Robin Hobbs Novelle Homecoming, Teil Zwei
There is no plenty here, only strangeness that
lurks by day and prowls amongst our huts by night.
Lady Carillions Tagebuch
Vorbemerkung
Die narratologische Analyse der Novelle Homecoming in Das Tagebuch der Lady Carillion, insbesondere die Rolle der Erzählinstanz und der Erzählperspektive, ermöglichte eine fundierte Beurteilung der Stimme, die die Absicht, die die Autorin mit ihrer Novelle bezweckt, an die Leserschaft zu vermitteln, ganz im Sinne von Marshall McLuhans Sentenz The Medium is the Message. Die Konstruktion von Homecoming, das narrative Handwerk der realen Autorin Robin Hobb in der Erfindung fiktionaler Welten, bildet den zweiten Teil meiner Analyse, in der ich beabsichtige, Genre und Worldbuilding der Novelle in den Mittelpunkt meiner Betrachtung zu rücken. In Robin Hobbs erzählerischem Werk liegt der narrative Fokus normalerweise stärker auf den inneren Konflikten ihrer Figuren als auf den äußeren Herausforderungen. Sie konzentriert sich dabei auf das Individuum und die Erforschung der psychischen Befindlichkeit beziehungsweise Traumata ihrer Figuren. In ihrer Novelle Homecoming bildet das Verhältnis zwischen Regenwildnis und Lady Carillion eine konkurrierende Beziehung. Der Charakter der Regenwildnis ist in ihrer Erzählung so präsent, dass die Landschaft als Protagonist betrachtet werden kann, quasi als Antagonist, der mit der Hauptfigur eine rivalisierende Beziehung unterhält, in der beide ihre Kräfte messen.1
Erzähltexte der Fantasy wie Homecoming sind durch ein charakteristisches, sie eindeutig definierendes Erzählschema gekennzeichnet. Um die literarischen Gattungen der Fantasy zu unterscheiden, spricht man gerne, abgrenzend und oft abwertend, von Trivialliteratur (lat. trivialis, allgemein zugänglich, gewöhnlich). Eine eher neutrale Bezeichnung für die Gattungen der Fantasy sind die häufig verwendeten Termini Genreliteratur oder Schemaliteratur, die aber auch nicht viel mehr über die Form des Erzählens oder die Konstruktion dieser Erzähltexte aussagen. Obwohl scheinbar wissenschaftliche Kategorien dienen diese Begriffe, wie auch die Bezeichnung Trivialliteratur, ebenso dazu, eine Wertung zwischen sogenannter Hochliteratur und Unterhaltungsliteratur einzuführen, von der noch immer behauptet wird, sie entspricht nicht willkürlich gesetzten Qualtitätsanforderungen. Neben anspruchvollen Inhalten und elaborierten Erzählstrategien zeichnet sich Fantasy-Literatur durch eine gute Allgemeinverständlichkeit aus und ist leicht rezipierbar. Sie bietet einen leichten Zugang zu Bildung und Unterhaltung, was allein schon wünschenswert und positiv ist. Auf diese Weise lassen sich viele soziale, politische und moralische Inhalte auch an bildungsferne Leser*innen vermitteln. Denn darin besteht die eigentliche Funktion von Literatur, unabhängig von Form oder Stil. Die Erzählungen der Fantasy-Literatur handeln von uns allen, von unseren Konflikten und von unseren Herausforderungen, von unserer, alltäglichen Realität, wenn auch nicht auf den ersten Blick deutlich, da in einem von Metaphern und Symbolen durchsetztem Diskurs eingebunden. Allein deshalb verbieten sich pejorative Termini wie hoch oder trivial von selbst.2
1 Ihre Kurzprosa ist häufiger realistischer als ihre epische Fantasy, wofür ihre Kurzgeschichte Blue Boots oder die Kurzgeschichte Neighbors, die sie als Megan Lindholm geschrieben hat, anschauliche Beispiele bieten (Robin Hobb, Blue Boots, in: George R.R. Martin und Gardiner Dozois, Songs of Love and Death, New York, 2010; Megan Lindholm, Neighbors, in: Dangerous Women, London, 2013).
2 Herbert W. Jardner, Schemaorientiertes Erzählen in Robin Hobbs epischer Kurzprosa, in Vorbereitung, Grüne Sonnen, 2024.
Eine Frage des Genres
Homecoming ist eine Novelle von Robin Hobb, ein Pseudonym der US-amerikanischen Autorin Margaret Astrid Lindholm Ogden, die auch als Megan Lindholm schreibt. Ihre Novelle ist zuallererst ein Erzähltext im Rahmen ihrer umfangreichen Serie The Realm of the Elderlings. In diesem Kontext dient sie als Prequel zu den Serien Liveship Traders Trilogy und Rain Wild Chronicle, für die sie über einen Aspekt der Geschichte hinter der Geschichte erzählt.3 Homecoming ist eine vielschichtige Erzählung, die Themen wie Überleben und Anpassung in einer feindlichen Umgebung sowie den Verlust der alten Identität und die Transformation der Hauptfigur erforscht, und dabei gleichzeitig das Fundament für eine ganze Serie von Romanen legt.
Die erzählte Welt ist ein lebensfeindliches Regenwaldbiotop an der Verwunschenen Küste, die erzählte Zeit das 14. Regierungsjahr des Satrapen Esclepius. Die Protagonistin Lady Carillion Waljin Carrock, eine Adelige aus Jamaillia-Stadt, wird wegen politischer Intrigen ihres Ehemannes in die Regenwildnis verbannt. Unter großen ökologischen und sozialen Herausforderungen entwickelt sich Lady Carillion zu einer unabhängigen und selbstbewussten Frau, die Lösungen für ihre schwierige Situation findet. Homecoming erzählt ihre Geschichte, zusammen mit einer Gruppe Verbannter, die gezwungen sind, sich in einer unbarmherzigen neuen Welt zu behaupten. Die Erlebnisse von Lady Carillion zeigen, wie der Kontakt mit einer fremden und feindlichen Umgebung die menschliche Natur verändert. Die Erzählung liefert nicht nur eine eindringliche Schilderung ihres Überlebenskampfs und ihrer Anpassung, sondern bietet auch einen Einblick in das historische Worldbuilding und die Ursprünge der späteren Gesellschaften und Kulturen, die in den Realm-of-the Elderlings-Romanen eine zentrale Rolle spielen.4
Robin Hobbs Novelle Homecoming ist zuallererst ein Erzähltext der Immersive Fantasy wie ihn Farah Mendlesohn definiert,4 generell episch-heroische, spekulative Fantasy. Das primäre Merkmal einer Immersive Fantasy ist die geschlossene erzählte Welt: The immersive fantasy is a fantasy set in a world built so that it functions on all levels as a complete world. In order to do this, the world must act as if it is impervious to external influence; [...] it must assume that the reader is as much a part of the world as are those being read about. It should construct an irony of mimesis in which ornamental speech and persuasive speech become inseparable.5 Innerhalb dieser rhetorischen Klasse, und das definiert das Genre von Homecoming genauer, gehört Robin Hobbs Novelle in das Sub-Genre der Historical Fantasy oder, in einem breiteren Sinne, zur Secondary World Fantasy
Homecoming ist Historical-Fantasy, weil die Erzählung in einer Welt spielt, die nicht nur fantastisch ist, sondern ebenfalls historische und kulturelle Elemente ins Zentrum des Geschehens stellt. Fiktional-historisch ist sie, weil sie die Geschichte hinter der Geschichte, das Reich der Elderlings, erzählt, fiktional-kulturell, weil sie ergologische, technologische und philosophische Details über diese untergegangene Zivilisation überliefert. Das Wiederaufleben der Drachen in der Elderlings-Reihe, wie die Alte Macht in der Farseer-Trilogie, fordert die Vorherrschaft des Menschen im Anthropozän heraus (Anthropozentrismus), stellt den vermeintlich intrinsischen Wert des Menschen gegenüber anderen Lebensformen in Frage und rückt ökologische Themen in den Fokus des Geschehens. Gerade die Magie der Alten Macht (wit), eine Fähigkeit, die mit der telepathischen Kommunikation mit der Tierwelt als natürliche Erweiterung der Sinne assoziiert ist, gemahnt an die Verbundenheit mit allen Lebewesen. Die koloniale und abenteuerliche Stimmung der Novelle reflektiert historische Epochen und Kontexte, ähnlich wie sie in historischen Romanen vorkommen, allerdings innerhalb eines fiktionalen Worldbuildings. Lady Carillions Tagebuchaufzeichnungen über die Verbannten und ihre Interaktionen mit der neuen Umgebung erinnert an historische Themen wie Kolonialisierung, soziale Umbrüche und kulturelle Anpassungen, was der Novelle eine weitere historische Dimension innerhalb des fiktionalen Settings verleiht.7 Die Toleranz gegenüber sozialer und kultureller Andersartigkeit, die in der soziologischen Theorie der Alterität / Alienität diskutiert wird, zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Elderlings-Serie. Wintrow Vestrit, eine der zentralen Figuren der Liveship Traders Trilogy bringt diese Einstellung exemplarisch auf den Punkt: »Ich muss eher lernen,« erwidert er dem Piraten Kennit, »die anderen zu tolerieren, bis sie Sas [die Hochgottheit Jamaillias] Zweck erfüllt haben. Ich bin ein Teil seines Vorhabens mit dieser Welt, aber mein Teil ist nicht wichtiger als der von jemand anderem.«8
Das Worldbuilding einer Secondary-World-Fantasy präsentiert eine vollständig erfundene Welt, die sich durch magische Elemente und einzigartige geographische sowie kulturelle Besonderheiten auszeichnet. Obwohl Homecoming in der realistischen Darstellung der Herausforderungen und Veränderungen in der Regenwildnis verankert ist, enthält die Geschichte auch magische Elemente, wie für eine Fantasy-Erzählung erforderlich. Die Welt der Regenwildnis ist nicht nur ein fantastischer, sondern auch ein von eigenen Gesetzen und Mythologien geprägter Ort. Darüber hinaus enthält die Erzählung detaillierte Angaben einer eigenen Mythologie und Geschichte.
3 Für die Bibliografie vgl. Das Tagebuch der Lady Carillion. Robin Hobbs Novelle Homecoming, Teil 1: Einleitung.
4 Für die inhaltliche Zusammenfassung s. Das Tagebuch der Lady Carillion. Robin Hobbs Novelle Homecoming, Teil 1: Synopsis der Novelle Homecoming.
5 Farah Mendlesohn, Rhetorics of Fantasy, Weslay University Press, Ebook, 2008, Pos.1571-2697.
6 Mendlesohn, Rhetorics, Chap.2, Pos. 1571.
7 Die Kolonial- und Abenteuerliteratur war ein beliebtes, narratives Genre im 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie thematisierte Entdeckungsreisen, das Leben in exotischen Ländern und Kolonien und die Konflikte zwischen europäischen Kolonialmächten, Piraten und den einheimischen Bevölkerungen. Als intertextuelle Bezüge für Homecoming kommen beispielsweise bis heute populäre Romane in Frage: Joseph Conrad, Heart of Darkness (1899), eine Novelle von einer Reise ins Innere Afrikas, eine düstere Reflexion über die Brutalität des Kolonialismus. Sie erzählt von Charles Marlow, der einen gefährlichen Fluss entlang reist, um den mysteriösen Kurtz zu finden. Jahrzehnte später taucht ein Namensvetter von Kurtz in einem Abenteuerfilm erneut auf, der lose auf Conrads Erzählung basiert: In Francis Ford Coppolas Film Apocalypse Now (1979) bricht Captain Benjamin Willard, die Hauptfigur, in den Dschungel auf, um den abtrünnigen, angeblich wahnsinnig gewordenen Colonel Walter Kurtz zu töten. Daniel Defoe erzählt in Robinson Crusoe (1719) vom Schicksal eines Seemanns, der auf einer einsamen Insel gestrandet ist; eine Reflektion über Kolonisierung, Zivilisation und Überleben in einer fremden Welt. King Solomon`s Mines (1885), der klassische Abenteuerroman von H. Rider Haggard, erzählt von der Suche nach den legendären Minen von König Salomo in Afrika, ein genreprägender Roman für alle folgenden Lost World-Erzählungen. Ein Spionage- und Abenteuerroman, der im kolonialen Indien spielt, ist Rudyard Kiplings Erzählung Kim (1901), unter anderen wie The Jungle Book (1894) und The Man Who Would Be King (1888), die Geschichte des Waisenjungen Kimball O'Hara, der in die geopolitische Rivalität zwischen Großbritannien und Russland verwickelt wird. Weitere, monumentale Abenteuerromane sind Herman Melvilles Moby Dick (1851), der die Besessenheit des Kapitäns Ahab schildert, einen riesigen weißen Wal zu jagen, eine Reflektion über Macht, Rache und Schicksal, Arthur Conan Doyles The Lost World (1912) über eine Expedition, die auf einem abgelegenen Plateau in Südamerika nach prähistorischen Tieren sucht, oder Karen Blixens Out of Africa (1937), eine autobiographische Erzählung über ihr Leben auf einer Kaffeeplantage in Kenia, dass von den Schönheiten und Schwierigkeiten des Lebens in einer Kolonie handelt. Eine Erzählung, die ich für die schönste des ganzen Genres halte, darf in dieser Aufzählung nicht fehlen: Robert Louis Stevensons Treasure Island (1883), der Klassiker der Abenteuererzählungen, die von Sehnsucht nach fernen Ufern, versteckten Piratenschätzen und gefährlichen Begegnungen handelt. Treasure Island ist sicherlich der Roman, der Robin Hobbs Piraten Kennit in der Liveship Traders Trilogy inspiriert hat. Nachdem Kennit ein Bein an eine Seeschlange verloren hat, ist seine Verwandtschaft mir Long John Silver, dem listigen, intriganten und brutalen Piratenkapitän in Treasure Island, nicht mehr zu übersehen. Zusammengenommen bieten diese Erzählungen einen Blick hinter die Kulissen der kolonialen Abenteuerliteratur, von den Ideologien und Ansichten ihrer Zeit geprägt, was sie zu wichtigen historischen und literarischen Zeugnissen macht. Es wäre ein interessantes Unternehmen weitere Belege für diese intertextuellen Bezüge im erzählerischen Werk von Robin Hobb herauszusuchen und zu bewerten.
8 Robin Hobb, Der blinde Krieger, Die Zauberschiffe, Bd.3, München, 2000:444. In ihrer Soldier Son Trilogy, eine postkoloniale Sekundärwelt mit Ähnlichkeiten mit den Verhältnissen an der amerikanischen Grenze des 19. Jahrhunderts, übt sie scharfe Kritik am Kolonialismus (Ethnozentrismus) sowie dem kulturspezifischen Ehrensystem einer feudal-militaristischen Gesellschaft, die sich rücksichtslos das Land einer indigenen Bevölkerung aneignet (Robin Hobb, Soldier Son Trilogy, London, 2005-2007).
Das Worldbuilding von Homecoming
Landschaft, Ökologie und eine versunkene Stadt
Das Worldbuilding einer literarischen oder filmischen Erzählung bildet die Struktur einer kohärenten und glaubwürdigen, fiktionalen Welt, in der Autor*innen Handlung, Figuren und Themen plausibel präsentieren. Ein vollständiges Worldbuilding umfasst physische Umgebungen mit eigenen Naturgesetzen, Gesellschaftsstrukturen, Kulturen, Geschichte, Ökonomie, Technologie und in der Fantasy auch Magiesysteme, alle diese Elemente sorgfältig auf die spezifischen Bedürfnisse der Erzählung zugeschnitten. Im Buch erledigt der reale Autor, im Film der Drehbuchautor diese kreative Arbeit. Ein Worldbuilding enthält alle narrativen und ästhetischen Elemente, die eine fiktionale Realität immersiv, konsistent und plausibel gestalten, damit die Rezipient*innen ungestört in die erfundene Welt eintauchen können, damit es ihnen gelingt, die Regeln und Eigenheiten dieser Welt intuitiv zu verstehen und zu akzeptieren. In einem gut durchdachten Worldbuilding fühlt sich die fiktionale Welt lebendig und real an, die Ereignisse und Handlungen der Figuren wirken, selbst in den fantastischsten oder fremdartigsten Konstellationen, glaubwürdig und authentisch. Die Qualität des Worldbuildings einer Erzählung ist entscheidend, denn es ist dafür verantwortlich, dass die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit gelingt (suspense of disbelief).
Das Worldbuilding in Robin Hobbs Novelle Homecoming besteht aus zwei verschiedenen Ebenen, ganz im Rahmen der oben zitierten Kolonial- und Abenteuerromane: aus der menschenfeindlichen Landschaft eines Regenwalds sowie aus der namenlosen, unterirdischen Ruinenstadt einer untergegangenen Kultur. Mit diesen beiden Umgebungen ist die Bühne der erzählten Welt bereitet, auf der die Figuren der Erzählung mit Herausforderungen konfrontiert werden, um existenzielle Konflikte zu lösen.
Das Hinterland der Verwunschenen Küste (Cursed Shores) ist ein wilder, mysteriöser Landstrich, wo der Regenwildfluss ins Meer mündet, der sich südlich der Six Duchies und der Händlerstadt Bingtown erstreckt, nördlich von Jamaillia-Stadt gelegen, dem Sitz der Satrapie. Diese unzugängliche Landschaft ist das Biotop, in das die Kolonisten aus Homecoming verbannt werden und wo die Regenwildhändler, die Nachkommen dieser frühen Siedler, später ihre Dörfer und Städte errichten werden. Das Klima entlang der Verwunschenen Küste ist feucht und tropisch, geprägt von dichten Wäldern, häufigen Regenfällen und sumpfigen Gebieten. Die Luft ist feucht, und die dichte Vegetation lässt die Küstenregion wild und ungezähmt erscheinen. Die Küstenlinie ist zerklüftet und von engen Buchten und steilen Klippen geprägt. Die Verwunschene Küste ist berüchtigt für die tückischen Riffe entlang der Küste, eine Todesküste, an der zahlreiche Schiffe im Sturm zerschellt sind, aber auch für die starke Präsenz von alter Magie, die auch die ahnungslosen Kolonisten aus Jamaillia-Stadt ins Verhängnis führt. Wegen dieser magischen Präsenz erhielt die Verwunschene Küste ihren Namen, und wegen der magischen Artefakte, die die Regenwildhändler ausgraben, mit denen sie handeln und reich geworden sind, sowie wegen der seltsamen, mystischen Phänomene und der Überreste, die aus der Zeit der Elderlings zurückgeblieben sind. Diese Hinterlassenschaften stehen in dem Ruf durch die alte Magie der Elderlings kontaminiert und gefährlich zu sein, eine Erklärung für die häufigen, unerklärlichen Ereignisse und Unfälle, die den Ruf der Verwunschenen Küste als verfluchten Ort bestätigt haben. Was den schlechten Ruf der Verwunschenen Küste aber besonders gefördert hat, ist die Überlieferung, dass sie mit der fiktional-historischen Existenz der Drachen verbunden wird. Noch immer erzählen die Menschen von den Drachen, die einst am Firmament über ihnen zu sehen waren. Sie hätten, heißt es, in der Regenwildnis ihre Gelege ausgebrütet, wo eine mysteriöse Zivilisation die Drachenbrut gepflegt und ernährt hat. Ein besser geeigneter Rückzugsort für Drachen, als die unzugängliche Landschaft der pfadlosen Regenwildnis mit ihrer dichten Vegetation, existiert in der erzählten Welt der Elderlings nirgendwo anders.9
In Robin Hobbs Novelle Homecoming bilden die Landschaft der Regenwildnis (Rain Wilds) und eine namenlose, versunkene Ruinenstadt der Altvorderen (der Elderlings) die zentrale Bühne der erzählten Welt, die die ökologischen Bedingungen prägen und die Konflikte und die Herausforderungen für die Siedler verursachen: die Basis des Worldbuildings. Die Regenwildnis ist ein dichter, üppig wuchernder und feuchter Dschungel, eingehüllt in die dunstige, nebelverhangene Atmosphäre der Verwunschenen Küste. Die Vegetation ist exotisch, mit riesigen Bäumen, dichten Lianen und einer Vielzahl von Pflanzen, die sich an die hohe Luftfeuchtigkeit und die ständigen Regenfälle angepasst haben. Ein tropischer Regenwald, schwer zugänglich, menschenfeindlich und über weite Strecken unpassierbar, was eine Ansiedlung und Erforschung erheblich erschwert und nicht unmöglich macht. Naturgewalten, wie starke Regenfälle, regelmäßige Erdbeben und Überflutungen, führen zu einer ständigen Veränderung des Landschaftsbilds und machen sie zu einem dynamischen und herausfordernden Umfeld. Die Ökologie der Regenwildnis prägt ein hohes Maß biologischer Spezies. Die Pflanzenwelt umfasst eine Vielzahl von feuchtigkeitsliebenden Pflanzen, darunter große Bäume, Farne und tropische Blumen. Die Tierwelt ist ebenso vielfältig und umfasst sowohl kleine Insekten und Echsen als auch größere, teils gefährliche Kreaturen, die sich in dieser üppigen Umgebung gut verstecken können. Die Böden sind sumpfig und schwer, was das Anlegen von Wegen und das Bewirtschaften von Land erschwert.
Die Überreste der Architektur der Ruinen der Elderlings, eine verlassene, unterirdische Stadt, spricht für eine fortschrittliche und hochentwickelte Zivilisation. Die Ruinen sind beeindruckend und zeigen eine komplexe, urbane Architektur, unterirdische Bauwerke, mit Marktplätzen, labyrinthisch verschlungenen Straßen und verstaubten, in völliger Dunkelheit liegende Säle, aus einem hochgradig langlebigen Material gefertigt, das der Wald der Regenwildnis mittlerweile überwuchert und zurückerobert hat. Die Gebäude der Stadt sind groß und monumental, mit hochgewölbten Hallen und ausgeklügelten Stadtplanungen, die auf ein tiefes Verständnis der Architektur und des Städtebaus hinweisen. Viele Strukturen sind in die Landschaft integriert und nutzen natürliche Gegebenheiten wie Hügel und Täler, um Schutz und strategische Vorteile zu bieten. Die Ruinen sind reich an archäologischen Artefakten, darunter alte Schriften, Relikte alltäglicher Nutzung und Überreste, die auf Rituale oder Zeremonien schließen lassen. Diese Artefakte bieten wertvolle Einblicke in die Kultur und das Leben der Elderlings, sind aber auch schwer zu deuten, da das Wissen über ihre ursprüngliche Bedeutung und Funktion verloren gegangen ist. Die Ruinen sind von einer geheimnisvollen Aura umgeben, da viele der alten Geheimnisse und Technologien der Elderlings unbekannt oder nur schwer verständlich sind. Diese archäologischen Stätten sind der Ort von Entdeckungen, Rätseln und einer besessenen Schatzsuche.
Die größten Probleme und Herausforderungen, die einer Besiedlung der Regenwildnis durch die Siedler aus Jamaillia-Stadt im Wege stehen, bilden das Klima und die Unzugänglichkeit des Regenwalds. Die extreme Feuchtigkeit, die dichten Wälder des Dschungels sowie der undurchdringliche Bewuchs und das sumpfige Terrain der Regenwildnis erschweren den Bau von Wegen, Häusern und das Anlegen von Anbauflächen für die Landwirtschaft. Das feuchte Klima führt zu gesundheitlichen Risiken, fördert unbekannte Krankheiten, die durch Parasiten, Insekten, Schimmel und andere Krankheitserreger übertragen werden. Das Management von Ressourcen wie Wasser und Nahrungsmitteln ist kompliziert. Die ständigen Regenfälle führen zu Überschwemmungen, während die unzugängliche Landschaft das Auffinden und den Transport von Nahrungsmitteln erschwert. Auch die Ruinen der Elderlings sind für die Kolonisten ein gefährlicher Ort, die die magische Präsenz, die die Stadt »belebt«, weder verstehen noch kontrollieren können.
Für die Siedler, die das urbane Leben in einer Metropole gewöhnt sind, ist die Regenwildnis eine anspruchsvolle und geheimnisvolle Umgebung, deren unzugängliches Terrain und komplexe Ökologie ein erhebliches Konfliktpotenzial für sie darstellt. Doch die Ruinenstadt der Elderlings, mit ihren Schätzen und Geheimissen, bietet die größte Herausforderung für die Siedler aus Jamaillia-Stadt, denn sie fordert sie dort, wo sie am empfänglichsten sind: in ihrer Habgier, ihrem unersättlichen Verlangen nach Reichtum und Macht, die ihre Gefühle und ihren sozialen Zusammenhalt korrumpiert. Es ist eine der Stärken der Fantasy, und die pädagogische Intention der realen Autorin, den Leser*innen einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie sich selbst erkennen können, damit sie ihre eigenen dunklen, psychischen Anteile, ihren Schatten, wie C.G. Jung es nennt, den wir alle wie einen Sack hinter uns herziehen, reflektieren können.
Die erzählte Welt des Tagebuchs der Lady Carillion
Menschenfeindlicher Dschungel und eine versunkene Stadt
Die Novelle Homecoming ist das Tagebuchs der Lady Carillion, kalendarisch geordnet und in fünf Phasen gegliedert. Die einzelnen Phasen repräsentieren die aufeinanderfolgenden Episoden in der Besiedlung der Regenwildnis. Bei der Rekonstruktion der erzählten Welt, in der die Kolonisten aus Jamaillia-Stadt um ihr Überleben kämpfen, bediene ich mich dieser Gliederung, denn Lady Carillion hat die erzählte Welt eng in den Rahmen der erzählten Zeit eingebunden:10
Phase 1: Lady Carillions Tagebuch beginnt am Tag ihrer Verbannung aus Jamaillia-Stadt - Day the 7th of the Fish Moon / Year the 14th of the reign of the Most
Noble and Magnificent Satrap Esclepius - mit einer Liste ihrer am Pier beschlagnahmten Besitztümer. In den Einträgen der ersten 44 Tage ihrer Reise von Jamaillia-Stadt, bis sie in der Regenwildnis ausgesetzt werden, reflektiert sie ihre Rolle als Ehefrau, Mutter und Künstlerin und hadert mit ihrem ungerechten Schicksal, ihrem Ehemann zusammen mit ihren Kindern in die Verbannung folgen zu müssen. Some days ago, schreibt sie in ihr Tagebuch, we reached the river mouth. I did not note the day, such has been my gloom. Das Schiff mit den Exilanten setzt seine Reise flussaufwärts fort, auf der Suche nach einem geeigneten Siedlungsplatz.
- Day the 7th – Day the 6th Plow Moon; inzwischen sind 28 Tage vergangen11
In den Tagen darauf führt die Reise weiter flussaufwärts, bis es am 22. Tag des Plow Moon zur voraussehbaren Katastrophe kommt. Captain Triops, notiert sie, has marooned us here in the swamp.
- Day the 7th – Day the 22th Plow Moon; inzwischen sind 44 Tage vergangen
Phase 2: Orientierungslos und ohne Hilfsmittel am sumpfigen Ufer der Regenwildnis ausgesetzt, brechen die Kolonisten auf, um trockenes Land zu suchen. Great trees tower over us. The land trembles under our feet like a crust on a pudding, and where the men marched over it to gather our possessions, water now sweeps, filling their footprints. [...] I think we must move deeper into the forest, seeking firmer land and relief from the biting insects. But I am a woman, with no say in this.. Verängstigt von verstörenden Träumen, Erdbeben und dem nicht enden wollenden Sumpf, führt Lady Carillion diszipliniert ihr Tagebuch und schildert minutiös ihre Sorgen und die Entbehrungen ihres Marschs durch das Sumpfland. For five days, we have trekked ponderously through soft ground and thick brush, away from the river, seeking drier ground. [...] The ground remains tremulous and boggy. [...] The damp inflames our feet and rots the fabrcs of my shirt.. Immer nach weniger sumpfigen Stellen für ein provisorisches Nachtlager Ausschau haltend, immer in Sorge um die tägliche Nahrung, ergreift Lady Carillion als einzige die Initiative. Jeden Abend versucht sie einen trockenen und sicheren Schlafplatz in einem der riesigen Bäume für ihre Familie einzurichten. Die Männer verspotten sie, und nehmen ihr Engagement übel auf, da es sich ihrer Meinung nach für eine Frau nicht geziemt, klüger und aktiver zu sein als ein Mann. You ashamed me, wirft ihr deshalb ihr Ehemann vor, by calling attention to youself. Such vanity to boast of your »art« accomplishments. [...] And so he puts me in my place.
- Day the 24th – Day the 29th Plow Moon; inzwischen sind 51 Tage vergangen
Nach zermürbender Suche schreibt sie in ihr Tagebuch, we have found a patch of drier ground and most of us will rest here for a few days. [...] Our refuge is little more than a firmer island amidst the swamp. Während der Abwesenheit ihres Mannes, der sich einem Suchtrupp angeschlossen hat, um nach einem geeigneten Siedlungsplatz zu suchen, versucht Lady Carillion weiter, obwohl durch ihre Schwangerschaft beeinträchtigt, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen, um Lösungen für die Ernährung und Wohnsituation ihrer Familie zu finden.
- Day the 2nd – Day the 25th Greening Moon; inzwischen sind 77 Tage vergangen
Die Exilanten werden zunehmend von irritierenden Träumen und Visionen bedrängt, die sie nicht verstehen, und die sie ängstigen. Sie stehen gemeinsam Wache, weil a sole watchman is more prone to the strange madness that lurks in this place. We speak little of it, but all have had strange dreams, and some of our Company seem to be wandering in their minds. The men blame the water. Eines Tages erzählt ihr ältester Sohn Petrus ihr, dass er dreamed last night that the land remembered him, ohne dass er verstand, was das bedeutet. Am 12. Tag Greening Moon notiert sie in ihr Tagebuch, dass letzte Nacht der Wahnsinn im Lager ausbrach (madness came upon our camp). Es begann damit, dass eine Frau in der Dunkelheit aufsprang und rief: »Hark! Hark! Does no one else hear their singing?” Her husband tried to quiet her, but then a young boy exclaimed that he had heard the singing for several nights now.«
- Day the 26th of the Greening Moon - Day the 1st of the Grain Moon; inzwischen sind 82 Tage vergangen
Die Albträume und mysteriösen Phänomene, die die Exilanten immer häufiger beobachten, nehmen zu und verschlechtern ihre Lebensbedingungen weiter. Die Nahrung ist knapp und only strangeness that lurks by day and prowls amongst our huts by night. Almost every night, one or two folk awake shrieking from nightmares they cannot recall. Die Bedingungen in dem provisorischen Lager im Sumpf werden immer schlechter, seitdem weitere Exilanten eingetroffen sind, die mit einem der anderen Schiffe aus Jamaillia-Stadt in der Regenwildnis gestrandet sind. Paths are churned to muck, and grow wider and more muddy. Too many people do nothing to better our lot. They live as best they can today, making no provision for tomorrow, relying on the rest of us for food. Some sit and stare, some pray and weep. Menschen verschwinden oder werden tot aufgefunden, und es gibt keine Anzeichen für ihren plötzlichen Tod. No one speaks of what we all fear: that there is an insidious madness in the water, or perhaps it comes up from the ground itself, creeping into our dreams as unearthly music. I awaken from dreams of a strange city, thinking I am someone else, somewhere else. Die aus geflochtenen Matten notdürftig gebauten Unterkünfte verrotten schnell in der Feuchtigkeit, versinken unweigerlich im Sumpf und bieten Lady Carillion und ihren Kindern immer weniger Schutz. By day, the earth sucks at my feet with every step I take. By night, our sleeping pallets sink into the earth, and we wake wet. A solution must be found, but all the others say, »Wait. Our explorers will return and lead us to a better place.« Unermüdlich arbeitet Lady Carillion an der Verbesserung der Lebensbedingungen der Exilanten, sucht nach Lösungen, entwirft Pläne für ein besseres Überleben im Sumpf, erntet aber von ihren Leidensgenossen weiter nur Spott, während einige der Frauen und zwei Neuankömmlinge ihre Anregungen aufgreifen und sich allmählich mit den schwierigen Bedingungen arrangieren und an der Umsetzung ihrer Vorschläge mitarbeiten. Immer mehr auf ihre neue Umwelt bezogen, lautet ihr Leitmotiv mittlerweile »Try to master it and it will engulf you. Become a part of it, and live.« Als ihr Kind endlich zur Welt kommt, stirbt es bei der Geburt, eine schuppige Missgeburt, die von den Frauen, die ihr beigestanden haben, fortgebracht wird, bevor sie ihr Neugeborenes zu Gesicht bekommt.
- Day the 2nd – Day the 24th Grain Moon; = inzwischen sind 104 Tage vergangen
Die Experimente der Gruppe um Lady Carillion mit den ihr zur Verfügung stehenden natürlichen Materialien führt im Verlauf der Wochen zu einer Wohnplattform in den Bäumen, die auf Strickleitern erreichbar und durch Hängebrücken verbunden ist: We have raised and secured the first Great Platform [...] solidly fixed amongst the tree limbs. The intervening branches almost cloaked it from sight. This is my doing, I thought to myself. [...] We had ascended to a different world. [...] Can I imagine a town comprised of hanging cottages? Zum ersten Mal seit Wohnen verfügen sie über trockene Unterkünfte. Doch die verwirrenden Träume nehmen weiter zu. Von ihrer Freundin Chellia erfährt sie, dass Olpey, ihr Sohn, softly singing in his sleep. It was a tune and a tongue that I swear I have never heard, and yet it was haunting in its familiarity. Und dann entdeckt Lady Carillion zum ersten Mal den Ausschlag auf der Haut ihrer Kinder, der sich rau wie Schuppen anfühlt.
- 6th – 18th Prayer Moon; inzwischen sind 134 Tage vergangen
Phase 3: Zu Beginn des neuen Monats vertraut Lady Carillion ihrem Tagebuch an: Two events of great significance. Ihr Sohn Petrus weckt sie in der Nacht und erzählt ihr von einer versunkenen Stadt, die er und sein Freund Olpey schon vor Tagen entdeckt haben: He whispered to me that Olpey was frightening him, singing from the city, and that he must tell me even though he had promised he would not. Die Jungen hatten an unnaturally square mound im Dschungel gefunden, einen vergrabenen Turm. Innen, so erzählt Petrus, gibt es Wandteppiche und alte Möbel, und es sieht so aus, als dass einst Menschen darin gelebt haben. Und: He says the music comes from it. Er erzählt von immensen Reichtümern und seltsamen Gegenständen, von Geistern, die ihm Geheimisse verraten haben, wo man Schätze finden kann. Und das am meisten Verstörende: Then Olpey began to say that he had once lived in the tower, a long time ago when he was an old man.
Lady Carillion und ihre Freundin Chellia brechen sofort auf, um sich selbst davon zu überzeugen, was ihr der Junge erzählt hat. Sie finden seine Worte bestätigt, einen squared mound thrusting up from the swamp, [...] The top of the tower was heavily mossed and draped with vinery, yet it was too regular a shape to blend with the jungle. Gemeinsam dringen sie in die unterirdische Ruine der Stadt ein: The ancient cold of the stone penetrated my worn shoes and crept up my legs to my spine as if it reached for my heart. Our torch illuminated little more than our frightened faces and our whispers faded, waking ghostly echoes. Sie finden Olpey, und bringen ihn zurück an die Oberfläche. Nach ihrem Aufenthalt in den Gängen und Sälen der versunkenen Stadt, the swamp seemed a healthful place of light and freshness. Als die Exilanten die juwelenbesetzten Ketten, die Olpey aus der Stadt mitgebracht hat, sehen, ergreift sie die Gier nach den Schätzen. Von nun an ist nichts mehr wie zuvor. As she [Chellia] tried to tell her story to a crowd of folk too large to hear it, a riot nearly broke out. Some men wanted to go immediately to the buried tower, despite the growing dark.
- Day the 7th Gold Moon; inzwischen sind 153 Tage vergangen
Phase 4: Lord Jahan Carrock, Lady Carillions Ehemann, ist inzwischen von der ergebnislosen Expedition nach bewohnbarem Land zurückgekehrt, und verfällt wie alle anderen Männer dem Goldrausch. Aufgrund seiner adeligen Herkunft beansprucht er alle Schätze für sich allein, und weil sein Sohn die Stadt entdeckt hat. Er hört nicht auf seine Frau, die ihn vor dem dangerous place und der unhealthy magic warnt, den lights that brighten and fade, of voices and music heard in the distance, und tut dies als a woman`s overwrought fancy ab. Der letzte Rest von sozialer Ordnung und Solidarität bricht angesicht der immensen Schätze und den von der Plünderung der versunkenen Stadt Besessenen vollends zusammen. Most of our folk had been infected with a treasure fever and gone underground. Only the infirm and the women with the smallest children remain in our village.
All diese Erfahrungen verändern Lady Carillion und ihre Einstellung ihrem neuen Leben gegenüber und machen sie unempfindlich gegen die Gier ihrer Mitmenschen und gegen die Demütigungen ihres Ehemanns, der sie trotz ihrer Leistungen auf die konventionelle, abhängige Frauenrolle reduziert. Anders als die meisten der Exilanten ist es ihr inzwischen gelungen, sich auf die Ökologie der Regenwildnis einzulassen, und sich damit abzufinden, dass sowohl ihre privilegierte Position als Mitglied des Adels von Jamaillia-Stadt als auch ihr früheres Leben unwiederbringlich verloren sind. This country’s beauty is the beauty of the sunning snake, schreibt sie in ihr Tagebuch. It threatens as it beckons. I fancy that I can master it by giving it my earnest respect. Without realizing it, I had begun to take pride in my ability to survive and to tame some small part of its savagery. And I have shown others how to do that. I did things here, and they were significant. [...] I do not think I can set that aside. To be told I must abandon all that I have begun here is more than I can bear. And for what? To return to his world, where I am of no more consequence than an amusing songbird in a filigreed cage.
- Day the 8th – Day the 9th Gold Moon inzwischen sind 155 Tage vergangen
In dieser Situation ändert Lady Carillion die Datierung ihres Tagebuchs und gibt die Zählung nach Monaten auf. A ridiculous date for us. Here there will be no golden harvest moon [...]. Bereits der von ihr vergebene Monatsname Gold Moon orientiert sich nicht mehr am wirtschaftlichen Zyklus Jamaillia-Stadt, sondern am Beginn der Plünderung der versunkenen Regenwildnis-Stadt, die die Hoffnung Lady Carillions auf Besserung endgültig zerstört hat. Der Aufbruch aus Jamaillia-Stadt liegt nunmehr 155 Tage zurück und die Exilanten leben seit 133 Tagen in einem provisorischen Lager in der Regenwildnis. Fünf Tage früher, also 128 Tage nachdem sie am schlammigen Ufer des Regenwildflusses ausgesetzt wurden, erfuhren die Exilanten von der versunkenen Stadt und ihren Schätzen. Dieses Ereignis machte Lady Carillion nicht nur bewusst, wie sehr sie sich seitdem verändert hat, wie sie ihr Leben weiterführen will, sondern auch, dass sie als Frau dazu in der Lage ist, ihr Leben unabhängig und erfolgreich zu führen. In diesem Bewusstsein ändert sie die Datierung ihres Tagebuchs und löst sich von den Tradionen und der Kultur Jamaillias: Year One of the Rain Wilds beginnt mit ihrem neuen Selbstbewusstsein als selbständige Frau.
Doch bevor sie ihr Leben ganz auf ihre neuen Bedürfnisse und die fremde Umgebung einstellen kann, steht ihr noch eine letzte Herausforderung bevor. Chellia hat inzwischen ihren Sohn Olpey vollends an die versunkene Stadt und ihre Magie verloren, die sein Bewusstsein usurpiert hat, und bittet sie, noch ein letztes Mal die versunkene Stadt zu betreten, um ihr zu helfen, ihren Sohn zu finden und zu retten.
- 5th Day of the City / Year One of the Rain Wilds; inzwischen sind 180 Tage vergangen
Während die Suche nach den Schätzen der Elderlings in den Tagen des Gold Moon zum einzigen Ziel der Kolonisten geworden ist, fasst Lady Carillion einen Entschluss. Sie ändert die qualitative Datierung ihrer Einträge, als Zeichen dafür, dass sie sich, anders als ihre Leidensgenossen, damit abgefunden hat, dass die Regenwildnis ihre Heimat geworden ist. Die Gier nach Gold hat alle Aktivitäten in der noch immer provisorischen Siedlung, die das Überleben sichern soll, zum Erliegen gebracht. I fear we have come through many trials and tribulations, notiert sie, only to perish from our own greed. Während die Männer weiter die versunkene Stadt plündern, beschreibt Lady Carrillion den Verfall der sozialen Ordnung, denn ihr Leben has become only waiting. Der Goldrausch hat die ohnehin fragile Solidarität und jedes Verantwortungsgefühl zerstört. Our remaining Company is divided into factions now. Men have formed alliances and divided the city into claimed territories. It began with quarrels over the heaps and hoards, with men accusing each other of pilfering. Soon it fostered partnerships, some to guard the hoard while the others strip the city of wealth.
Die Auswirkungen der Ökologie des Dschungels und der Magie der Elderlings, die in den Mauern der Stadt zurückgeblieben ist, fordert zunehmend einen Preis von den Siedlern. Die körperlichen Veränderungen, die sich mittlerweile auf der Haut zeigen - She has grown paler and is now afflicted with the rash. Her skin is as dry as a lizard’s. / The rash has worsened on Carlmin, spreading onto his cheeks and brows. It looks as if he is growing fish scales. / I try not to think of the rash down my spine. - und die psychischen Störungen des Bewusstseins nehmen beunruhigend zu. Lady Carillion dokumentiert die Veränderungen an sich selbst, ihren Kindern und Nachbarn aufmerksam: When I told him that [ihrem Sohn Petrus] he could not possibly remember any such thing, he shook his head at me, and muttered something about his »city memories.«
- Eighth Day of the City / Year One of the Rain Wilds; inzwischen sind 183 Tage vergangen
Die Verhältnisse in der Siedlung verschlimmern sich täglich. Die Plünderungen führen immer schneller zur Zerstörung der unterirdischen Stadt. Erschreckende Berichte von Gewalt, Raub und Mord erreichen die Frauen, die in der Siedlung zurückgeblieben sind. Parts of the city are collapsing. Closed doors have been forced open, with disastrous results. Some were not locked, but were held shut by the force of earth behind them. Now slow muck oozes forth from them, gradually flooding the corridors. Some are already nearly impassable, but men ignore the danger as they try to salvage wealth before it is buried forever. Die Stadt versinkt im Schlamm. Was die Regenwildnis jahrtausendelang konserviert hat, zerstört die Gier der Menschen in Tagen. Und mit der Stadt geht die Magie unter, die in den Mauern der Stadt konserviert ist: The flowing muck seems to weaken the city`s ancient magic. [...] Lights flash brightly, then dim. Music blares forth and then fades to a whisper.
- Ninth Day of the City, I think Year One of the Rain Wilds; inzwischen sind 184 Tage vergangen
Am neunten Tag nachdem Olpey und ihr Sohn die unterirdischen Ruinen entdeckten, erfahren die Leser*innen aus dem Tagebuch: Less than ten days have passed since I first saw this city, but it has aged years. Schon vor Tagen ist Olpey verschwunden, der Sohn ihrer Freundin Cheillia, der mit ihrem ältesten Sohn Petrus die versunkene Stadt entdeckte. Sie vermuten, er ist in die Stadt zurückgekehrt, um sich dort zu verstecken, weil er die Stadt als seine Entdeckung beansprucht. Bereits am fünften Tag der Stadt vertraut Lady Carillion ihre Schuldgefühle dem Tagebuch an: I would give much not to feel so guilty about Olpey. What can I do? Nothing. Why, then, do I feel so bad? Als Olpey schließlich gefunden wird, sich aber einschließt und sich weigert, die Stadt zu verlassen, entschließt sie sich, ihrer Freundin zu helfen, ihren Sohn zurückzuholen. Die Stadt befindet sich in einem desolaten Zustand, die Gebäude verfallen, Erdreich bricht in die Häuser, und Schlamm fließt durch die Straßen und Räume. Die Regenwildnis ist entschlossen, die Stadt mitsamt den Plünderern zu verschlingen, um zu bewahren, was noch zu retten ist.
Was nun folgt, bildet den dramatischen Höhepunkt der Novelle, der die allmählich einsetzende Transformation der Hauptfigur abschließt, die aus ihrer abwartenden Haltung aufwacht, die Verantwortung übernimmt, und damit die Bedingungen schafft, dass der Rest der Kolonisten sich an die Regenwildnis anpassen und überleben kann. In dieser Situation, nach 184 Tagen und 53 Seiten, erreicht die Novelle auf den folgenden 24 Seiten die Katharsis des Geschehens. Lady Carillions Tagebuch enthält nur noch zwei weitere Einträge, die nicht mehr datiert sind, und über die Dauer der Ereignisse wenig sagen. Wie viel Zeit in den Ruinen vergangen ist, und wie lange die Rückkehr in die Siedlung dauert, ist nicht rekonstruierbar: Day—I do not know / Year One of the Rain Wilds sowie Day the 7th of Light and Air / Year One of the Rain Wilds.
Phase 5 schildert den neuen Anfang der wenigen überlebenden Kolonisten in der Regenwildnis. Was Lady Carillion und ihre Gefährt*innen in der versinkenden Stadt widerfährt zu schildern, würde die Spannung schmälern und das Vergnügen rauben, das die Lektüre der Novelle bereitet. Der letzte Eintrag, bevor Lady Carillion ihr Tagebuch aufgibt, ist der Beleg für die gelungene Adaption und die Bereitschaft der letzten Siedler, ihr Schicksal anzunehmen: I see the scaling that has begun to show on the children, and in truth, I do not find it abhorrent. Almost all of us who went down into the city bear some sign of it, either a look behind the eyes, or a delicate tracing of scales, or perhaps a line of pebbled flesh along the jaw. The Rain Wilds have marked us as their own, and welcome us home.
An mehreren Stellen in der Novelle begründet Lady Carillion ihre Motivation ein Tagebuch zu schreiben mit ihrem Bedürfnis, dass etwas von ihrem Schicksal überliefert wird, damit ihr Leid nicht vergessen wird: If ever my body is found, perhaps some kind soul will carry this volume back to Jamaillia and let my parents know what became of Carillion Waljin and where she ended her days. Likely it and I will be buried forever in the muck inside the hidden city. [...] If you read this, my parents, know that I loved you until I died.
Fragt man nach der Moral der Novelle, gibt es nur eine Antwort, die in Lady Carillions Tagebuch in dem kurzen Aussagesatz resultiert, den ich im ersten Teil meiner Studie einführend als Leitmotiv zitiert habe. Die Natur lässt sich nicht überlisten oder austricksen oder in ihren eigenen Worten: Become part of it, and live. Was aus den Siedlern geworden ist, und was ihre Anpassung an die Ökologie der Regenwildnis aus ihnen gemacht hat, davon erzählt Robin Hobb in der Liveship Traders Trilogy.
9 Die Informationen über das Worldbuilding von Homecoming sowie die folgende Beschreibung der Kultur der Elderlings habe ich aus der Farseer Trilogy, der Liveship Traders Trilogy sowie den Rain Wild Chronicle zusammengestellt.
10 Für meine Rekonstruktion gehe ich davon aus, dass die im Tagebuch notierten Monate aufeinanderfolgen, und dass jeder Monat 30 Tage hat. Diese Vorgehensweise ist allerdings nicht völlig zuverlässig, da im Tagebuch nirgendwo von einer absoluten Chronologie die Rede. Außerdem führen die das Bewusstsein verwirrenden Ereignisse, die mit der versunkenen Stadt zusammenhängen, im letzten Drittel des Tagebuchs zu Erinnerungslücken und Ungenauigkeiten der Tagebuchführerin.
Unter der erzählten Zeit versteht die Erzähltextanalyse gegenüber der Erzählzeit die Dauer der erzählten Geschichte in Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren. Es besteht daher ein qualitativer Unterschied zwischen der Erzählzeit, dem Erzählen (der Zeit, die für das Erzählen resp. Lesen benötigt wird), und der erzählten Zeit, dem Erzählten (der Dauer des gesamten erzählten Geschehens; von wann bis wann ereignet sie die Handlung). Für die erzählte Zeit in Homecoming vgl.a. Das Tagebuch der Lady Carillion, Robin Hobbs Novelle Homecoming, Teil 1: Einleitung. Die im Text verwendeten Zitate habe ich einer Online-Version von Homecoming entlehnt, die weder eine Paginierung noch eine Ortsangabe enthält; die Reihenfolge der Zitate entspricht nicht ihrer Reihenfolge in der Novelle.
11 Der Hinweis »inzwischen sind x Tage vergangen« bezieht sich auf den Tag des Aufbruchs der Kolonisten aus Jamaillia-Stadt.
Ein wichtiger Aspekt der Novelle Homecoming ist bisher ungenügend behandelt worden: die Geschichte hinter der Geschichte des Erzähltexts, das wie eine Rahmenhandlung zu behandelnde Realm-of-the-Elderlings. In einem dritten Teil meiner Betrachtung der Novelle von Robin Hobb werde ich diese Lücke füllen und nach den mit diesem Motiv verbundenen, intertextuellen Bezügen fahnden, die Robin Hobbs erzählerischem Werk ihren Rahmen geben, wie beispielsweise die verschollenen Geschichten aus J.R.R. Tolkiens Silmarillion für The Hobbit und The Lord of the Rings.
Demnächst: Die magische Kultur der Elderlings
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