilogy aufgetreten sind, widmet sich Robin Hobb dem Drachen-Thema als Hintergrund ihrer Elderlings-Serie seit der Liveship Traders Trilogy ausführlicher. Robin Hobbs Homecoming ist Teil eines Zyklus` von Kurzgeschichten, Novellen und Romanen, die die Autorin über mehr als zwanzig Jahre fortgesetzt und erst 2017 mit der Kurzgeschichte My Father`s Sword für abgeschlossen erklärte.
Drachen beschäftigen von jeher die Fantasie der Menschen und spielten eine Rolle in allen indoeuropäischen Überlieferungen, wie beispielsweise das altenglische Epos Beowulf oder das auf altmodischen Quellen basierende, mittelalterliche Nibelungenlied. Auch Perseus, Herakles und Indra sind Drachenröter, nicht zu vergessen der Kampf von Thor mit der Midgardschlange. Heutzutage überleben Drachen in den Erzählungen der Fantasy, von J.R.R. Tolkiens Drache Smaug bis zu den mächtigen Drachenreitern der Targaryen in George R.R. Martins epischer Welt. Immer sind Drachen von Magie umgeben oder sie hüten eifersüchtig ihre Schätze. Dass ist auch in Robin Hobbs Serie The Realm of the Elderlings nicht anders, doch ihre Drachen unterscheiden sich erheblich von den Drachen der Mythologie: sie leben mit den Menschen in friedlicher Koexistenz und beide Kulturen profitieren voneinander. Drachen und Menschen repräsentieren im Werk der Autorin zwei unterschiedliche Kulturen als Instrument ihrer prominenten Themen: gegenseitige Toleranz und akzeptierte Diversität als Voraussetzung für Gleichberechtigung und Frieden.
Einleitung
Das erzählerische Werk der US-amerikanischen Autorin Margaret Astrid Lindholm Ogden bietet ihren Leser*innen seit zwanzig Jahren die oikeia hedone, das gemäße, charakteristische Vergnügen, das der Kanon der aristotelischen Poetik von einer guten Erzählung verlangt. Bahnbrechend ist ihr von Kritikern als frühe Urban Fantasy gefeiertes Debut als Megan Lindholm - Wizard of the Pigeons - das Farah Mendlesohn in ihrer Studie Rhetoric of Fantasy als exemplarisches Beispiel einer liminal fantasy vorstellt.2 Als Robin Hobb, unter ihrem zweiten, androgynen Pseudonym, schrieb sie ihr Hauptwerk, die Serie The Realm of the Elderlings, drei Trilogien und eine Tetralogie sowie zwei Novellen und mehrere Kurzgeschichten.3 In den kürzeren Erzähltexten dieser umfangreichen Serie werden weibliche Protagonistinnen mit Konflikten konfrontiert, die ihre Identität herausfordern, sie erschüttern, stabilisieren oder verändern. Die Figuren sind so lange Schwellenwesen, between and betwixt, wie der britische Ethnologe Victor Turner es einst nannte, bis sie durch die Lösung der sie konfrontierenden Konflikte Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein gewonnen haben.4
Mit ihrer Novelle Homecoming kehrt Robin Hobb in die Zeit vor die Ereignisse der Liveship Traders Trilogy zurück. Der chronologische Kontext von Lady Carillions Tagebuch fügt sich in ihre Elderlings-Serie ein.5 Das Geschehen, das sie schildert, ist durch kalendarische Daten eindeutig fixiert, da der temporäre Rahmen der Novelle sich innerhalb des sorgfältig geführten Tagebuchs bewegt: Die erzählte Zeit von Homecoming beginnt (7. Tag Fischmonat) im 14. Jahr der Satrapie des Esclepius. Generationen vergehen, bevor sie im Geschehen der Liveship Traders Trilogy eine Fortsetzung findet. Die Ereignisse dieser Trilogie rahmen keine absolute Chronologie; sie ereignen sich irgendwann in den ersten Jahren der Satrapie Cosgos, einer Figur der erzählten Welt. Fortgesetzt wird das Geschehen in der Tetralogie Rain Wild Chronicle nur wenige Jahre später. Die Ereignisse der erzählten Zeit der Regenwildnis-Chronik beginnen im 6. Jahr der Satrapie Cosgos. Figuren der erzählten Welt der Liveship Traders Trilogy, Selden und Malta Vestrit, Reyn Khuprus oder der Bingtown-Händler Devouchet, sind als Nebenfiguren an den Ereignissen beteiligt.6 Durch die Regentschaft der beiden Satrapen, die anscheinend Generationen auseinanderliegt, ist gesichert, dass das Geschehen von Homecoming vor den Ereignissen in der Liveship Traders Trilogy und der Rain Wild Chronicle stattgefunden hat, und zwar über mehrere Monate hinweg. Gerechnet wird in Homecoming und der Rain Wild Chronicle-Serie in Monaten, deren Namen sich am wirtschaftlichen Zyklus orientieren: Fish Moon, Plow Moon, Greening Moon, Grain Moon und Prayer Moon, bis Lady Carillion, letztlich die an ihrer jamaillianischen Heimat orientierte Datierung aufgibt und sie an ihre neue Lebenswelt anpasst: zuerst noch in Monaten wie Gold Moon, bis sie schließlich mit Year One of the Rain Wilds eine neue Zeitrechnung einführt.7 Die zu Beginn noch absolute Chronologie des Tagebuchs von Homecoming wird durch die verwirrenden Ereignisse, denen die Figuren ausgesetzt sind, gegen Ende der Erzählung immer relativer (Afternoon, Later, I think Year One of the Rain Wilds). Die Zeitrechnung gewinnt in diesem Moment eine neue Dimension: Sie spiegelt nicht nur die Auflösung der alten sozialen Ordnung, sondern legt gleichzeitig Zeugnis von der psychischen Zerrüttung der Tagebuchführerin ab. Während die erzählte Zeit in der Liveship Traders Trilogy unbestimmbar ist, und nur der Satrap Cosgo die zeitliche Referenz ist, wird sie in Rain Wild Chronicle, ähnlich wie in Homecoming, kalendarisch chronologisch angegeben.
Im Unterschied zu einem Roman versteht die Literaturwissenschaft unter einer Novelle eine kürzere Erzählung, die, wie der Roman, einen Konflikt zwischen zwei Polen, Chaos und Ordnung, thematisiert. In Homecoming bilden das Überleben in der Regenwildnis (Rain Wild) sowie die Anpassung der Hauptfigur Lady Carillion Waljin Carrock an ihre neue Umwelt den ökologischen Pol, ihre Arroganz sowie schließlich ihre Bereitschaft, sich auf einen tiefgreifenden, psychischen Veränderungsprozess einzulassen, den psychologischen Pol der Erzählung. Homecoming präsentiert sich als abgeschlossene Form, die einen erkennbaren Anfang (Exil und Ankunft in der Regenwildnis) und ein, wenn auch offenes Ende hat, dem nichts mehr folgt (Neuanfang der Exilanten).
Anders als ein Roman soll eine Novelle eine mittlere Länge besitzen, sodass man sie in einem Zug lesen kann. Die Unterscheidung zwischen den beiden Erzählgattungen aufgrund ihrer Länge erscheint künstlich, wohl aus der Not geboren. Man hat sich schlicht geeinigt, dass eine Novelle erkennbar kürzer sein muss als ein Roman. Mit über sechzig Seiten trifft dieses Kriterium auf den Erzähltext Homecoming zu, der mehr Handlung und Charakterentwicklung aufweist, als es einer Kurzgeschichte möglich ist. Außerdem ist Homecoming eng an einen Kontext gebunden, wie ihn die umfangreiche Serie The Realm of the Elderlings darstellt.
Die Definition einer narrativen Gattung aufgrund eines einzigen, dazu noch quantitativen Merkmals ist unzureichend. Um den Charakter einer Novelle nachhaltiger zu beschreiben, sind weitere Kriterien erforderlich: Novellen thematisieren ein singuläres Geschehen, im Gegensatz zu Romanen, deren Geschehen auf mehrere Handlungsstränge aufgeteilt werden kann. In Homecoming ist dies die Gründung einer Kolonie in einem unerforschten Dschungel, an nur einem einzigen Ort innerhalb einer begrenzten Zeit (die geforderte Singularität). Die Handlungsstruktur der Novelle ist vielschichtiger als die der Kurzgeschichte. Homecoming verfügt über ein hohes, verdichtetes Erzähltempo, was die Konzentration auf die Ereignisse fördert und eine ereignisreiche Handlung und überraschende Wendungen (peripeteia) in der Entwicklung der Hauptfigur Lady Carillion ermöglicht. In Homecoming tritt diese Wende in ihrer persönlichen Entwicklung ein, als sie sich allmählich an die Bedingungen in der Regenwildnis anpasst, diese akzeptiert und sich einem persönlichen Transformationsprozess öffnet. Eine solche komplexe Entwicklung benötigt mehr Raum, als eine Kurzgeschichte bietet. Eine Novelle schildert ein singuläres Ereignis ausführlicher, während die Kurzgeschichte sich eher mit einer kurzen Episode begnügt.
In Homecoming durchläuft Lady Carillion eine deutlich wahrnehmbare Entwicklung, von einer privilegierten und arroganten Adligen zu einer reflektierten und reifen Persönlichkeit (Figurenentwicklung). In allen narrativen Erzähltexten beruht das Geschehen auf solchen Grundkonflikten, die in der Novelle aber ohne Nebenhandlungen auskommen. Für eine Novelle ist diese tiefgreifende Charakterentwicklung der Figuren charakteristisch. Sie bietet genug Raum, um solche Veränderungen detailliert zu schildern. Eine Novelle wie Homecoming ermöglicht es, die inneren Konflikte der Hauptfigur umfassender darzustellen als es eine Kurzgeschichte kann. Die Autorin kann in dieser Erzählgattung ihre Themen komplexer behandeln als in einer Kurzgeschichte, wie die psychologische Entwicklung von Lady Carillion und ihre Reaktion auf die schockierenden Umstände der Regenwildnis. In Homecoming setzt sie sich mit Themen wie Verlust, Anpassung, Transformation und den Herausforderungen des Überlebens auseinander. Eine Novelle besitzt, anders als die narrative Verdichtung einer Kurzgeschichte, einen ausreichenden Umfang, um eine größere Themenkomplexität ausführlich zu behandeln. Auch symbolische und allegorische Elemente, wie die Reise in die Regenwildnis, die die innere Entwicklung der Hauptfigur reflektiert, sind in Novellen eher zu finden als in Kurzgeschichten.
Die Entscheidung, warum Robin Hobb für ihre Erzählung Homecoming eine Novelle gewählt hat, hängt mit der spezifischen Erzählform zusammen, in der sie das Geschehen präsentiert. Homecoming ist nicht nur eine Ich-Erzählung, sondern wird in Form eines Tagebuchs erzählt, was eine kontinuierliche und intime Erzählweise erfordert. Die Tagebuchform ist zwar auch in Kurzgeschichten möglich, kann dort aber nicht die Tiefe und Ausführlichkeit entfalten, wie in einer Novelle, die detaillierter und ausgefeilter erzählen und sich stilistischer Finessen bedienen kann, was weit über den Rahmen einer Kurzgeschichte hinausgeht.
2 Megan Lindholm, Wizards of Pigeons, London, 2020 [1986]; Farah Mendlesohn, Rhetorics of Fantasy, Weslayan University Press, Ebook, Middletown, 2008.
3 Robin Hobbs Serie The Realm of the Elderlings besteht aus drei Trilogien, einer Tetralogie, zwei Novellen und fünf Kurzgeschichten. Die Erzähltexte der Elderlings-Serie in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung: Farseer-Trilogy, 3 Vols., 1995-1997; Liveship Traders Trilogy, 3 Vols., 1998-2000; die Kurzgeschichte The Inheritance, 2000; Tawny Man Trilogy, 3 Vols., 2001-2003; die Novelle Homecoming, 2003; die Kurzgeschichte Word's Like Coins 2009; Rain Wild Chronicle, 4 Vols., 2009-2013; die Kurzgeschichten Blue Boots und The Triumph, 2010; die Novelle The Wilful Princess and the Piebald Prince, 2013; Fitz and the Fool Trilogy, 3 Vols., 2014-2017; die Kurzgeschichte My Father`s Sword, 2017. Für eine ausführliche Auflistung s.a. das Wikipedia-Lemma Robin Hobb bibliography.
4 Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., 1989.
5 Robin Hobb, Homecoming, in: Robert Silverberg, Legends, New Short Novels by the Masters of Modern Fantasy, 2003.
6 Die unterschiedliche Behandlung der Chronologie in den drei Erzähltexten hängt mit der Textsorte zusammen. Für ein Tagebuch (Homecoming) und eine Chronik (Rain Wild Chronicle) ist eine Datierung obligatorisch, für einen Roman ist die höchstens fakultativ.
7 Die gleiche Zeitrechnung verwendet Robin Hobb auch für ihre Tetralogie; vgl. Drachenhüter, Bd. 1 der deutschen Ausgabe der Rain Wild Chronicle: 6. Jahr Cosgo, Pflugmond; 7. Jahr Cosgo: Hoffnungsmond, Fischmond, Keimmond, Zuchtmond; 8. Jahr Cosgo: Regenmond; 9. Jahr Cosgo: Fischmond. In diesem Roman wechselt sie aus sozialen Gründen im vierten Kapitel die Chronologie, denn der Kalender, die erzählte Zeit, wird jetzt vom Bestehen des Unabhängigen Händlerbunds angeführt, ohne allerdings die Namen der Monate zu verändern.
Synopsis der Novelle Homecoming
Die Novelle Homecoming beschreibt das Schicksal einer Gruppe von Exilanten aus Jamaillia-Stadt, dem urbanen Mittelpunkt der Elderlings-Serie. Lady Carillion Waljin Carrock, eine Adlige aus der Hauptstadt und Hauptfigur der Erzählung, muss zusammen mit ihren beiden Kindern und ihrem Ehemann, der an einer Intrige gegen den Satrapen Esclepius beteiligt war, ihre Heimat verlassen. Ihre Chance auf Rehabilitation bekommen sie durch einen Befehl des Satrapen: Sie sollen in der unerforschten und unerschlossenen Regenwildnis, über die es nur Informationen in einigen alten Dokumenten gibt, siedeln und eine Kolonie gründen, um die dort vermuteten Ressourcen auszubeuten.
Lady Carillion ist eine stolze und hochmütige Frau, die die anderen Verbannten dünkelhaft betrachtet und im Stillen verachtet. Ihr einziges Bestreben besteht darin, ihren luxuriösen Lebensstil nicht aufzugeben, und sich in der Regenwildnis komfortabel einzurichten. Doch die Regenwildnis ist ein feuchtes und menschenfeindliches Land, das nichts mit dem üppigen und kultivierten Jamaillia gemein hat, an das sie gewöhnt ist. Lady Carillion ist zutiefst schockiert über die geografischen Bedingungen: Das Land ist sumpfig, von dichten Wäldern bedeckt und strotzt vor unbekannten Gefahren. Zu ihrem Ärger sind die Siedler schlecht darauf vorbereitet, in diesem Biotop und unter diesen Bedingungen ihre neue Heimat aufzubauen. Alle sind von den harten Bedingungen überfordert, und der Regenwildnis hilflos ausgeliefert. Rudimentär beginnen die Kolonisten, unter ihnen Lady Carillion und ihr Ehemann, sich in der unwirtlichen Umgebung zu behaupten, doch sie erkennen schnell, dass das Land nicht besiedelbar ist. Krankheiten, Insektenplagen, ein Fluss mit säurehaltigem Wasser und die ständige Feuchtigkeit setzen ihnen schwer zu. Das Essen wird knapp, und die sozialen Unterschiede, die sie aus Jamaillia-Stadt mitgebracht haben, beginnen sich aufzulösen. Das Überleben in der Wildnis löscht alle sozialen Statusunterschiede aus. Neue Hierarchien etablieren sich mit neuen Machtstrukturen, in denen nicht ihr adeliger Stand, sondern das Faustrecht des Stärkeren zählt. Unter den Siedlern entbrennt ein verbitterter Survival of the Fittest, dem sich Lady Carillion allein stellen muss, während ihr Mann sich einer Gruppe von Siedlern anschließt, die weiter in die Wildnis vordringen. Inzwischen entdecken zwei Jugendliche in den Ruinen einer versunkenen Stadt die Überreste einer geheimnisvollen Zivilisation. Die Ruinen dieser Stadt sind aus einem unbekannten, schwarzen Gestein erbaut, der mit einem seltsamen, leuchtenden Stoff überzogen ist. Bei den Menschen, die ihn berühren, bewirkt er psychische Veränderungen, Halluzinationen und irritierende Träume von Menschen und Situationen, die aus einer anderen Zeit stammen. Einige Kolonisten beginnen, sich physisch zu verändern – ihre Haut wird härter und schuppig, ihre Sinne schärfer. Lady Carillion beobachtet diese Veränderungen mit wachsendem Unbehagen.
Die Lebensbedingungen der Siedler verschlechtern sich schleichend. Die anfängliche Hoffnung auf eine neue, wohlhabende Kolonie schwindet, und die Menschen werden zunehmend verzweifelter. Die Veränderungen durch den Kontakt mit der Regenwildnis führen zu einer völligen Auflösung der sozialen Strukturen. Nur wenige der Kolonisten sind bereit, wie Lady Carillion, sich an die neue Umgebung anzupassen und die Veränderungen zu akzeptieren. Die meisten Siedler versinken in Selbstmitleid, fantasieren passiv von einer Rettung von außen, und klammern sich an ihre alte Identität. Der Wendepunkt der Novelle, der plötzliche Umschwung der aristotelischen Peripeteia, bricht in dem Moment über die Siedlung und Lady Carillion herein, als sich die Nachrichten von sagenhaften Schätzen in der versunkenen Stadt verbreiten. Das Tagebuch der Lady Carillion schließt mit einem offenen Ende, es gibt kein Happy Ending, mit einem Cliffhanger. Vom weiteren Schicksal der Kolonisten erfahren die Leser*innen in Robin Hobbs Serien, in der Liveship Traders Trilogie und in den Rain Wild Chronicle, deren Geschehen sich Generationen später ereignet.
Lady Carillions Tagebuch
Tagebücher sind intime Dokumente, die für den eigenen Gebrauch geschrieben werden und nicht für fremde Leser*innen bestimmt sind. Es ist nicht überliefert, und auch nirgendwo aufgeschrieben, dass das Tagebuch der adeligen Lady Carillion Walijn Carrock für eine Veröffentlichung geschrieben worden ist. Wenn die Leser*innen bei der Lektüre ihres Tagebuchs auch das Gefühle haben, in einen privaten Raum einzudringen, so schafft die Intimität der Bekenntnisse der Lady Carilion sowie ihre Offenheit doch eine ganz besondere Verbindung zu ihrem Publikum. Lady Carillions Tagebuch belegt den dynamischen Entwicklungsprozess einer persönlichen Krise, die Veränderungen ihrer Gedanken, Gefühle und Einstellungen, ausgehend von ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung bei ihrer Ankunft in der Regenwildnis bis hin zu ihrer erstaunlichen Charakterentwicklung und Transformation, die ihr ein Überleben ermöglicht.
Das Tagebuch ist eine Form der Ich-Erzählung, die spezifische narrative Eigenschaften aufweist. Lady Carillions Tagebuch besitzt eine episodische Struktur und ist in chronologische Einträge unterteilt, die jeweils einen bestimmten Tag abdecken. Allerdings variiert die zeitliche Distanz. Manche Einträge beschreiben das Geschehen des vergangenen Tages, die auch Rückblicke auf länger zurückliegende Erlebnisse enthalten. Diese episodische Struktur führt zu einer fragmentierten Erzählweise, in die sie das Geschehen in der Regenwildnis in separaten, unverbundenen Abschnitten präsentiert. Ihre Tagebucheintragungen folgen oft keiner geregelten narrativen Struktur, wirken daher sprunghaft und unzusammenhängend. Sie schildert das Geschehen nicht immer vollständig, sondern lückenhaft, und es gibt keine durchgehende, lineare Handlung. Dies erhöht zwar die Authentizität des Erzählten, erschwert aber eine klare narrative Linie. Lady Carillion verfasst ihre Tagebuchaufzeichnungen meistens unmittelbar nach dem Erlebten, sodass diese wie unverfälschte Darstellung wirken, was ihrer Erzählung eine hohe Authentizität und Spontaneität verleiht, in der sie ihre Gedanken und Gefühle unzensiert ausdrückt. In ihren Notizen nehmen innere Monologe und Reflexionen breiten Raum ein, und es scheint, als äußere sie ihre Empfindungen über das Erlebte ungefiltert, was tiefere Einblicke in ihre psychische Befindlichkeit und inneren Konflikte erlaubt. Die persönliche und emotionale Natur ihrer Einträge führt zu subjektiven, und auch unzuverlässigen Bewertungen, weil sie von ihren aktuellen Stimmungen, Vorurteilen und Erinnerungsverzerrungen beeinflusst sind.
Unter einer Ich-Erzählung versteht die Erzähltextanalyse eine Erzählform, in der das Geschehen ausschließlich aus der Sicht (point of view) einer Hauptfigur erzählt wird. In Robin Hobbs Novelle Homecoming ist Lady Carillion Waljin Carrock diese Ich-Erzählerin, die in der ersten Person Singular (Ich) spricht und gleichzeitig eine Figur der erzählten Welt ist. Diese Erzählperspektive macht das Tagebuch zu einer bevorzugten Erzählform der Ich-Erzählung. Das besondere Merkmal der Ich-Erzählung ist die Subjektivität des Erzähltextes. Das erlebende Ich durchlebt die Ereignisse in Echtzeit, weshalb es nur begrenzten Zugang zu korrigierenden Informationen hat. Es kennt die zukünftigen Entwicklungen nicht und kann Ereignisse nur aus der Perspektive des Augenblicks bewerten (eingeschränkte Erzählperspektive). Die Novelle Homecoming wird narrativ durch Lady Carillions eng begrenzten Blickwinkel charakterisiert, den fließenden Grenze zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Realität sowie durch die ungefilterten Darstellungen und intimen Reflexionen, die ihre innere Entwicklung unmittelbar ausdrücken. Lady Carillion ist eine talentierte Ich-Erzählerin, die ihr Tagebuch vollständig aus der Perspektive des erlebenden Ich schreibt (Unmittelbarkeit und Präsenz). Für sie existiert keine zeitliche Distanz zu den Ereignissen, die sie notiert, alles wird aus der Perspektive des »Jetzt« geschildert, und so werden Erzählzeit und erzählte Zeit identisch (zeitliche Nähe). Obwohl die Ich-Erzählerin von Homecoming in der Regenwildnis nicht allein um ihr Überleben kämpft, gibt sie den anderen Figuren nur in der indirekten Figurenrede eine Stimme, obwohl sie dies durchaus in direkter Figurenrede tun könnte. Die Leser*innen erfolgen und erleben das Geschehen in der Kolonie eindimensional, nur durch ihre Perspektive vermittelt. In der Bewertung der Vorgänge in der Regenwildnis sind sie von Beginn an völlig von Lady Carillions Perspektive abhängig. Erschwerend kommt hinzu, dass ihr Tagebuch spontan aus der aktuellen Betroffenheit heraus entsteht, sodass ihr keine zeitliche Distanz für die Reflektion zur Verfügung steht. Eine narrative Ich-Spaltung in erlebendes und erzählendes Ich gibt es in ihrem Tagebuch nicht, und deshalb gibt es auch eine retrospektiv kommentierende und bewertende Erzählinstanz.
Lady Carillions einsames, erlebendes Ich entspricht ihrer sozialen Position in der Kolonie in der Regenwildnis. Sie gehört dem Adel von Jamaillia-Stadt an und lebt nun unter Menschen weit unterhalb ihrer sozialen Schicht. Von ihrem Ehemann verlassen, von ihren Leidensgenoss*innen verachtet, ist sie isoliert und auf sich selbst gestellt. Während der Ereignisse, die sie erzählt, geht sie ganz in der Rolle der handelnden und wahrnehmenden Figur auf, eine Strategie, die sie in ihrer ausweglosen Situation psychisch entlastet, ihr durchzuhalten hilft und ihr existenzielles Überleben sichert. Ihre prekären, katastrophalen Lebensbedingungen verstricken sie mental und emotional distanzlos in das Geschehen. Ihre Notizen quellen über von Schilderungen ihrer zwischen Hoffnung und Pessimismus schwankenden Stimmungen und ihrer meist desolaten Gemütslage, die von Ängsten, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit geprägt ist (hohes, emotionales Erregungsniveau). Es ist diese Version ihres erlebenden Ichs, dass das Geschehen in der Regenwildnis aus der unmittelbaren subjektiven Perspektive erlebt, und es den Leser*innen so eindringlich präsentiert, die nicht daran vorbeikommen, sich mit ihrer prekären Lage in Mitleid und Furcht zu identifizieren.
Die Ich-Erzählerin Lady Carillion Waljin Carrock
Ob beabsichtigt oder weil die Vita der Heroen der Mythologien und Literaturen westlicher Kulturen ohnehin archetypisch konzipiert ist, ähneln Robin Hobbs Figuren den Held*innen der großen europäischen Tragödien.8 Zurecht vergleicht Amanda Craig FitzChavaltic Weitsehers Persönlichkeit mit der Hamlets, nennt ihn self-critical, passionate, sardonic and naïve, Fitz is a Royal bastard, telepathically linked to a wolf, half in love with his friend the androgynous Fool, and embroiled in an aristocratic world as violently political as Elsinore.9 Auch Lady Carillion Waljin Carrock, die Heldin in Robin Hobbs Novelle Homecoming, gehört zu diesen von den Umständen, in die sie unverschuldet geraten sind, herausgeforderten Figuren, ist Ihre Verwandtschaft mit Christa Wolfs Novelle Kassandra doch nicht zu übersehen.10 Homecoming ist die Geschichte einer Außenseiterin, einer freigeistigen Künstlerin, die doch in Unselbständigkeit an die gesellschaftlichen Konventionen der adeligen Elite Jamaillias gefesselt ist, einem Staat, der sich zu einem ausgeprägten Patriarchat entwickelt hat, in dem die Männer in allen gesellschaftlichen Bereichen dominieren. Die Frauen sind ihren Ehemännern untergeordnet und aus allen Entscheidungsprozessen herausgedrängt. Homecoming erzählt die Geschichte einer Frau, die zum Objekt gemacht wurde. Sozial gebunden an die herrschende Oberschicht, emotional gefesselt an ihren Ehemann, an die Geschichte und Gegenwart des jamaillianischen Adel, erlebt Lady Carillion einen schwierigen, langwierigen Prozess der Loslösung. In der Regenwildnis entfaltet sie ihr Potenzial, entscheidet sich für ihre Autonomie und damit für ihre soziale Verantwortung, opfert sich für ihre Gruppe auf, obwohl diese es weder wertschätzen noch sie in ihrem Autonomiestreben ernst nehmen. Homecoming ist, wie Robin Hobbs Kurzprosa insgesamt, eine Erzählung mit deutlich feministischen Tendenzen.
Eine Ich-Erzählerin wie Lady Carillion wird in der narratologischen Analyse als autodiegetische Erzählerin bezeichnet, ein Terminus, der sich auf ihre intime Beziehung zu den von ihr erzählten Ereignissen in der Regenwildnis bezieht. Autodiegetische Erzähler*innen sind eine spezielle Form homodiegetischer Erzähler*innen, die nicht nur Teil der erzählten Welt (Diegese) sind, sondern auch die Hauptfigur in der Erzählung. Sie erzählt ihre eigene Geschichte, und beschreibt ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen (Erzählerstatus).11 Indem sie Tagebuch führt, bleibt ihr keine andere Möglichkeit als aus der eigenen Perspektive zu erzählen. Als Erzählerin ist sie unmittelbar in die Handlung eingebunden, das heißt: Ihre Persönlichkeit bildet den Nexus des Geschehens, denn sie ist es selbst, die erlebt, was sie erzählt, und das macht sie zur Figur innerhalb der erzählten Welt (subjektive Perspektive). Aus diesem Grund erhalten die Leser*innen nur die Informationen über das Geschehen, das die Erzählerin selbst erlebt und bewertet hat. Die Interpretation des Wissens und der Wahrnehmungen der autodiegetischen Erzählerin ist stark von ihrer Persönlichkeit und ihrer emotionalen Betroffenheit geprägt. In ihrer Rolle als Tagebuchautorin führt sie die Leser*innen nicht nur durch das äußere Geschehen, sondern auch durch ihre eigenen Gefühle, Gedanken und Erlebnisse. Als autodiegetische Erzählerin basiert ihre Erzählung auf ihrer persönlichen, subjektiven Wahrnehmung der Ereignisse in ihrer Umgebung, sodass die Leser*innen unmittelbar an ihrem psychischen Prozess beteiligt werden (Selbstwahrnehmung und eigene Erfahrung).
Die Ich-Erzählerin Lady Carillion eröffnet den Leser*innen ihres Tagebuchs einen intimen Zugang zu ihren Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen, während die Wahrnehmung anderer Figuren nicht unmittelbar zugänglich, sondern von ihren Interpretationen und eigenen Gedanken getönt ist (Unmittelbarkeit und Nähe). Die Erzählperspektive des Tagebuchs ist durchgängig auf Lady Carillions Wissen und Wahrnehmungen beschränkt (interne Fokalisierung). Diese Perspektive schafft zwar eine besondere Nähe zwischen Leserschaft und Erzählerin, da sie unmittelbar in die Gedanken- und Gefühlswelt der Lady Carillion eintauchen können, sie bedeutet aber auch, dass die Leserschaft nur das erfährt, was die Erzählerin weiß, wahrnimmt und erlebt. Diese intern-fokalisierte Perspektive fördert ein hohes Maß an Empathie und emotionaler Bindung, ist allerdings auch der Einschränkung einer subjektiven und einseitigen Sichtweise auf das Geschehen unterworfen. Der Sachverhalt einer subjektiven Erzählperspektive führt zu der Frage nach der Zuverlässigkeit der Erzählerin Lady Carillion, denn als Ich-Erzählerin kann sie durchaus unzuverlässig sein, und die Wahrheit verzerren, absichtlich oder unbewusst das Geschehen falsch interpretieren oder aufgrund ihrer eigenen Vorurteile und emotionalen Zustände irreführend berichten (Zuverlässigkeit des Erzählers). Die potenzielle Unzuverlässigkeit der Lady Carillion liegt nicht in ihrer alleinigen Verantwortung, sondern ist auch der Erzählform des Tagebuchs geschuldet. Als Ich-Erzählerin besitzt sie nicht den Überblick einer auktorialen Erzählinstanz, denn sie hat nur Zugriff auf die Ereignisse, die sie selbst erlebt oder wahrgenommen hat. Dass dies den Umfang des wirklichen Geschehens einschränkt, ist nicht nur ein Nachteil, denn nur zu wissen und wahrzunehmen, was die Erzählerin weiß und wahrnimmt, erhöht auch die Spannung und die emotionale Identifikation mit der Hauptfigur (begrenzte Kenntnis des Geschehens).
Die Tagebuchform der Novelle Homecoming führt dazu, dass der Unterschied zwischen Erzählerrede und Figurenrede verschwimmt. In der Erzählung übernimmt Lady Carillion beide Arten der narrativen Rede selbst. In der Erzählerrede notiert sie ihre Beschreibungen, Reflexionen und Kommentare des Geschehens, vollständig in der Ich-Form gehalten, sodass die unmittelbare, subjektive Perspektive bewahrt bleibt: I visited Marthi again. She has grown paler and is now afflicted with the rash. Her skin is as dry as a lizard’s. She is miserable with her heaviness. She speaks wildly of her husband finding immense wealth and how she will flaunt it to those who banished us. She fantasizes that as soon as the message bird reaches Jamaillia, the Satrap will send a swift ship to fetch us all back to Jamaillia, where her child will be born into plenty and safety. Die Figurenrede erscheint dagegen in direkter und indirekter Rede, aber auch in Form der erlebten Rede, wenn Lady Carillion Dialoge wiedergibt oder die Gedanken anderer Figuren beschreibt, wieder mit der Einschränkung, dass alles durch ihre subjektive Perspektive gefiltert wird. Um eine direkte Figurenrede handelt es sich, wenn Lady Carillion Dialoge zwischen sich und anderen Kolonisten zitiert, und die direkte Rede verwendet: »If we’re going to go, we must go now,« Retyo added. He did not need to say, before it’s too late. We were all thinking it.«, und sie konnte, fährt sie fort, den Zweifel in seiner Stimme hören. Anders die indirekte Figurenrede in der Lady Carillion beispielsweise berichtet, was jemand gesagt hat, ohne den Sprecher wörtlich zu zitieren: I asked him. All? And he said it was done to save the Carrock name, so that his parents and younger brother can live with dignity, untarnished by the scandal. In einem anderen Beispiel kombiniert direkte und indirekte Figurenrede: Jathan declared, as if to take the credit from me, and so I reminded him, »I have a name of my own. I was Carillion Waljin long before I was Lady Carrock! Some of my best-known pieces as an artist, Suspended Basins and Floating Lanterns, required just such a knowledge of balance and support!« Wenn Lady Carillion in ihrem Tagebuch die Gedanken und Gefühle anderer Figuren beschreibt, gibt sie diese als erlebte Rede aus ihrer eigenen Perspektive wieder: He seemed shamed to admit his fear, but I was relieved to hear one of us speak it aloud. Then Chellia cried that we could not leave Olpey here, to fall under whatever enchantment had seized Carlmin. Die narrative Form der Rede in Homecoming ermöglicht einen sehr persönlichen Sprachstil, mit einem Wortschatz und einer Ausdrucksweise, die von der schwierigen Situation der Erzählerin geprägt ist (Erzählhaltung und Stimme), eine Strategie, die ebenfalls die Authentizität und das personale Profil der Erzählung verstärkt.
In Homecoming verwendet Robin Hobb eine Ich-Erzählinstanz mit interner Fokalisierung, wodurch sie eine intime und subjektive Erzählung schafft, die den Leser*innen ungebremst in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Hauptfigur untertauchen lässt. Die Kombination von Erzähler- und Figurenrede innerhalb der Tagebuchform verstärkt den persönlichen Charakter der Erzählung und erlaubt es ihr, die Transformation und Entwicklung der Erzählerin auf eine sehr persönliche und unmittelbare Weise darzustellen. Die narrative Struktur unterstreicht die Themen von Isolation, persönlicher Transformation und den Herausforderungen der Anpassung an eine neue, fremde Welt, die in der Geschichte zentral sind. Durch die subjektive Perspektive erleben die Leser die psychologischen Veränderungen von Lady Carillion hautnah mit und werden in die düstere und mysteriöse Atmosphäre des Regenwildlands hineingezogen.
8 Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Fankfurt a.M., 1999. Es ist nicht schwer, in Robin Hobbs Werk, wie im Übrigen auch in den meisten Erzähltexten der epischen Fantasy, die Handlungsstruktur zu erkennen, die Joseph Campbell Monomythos genannt hat. Betrachtet man diesen Mythos genauer, den Campbell zurecht für universell gehalten hat, dann zeigt sich eine zweite, eher latente Struktur, die Campbells Monomythos in die drei Phasen gliedert, die Arnold van Gennep als Rite de Passage beschrieben hat. Beides, Campbells Heldenreise sowie Victor Turners rituelle Struktur, bilden auch das narrative Gerüst in Robin Hobbs Erzähltexten, ihren Romanen wie ihrer Kurzprosa. Auch in Homecoming unterzieht sich Lady Carillion, wenn auch unbewusst und ungeplant, einer Rite de Passage, und stellt sich Konflikten, die ihre Persönlichkeit reifen lässt und verändert. Die lebensfeindliche und isolierte Regenwildnis ist für diesen rituellen Prozess der geeignete Ort. Ihre Trennungsphase beginnt in Jamaillia, als sie mit ihrem Mann ins Exil geht. Als sie in der Regenwildnis ausgesetzt wird, beginnt ihre liminale Phase, die mit Wiedereingliederungsphase endet, als sie die Regenwildnis als ihre neue Heimat akzeptiert (Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les Rits de Passage), Frankfurt a.M., 1986; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., 1989). In vielen Beiträgen meines Webblogs Grüne Sonnen habe ich an ausgewählten Beispielen auf diesen Sachverhalt hingewiesen.
9 Amanda Craig, Fool`s Quest, by Robin Hobb, Book Review: More swords and sorcery from a Dame of Thrones, Independent, 2015.
10 Christa Wolf, Kassandra, Sammlung Luchterhand, München, 1993.
11 Der Unterschied besteht darin, dass die Erzähler*innen selbst die zentralen Figuren der Geschichte sind (autodiegetisch) oder eine andere Rolle innerhalb der erzählten Welt einnehmen (homodiegetisch). In Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes-Episoden ist Dr. Watson ein homodiegetischer Erzähler. Er erzählt, ist aber nicht die Hauptfigur, sondern ein Begleiter und Beobachter der Abenteuer von Sherlock Holmes. In Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald ist Nick Carraway der Erzähler und auch eine Figur in der Geschichte, aber Jay Gatsby steht im Zentrum des Geschehens, während Nick eher homodiegetisch erzählt. Ein autodiegetischer Erzähler hingegen ist Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs Lolita, denn er ist die Hauptfigur und erzählt gleichzeitig seine eigene Geschichte.
Die Persönlichkeit der Ich-Erzählerin
Die Profilierung einer Hauptfigur wie die der Ich-Erzählerin Lady Carillion wirft ein deutliches Licht auf ihr Verhalten und ihre Motivation, Eigenschaften, die sich in ihrer Erzählperspektive niederschlagen. Lady Carillion ist eine sensible, reflektierte und psychodynamisch komplexe Persönlichkeit, die eine Veränderung ihres Status` und ihrer Identität erlebt, an der so manch ein anderer zerbrechen würde. Im Verlauf der Ereignisse in der Regenwildnis erfährt sie eine tiefgreifende Transformation ihrer Person, die zentrale Themen der Novelle widerspiegeln, und die, wie ich finde, im Titel der Erzählung bereits angedeutet sind: Heimkehr, in ihr eigenes Selbst und Potenzial.
Lady Carillion ist bei ihrer Verbannung aus Jamaillia-Stadt eine verwöhnte Adelige, die die mit ihr Verbannten mit Verachtung und Missbilligung betrachtet, in ihrem Stolz und Standesdünkel arrogant und überheblich. Ihre ganze Haltung reflektiert ihre vormals privilegierte soziale Stellung in Jamaillia-Stadt, die es ihr schwermacht, sich mit den anderen Verbannten und der rauen Regenwildnis abzufinden. Ursprünglich wird Lady Carillions Motivation von ihrer sozialen Stellung und ihrem Stolz bestimmt. Ihre Ablehnung gegenüber der Regenwildnis und ihren Mit-Verbannten ist Ausdruck ihrer Überzeugung, dass sie aufgrund ihrer Herkunft und ihres Standes überlegen ist und Besseres verdient hat.
Seit ihrer Verbannung, und erst recht seit ihrer Ankunft in der Regenwildnis, ist Lady Carillion starken Gefühlen der Verzweiflung und der Angst ausgesetzt, die es ihr schwer machen, ihre psychische Befindlichkeit zu kontrollieren. Als sie unmittelbar mit der rauen Wirklichkeit der Regenwildnis konfrontiert wird, gelingt es ihr nicht mehr, ihre Contenance zu wahren. Ihre Verzweiflung wird zu einem Ausdruck ihrer Ohnmacht den Verhältnissen gegenüber und der Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und der Realität. Ihre Beharrlichkeit, ihr Pragmatismus und ihre Zielstrebigkeit führen erst im Lauf von Wochen zu einer stabilen Resilienz. Ihre anfängliche Verzweiflung verwandelt sich in die entschlossene Anstrengung, sich anzupassen und zu überleben. Ihre erfolgreichen Überlebensstrategien, die sie mit ihren Verbündeten weiterentwickelt, steigert zunehmend ihre Zuversicht und erhöht allmählich ihre Akzeptanz der Herausforderungen der Regenwildnis, was sich wiederum auf ihre Fähigkeiten sich anzupassen und zu überleben auswirkt. Erst im Verlauf des Geschehen, durch Entbehrungen und harte Lektionen im Überleben, ändert sie ihre Haltung. Ihre Motivation wird immer deutlicher von der Notwendigkeit geprägt, in der feindlichen Umgebung zu überleben. Die Herausforderungen, die die Regenwildnis charakterisiert, überzeugen sie allmählich davon, ihre bisherigen Werte und Überzeugungen zu hinterfragen und sich pragmatisch auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Die harschen Bedingungen der Regenwildnis zwingen ihr einen unbeugsamen Überlebenswillen auf. Ihr gelingt es, ihre anfängliche Überheblichkeit aufzugeben, und sich an ihre neue Realität anzupassen. Ihr starker Wille zu überleben, sich auf die veränderten Bedingungen einzulassen, setzt die erforderlichen Impulse für ihr Überleben, und inspiriert auch die wenigen Gleichgesinnten. Den harten Lebensbedingungen, bei denen die natürliche Auslese die Regeln definiert, Anpassung oder Tod, setzt Lady Carillion ihre bemerkenswerte Fähigkeit zur Anpassung entgegen. Sie stemmt sich vehement gegen die anfangs kaum zu bewältigen Schwierigkeiten, mit denen die Regenwildnis den Siedlern begegnet, gewinnt mit ihrer Beharrlichkeit Verbündete, kontrolliert ihre Verzweiflung und passt sie sich kontinuierlich den Bedingungen ihrer neuen Heimat an.
Der zentrale Teil der Charakterentwicklung von Lady Carillion ist, wie gezeigt, ihre Entwicklung hin zu einer akzeptierenden und widerstandsfähigen Figur. Schließlich gelingt Lady Carillion eine psychische Transformation, die in der Akzeptanz ihrer veränderten Rolle in der Welt der Regenwildnis liegt. Der Veränderungsprozess, physisch und psychisch, auf den sie sich bewusst einlässt, als sie erkennt, dass es keine andere Möglichkeit mehr gibt als dem Adaptionsdruck der Regenwildnis nachzugeben - Try to master it and it will engulf you. -, fördert ihre innere Reife und ermöglicht ihr eine neue Identität, die sie auf ihren Erfahrungen und Anpassungsleistungen aufbaut, die sie in der Regenwildnis gemacht hat. Ihre Persönlichkeitsentwicklung im Hinblick auf das im nächsten Kapitel erläuterte Plotmodell setzt ein, als sie beginnt, die Regenwildnis nicht nur als feindlich, sondern als einen Ort mit eigenen Möglichkeiten und Herausforderungen zu betrachten. Sie re-definiert ihre Beziehung zu ihrer neuen Heimat hin zu einer annehmenden Akzeptanz und der Bereitschaft, ihre Rolle innerhalb dieser Welt bereitwillig zu spielen.
Die Transformation der Ich-Erzählerin
Die soziale Statusveränderung und psychische Entwicklung von Lady Carillions Persönlichkeit bildet den Fokus des Plotmodells, das Robin Hobb für ihre Novelle gewählt hat. Ronald B. Tobias hat in seiner Klassifikation zwanzig Masterplots zusammengestellt, in der er auch das Plotmodell Transformation (Verwandlung) beschreibt, das Homecoming charakterisiert. Tobias weist diesem Plot eine Figur zu, die literally changes shape, die ihre soziale Rolle und personale Identität einem tiefgreifenden Wandel unterzieht: That shape reflects the inner psychological identity dieser Figur.12 Der Transformation-Plot wie ihn Tobias versteht, kreist sich um die allmähliche Erkenntnis einer verstörenden Wahrheit, die Lady Carillion zu einer tiefgreifenden inneren Veränderung zwingt. Will sie in der menschenfeindlichen Umgebung der Regenwildnis überleben, im liminalen Raum, auf der Schwelle ihrer Vergangenheit als Adelige und Ehefrau und ihrer Gegenwart als verzweifelte Verbannte, allein auf sich gestellt, besteht ihre einzige Chance darin, zu erkennen, was diese Situation für ihre Rolle und Persönlichkeit bedeutet. Tobias Transformation-Plot handelt von der grundlegenden Veränderung der Hauptfigur.
Lady Carillions eigentliche Transformation ereignet sich in dem Moment, in dem sie erkennt, dass ihre alte Weltsicht und Identität in ihrer neuen Existenz zu nichts nutze sind. Diese Erkenntnis zwingt sie dazu, und davon legt ihr Tagebuch seitenweise beredt Zeugnis ab, ihre schockierende Situation zu überdenken. Sich dessen bewusst zu werden, ist der Point-of-no-Return, Tobias' Transformation-Plot, die tiefe Einsicht der Selbsterfahrung, dass sich ihre Existenz von Grund auf, für immer und unwiderruflich, verändert hat. Die bittere Wahrheit, die sie akzeptieren muss, ist, dass es keinen Weg gibt, der Regenwildnis zu entkommen. Für immer, für den Rest ihres Lebens, ist sie in diesem gefährlichen und menschenfeindlichen Biotop gefangen. Als sie erkennt, dass die Akzeptanz dieser Veränderung der kürzeste Weg zur Auflösung der Entfremdung ist, die sie von Beginn an empfindet, gelingt es ihr auch, die Wahrheit zu erkennen und anzunehmen, ihre bisherige Realität zu hinterfragen und sich mit der wahren Natur ihrer prekär gewordenen Existenz auseinanderzusetzen. So löst sie allmählich ihr Dilemma von Verweigerung und Akzeptanz. Lady Carillions prekäre Existenz in der Regenwildnis, ihre Transformation, geht schließlich so weit, dass sie sich im Lauf des Geschehens völlig neu erfindet: von einer stolzen, arroganten Adeligen, abhängig von Ehemann und sozialer Rolle, zu einer selbstständigen und selbstbewussten Frau, die eine einschneidende Veränderung ihres Lebens bejahend akzeptiert und nun bereit ist, selbstlos die Verantwortung für sich und ihre Gemeinschaft zu übernehmen. Am Ende ist sie zu einer selbständigen und selbstbewussten Persönlichkeit geworden, handlungsorientiert und kompetent, beharrlich mit einem unbeugsamen Willen ausgestattet. Tobias definiert diesen Plot deshalb auch als character plot, der in persönlichem Wachstum im Rahmen einer tiefgreifenden inneren und äußeren Krise resultiert. Die Transformation in Homecoming vollzieht sich sozial und psychologisch. Lady Carillion muss sich nicht nur mit der Wahrheit ihrer Existenz abfinden, sie muss auch die moralischen und emotionalen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, anerkennen und integrieren.13
Die narratologische Analyse der Novelle Homecoming, insbesondere die Rolle der Erzählinstanz und der Erzählperspektive, ermöglicht eine fundierte Beurteilung der Stimme, die die Absicht, die die Autorin mit ihrer Novelle bezweckt, an die Leserschaft vermittelt, ganz im Sinne von Marshall McLuhans Sentenz vom Medium, dass die Botschaft ist. Die Konstruktion von Homecoming, das narrative Handwerk der realen Autorin Robin Hobb in der Erfindung fiktionaler Welten, bildet den zweiten Teil meiner Analyse, in der ich beabsichtige, Genre und Worldbuilding der Novelle in den Mittelpunkt meiner Betrachtung zu rücken.
12 Ronald B. Tobias, 20 Masterplots (And How to Build Them), Cinncinatti, 1993:153-159.
13 Auf einer Metaebene symbolischer Bedeutung, die ich in diesem Zusammenhang nicht besprechen werde, reflektiert Robin Hobb mit Lady Carillions Entwicklung wichtige Themen der Anpassung und des Überlebens in einem schwierigen Umfeld, ökologisch, sozial und psychologisch. Ihr Entwicklungsweg, wenn man so will, ihre Queste von der Ablehnung zur Akzeptanz, ist eine gelungene Metapher für persönliche und soziale Veränderungsprozesse in Zeiten globaler Krisen von ökologischen Dimensionen.
Demnächst: Die Welt der Regenwildnis
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