Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane Die Trilogie des Nebels und Marina, Teil Eins
Sie wusste, dass die Schatten der großen Stadt
sie hier nicht erreichen konnten, doch die
Erinnerungen ließen sich nicht aufhalten.
Carlos Ruiz Zafón
Vorbemerkung
Liebhabern von Carlos Ruiz Zafóns Tetralogie Der Friedhof der vergessenen Bücher (El Cementerio de los Libros Olvidados) kommt es nicht gleich in den Sinn, dass Zafón seine Karriere als Autor mit vier fiktionalen Jugendromanen (young adult fiction) begann, deren Thema und Inhalt oberflächlich betrachtet nichts mit dem Werk zu tun haben, mit dem er berühmt wurde. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn beide Serien teilen die Vorliebe des Autors für mysteriöse Orte und düstere Atmosphären, der mit seiner Melange aus Grusel und Mystik sowie Detektiv- und Abenteuergeschichten seine Leser*innen verzaubert.
Die Angewohnheit, Erzählungen in unterschiedliche Genre einzuteilen, ist eine Marketingstrategie, die die Leserschaft in Zielguppen spaltet, und die nichts mit dem Werk von Autor*innen zu tun hat. Philip Pullman, dem ebenfalls nachgesagt wird, er schreibe für Kinder und Jugendliche, entzog sich in der Einleitung von James Carters Anthologie Talking Books dieser Kategorisierung mit einer neckischen Selbstinszenierung als orientalischer Märchenerzähler auf einem Basar:
My ideal . . . is the old notion of sitting in a marketplace, where all kinds of other transactions are going on around me. People are buying food and selling food, and somebody doing tricks over there in the corner, and the pickpocket over there, and there’s a public hanging over in the corner, all sorts of stuff. And there I am on a bit of carpet with a hat in front of me, telling a story. And whoever wants to stop and listen is welcome to do so. I do not put up a sign saying ‘this story is only for twelve-year-olds’ or ‘no children welcome here’ or ‘only women need be interested in this story’ or anything like that. I don’t want to exclude anyone, because as soon as you say ‘this story is for such and such a group’, what you’re actually saying as well is ‘this story is not for anybody else’. I don’t want to do that. I would like to tell the sort of story which brings children from play and old men from the chimney corners, as somebody used to say. I’d like to tell a story which is entertaining and interesting, in necessarily different ways, but nevertheless to all kinds of people and all different age groups.1
Die fiktionalen Jugendromane des katalanischen Autors Carlos Ruiz Zafón, umfassen die dreibändige Serie Die Trilogie des Nebels und den eigenständigen Roman Marina, die seine Leser*innen in drei verschiedene Jahrzehnte und an drei verschiedene Orte entführen. Seine Protagonisten sind jugendliche Figuren der erzählten Welt, inmitten der Wirren ihrer Pubertät auf einer Quest, der Suche nach ihrer Identität, in einem höllischen Strudel aus Wahnsinn und Tod. Dabei geraten sie mit parallelen Wirklichkeiten in Konflikt, die ihre alltägliche Lebenswelt aus den Angeln hebt, und sie verändert zurücklässt. Leser*innen, die bereits durch die vier Bände des Friedhofs der vergessenen Bücher mit den fantastischen Kapriolen und den elaboriert konstruierten, düsteren Erzählungen des Autors vertraut sind, werden auch die zafóneske Erzählkunst von Marina und der Trilogie des Nebels lieben. Die drei Texte seiner frühen Anthologie bilden, wie auch sein Opus Magnum, keinen Fortsetzungsroman, sondern sind eher eigenständige Erzählungen (Standalone Novels), nur durch gemeinsame Tropen, beziehungsweise Genres, wie Mystery oder Horror, miteinander verbunden, und deshalb auch unabhängig voneinander zu lesen.2
Zafóns Erzählfiguren motiviert, an das zu erinnern, was geschehen ist. Erinnerungen stellen ein Leitmotiv für das Werks von Carlos Ruiz Zafón dar, in seinen Jugendromanen wie in seinen Romanen für erwachsene Leser*innen. Gleich im ersten Kapitel seines Romans Der Fürst des Nebels, dem ersten Band der Trilogie des Nebels, kommt es Max Carver in den Sinn, dass sich manche Bilder aus der Kindheit wie Fotografien ins Album der Erinnerung [eingeprägen], Szenen, zu denen man immer wieder zurückkehrte, ganz gleich, wie viel Zeit verging. (DFN, 14). Auch Ian, der Ich-Erzähler in Der Mitternachtspalasts, beruft sich im ersten Text der Rahmenhandlung auf die Erinnerung an das, was er erlebte: So musste ich zwangsläufig lernen, mit der Angst zu leben, diese Geschichte könnte für immer verlorengehen, weil niemand mehr da ist, um sie zu erzählen (DMP, 10).
Geschichten müssen erzählt werden, um Erinnerungen zu bewahren, das weiß auch Óscar, der in Marina die Erzählung beendet. Das unwägbare Phänomen, das wir Erinnerung nennen, ist das zentrale Thema im Werk von Carlos Ruiz Zafón. Es sind Erinnerungen, die seine Protagonisten umtreiben, und die ihr Leben in der Gegenwart bestimmen. Erinnerungen, die sich anscheinend nicht von ihrer realen Wirklichkeit unterscheiden, von denen sie nie sicher sind, ob es sich nicht um Fiktionen handelt. In Zafóns Romanen legen Erinnerungen einen Schleier über die realen Ereignisse in der Vergangenheit seiner Figuren. Irene Sauvelle, eine Figur des Romans Der dunkle Wächter, wird wie Max von ihren Erinnerungen getrieben. Als ihr Vater stirbt, heißt es, durchzog ein purpurroter Lichtstrahl die Himmelskuppel, der sich mit einem glühenden Funkenstreif am Horizont verlor. Dieser Lichtstrahl, den seine Tochter Irene nicht sehen konnte, geisterte jedoch viele Jahre lang durch ihre Träume (DDW, 11).
Genauso ergeht es uns mit unseren Erinnerungen. Wir können später nicht mehr sagen, ob wir uns an das reale Geschehen einer Situation oder einer Begegnung erinnern, oder an unsere Vorstellung davon, die mehr ein Mythos ist. Vorstellungen wie diese sind prophetisch. Sie betreffen nicht nur die Erinnerungen der Figuren Max und Irene, sie repräsentieren das Gesamtwerk Zafóns. Seinen vierten Jugendroman Marina, der wie ich finde, alles andere ist als ein Jugendroman, eröffnet der Ich-Erzähler Óscar Drai mit einem ähnlichen Statement: Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei (M, 9). Und nachdem Óscar den Leser*innen seine mitreißende Geschichte erzählt hat, erinnert er sich daran, was Marina ihm einst sagte.
Auch der Roman Der Dunkle Wächter handelt von Erinnerungen, die den Leser*innen rückblickend erzählt werden. Die Erzählung beginnt mit einem Brief und mit den Worten, die Septemberlichter haben mich gelehrt, Deine Fußspuren in Erinnerung zu halten. Und der Brief schließt mit der Vermutung des Verfassers, dass er der Einzige ist, der nach wie vor in der Erinnerung an jeden einzelnen jener Tage lebt (DDW, 10). Es sind Erinnerungen, die Carlos Ruiz Zafón in seinen Romanen wiedererweckt, doch sie sind vage, unzuverlässig und oft nur ein Schatten dessen, was sie verursacht hat. Wenige Dinge sind trügerischer als Erinnerungen, schreibt Zafón in einem der Bände seiner Tetralogie, wo, daran erinnere ich mich nicht mehr, und weist damit darauf hin, dass jeder Text etwas Gemachtes ist: Fiktion! Gilt das gleiche auch für unsere Erinnerungen, für die vielen Wirklichkeiten, die Menschen erleben, die sie sich machen und beschreiben? Sind Erinnerungen unsere Konstruktionen des einst Gewesenen, ein persönlicher Mythos, der in der Wirklichkeit nie auf diese Weise existierte? Wie wir uns erinnern, verändert auch wie wir gelebt haben, mahnt der kanadische Schriftsteller Guy Gavriel Kay. Wir machen Geschichten aus unserem Leben.
1 Philip Pullman, An introduction to . . . Philip Pullman, in: James Carter (ed.), Talking Books: Children`s authors talk about the craft, creativity and process of writing, Routledge, 1999:187–188.
2 Carlos Ruiz Zafón, Die Trilogie des Nebels, Bd.1: Der Fürst des Nebels (DFN), München, 1996 (span. Original El Principe de la Niebla, Barcelona, 1993), Bd.2: Der Mitternachtspalast (DMP), Frankfurt a.M., 2010 (El Palacio de la Medianoche, Barcelona, 1994), Bd.3: Der dunkle Wächter (DDW), Frankfurt a.M., 2009 (span. Original Los Luces de Septiembra, Barcelona, 1995). Carlos Ruiz Zafón, Marina (M), Frankfurt a.M., 2012 (span. Original Marina, Barcelona, 1999).
Jugendliteratur als Initiationsgeschichten
Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane, unabhängig von ihrer Klassifizierung als Schauergeschichten (Mystery beziehungsweise Horror), sind klassische, Initiationsgeschichten, deren Figuren und Ereignisse mit den Herausforderungen der Adoleszenz konfrontiert werden. In einem Interview erklärte Carlos Ruiz Zafón, dass ihm der Gedanke gefällt, dass das Erzählen von Geschichten alle Altersgrenzen überschreitet, und so hoffe ich, fährt er fort, dass sich auch die Leser meiner Erwachsenen-Romane auf diese Reise voller Magie, Geheimnis und Abenteuer begeben. Eine berechtigte Hoffnung, denn die Trilogie des Nebels ist eine All-Age-Phantastik, die aufgrund eines Rechtsstreits in der deutschen Übersetzung erst erscheinen konnte, als ihn bereits die beiden ersten Bände seines Hauptwerks, Der Friedhof der vergessenen Bücher, weltweit berühmt gemacht hatten. In einer an gesellschaftlich verbindlichen Initiationsritualen verarmten Epoche überbrückt Jugendliteratur mittlerweile den Übergang zwischen Romanen für Jugendliche und für Erwachsene. Victor Kray, eine der erwachsenen Nebenfiguren in Der Fürst des Nebels, teilt mit Max, der Hauptfigur, die sich noch in der Pubertät befindet, eine wichtige Erfahrung, die gleichzeitig das Programm der Trilogie des Nebels dekodiert: [...] dass sich das Leben eines Menschen in drei Phasen aufteilt. In der ersten Phase verschwendet man keinen einzigen Gedanken daran, dass man älter wird, dass die Zeit verrinnt und wir vom Tag unserer Geburt an einem einzigen Ziel entgegengehen. Nach der Jugend beginnt die zweite Phase, in der man sich der Vergänglichkeit des eigenen Lebens bewusst wird. Was zunächst nur eine innere Unruhe ist, entwickelt sich zu einer Flut an Zweifeln und Ungewissheiten, die dich für den Rest deiner Tage begleiten. Am Ende des Lebens schließlich steht die letzte Phase, in der man die Wirklichkeit akzeptiert und dem Kommenden resigniert entgegensieht. Im Laufe meines Lebens habe ich viele Menschen kennengelernt, die in einer dieser Phasen steckenblieben und nie darüber hinauskamen (FDN, 159-160). Dies zu reflektieren, und im eigenen Leben damit zurechtzukommen, diese Aufgabe erfüllen Initiationsgeschichten, die gerade in der Adoleszenz eine bedeutende pädagogische Funktion übernehmen können. Der Diskurs von Initiationsgeschichten schildert das Heranwachsen, das Erwachsenwerden, einer anfangs naiven Figur auf die Suche nach Antworten auf die Fragen des Lebens. Die Struktur der Erzählungen entspricht den drei rituellen Phasen der Übergangsriten (rite de passage), die die Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner beschrieben haben:
- Trennungsphase: Eine literarische Figur verlässt ihr Zuhause und ihre vertraute Welt, verliert ihren bisherigen Status und bricht ins Unbekannte auf.
- Schwellenphase oder Liminalität: Eine literarische Figur wird zum Schwellenwesen. Sie gerät in den ambivalenten Zustand der Statuslosigkeit (betwixt and between), in dem die alltäglich tragenden Bindungen und Strukturen aufgehoben sind, sie nicht mehr sind, was sie waren und noch nicht, was sie werden müssen.
- Wiedereingliederung: Nachdem die literarischen Figuren alle Herausforderungen bewältigt, alle Konflikte gelöst und sie eine eigenständige, selbstbewusste Persönlichkeit geworden ist, haben die Protagonist*innen den Übergang in die Welt der Erwachsenen vollzogen.
Auch in dieser Perspektive geht es um die persönliche Reife von Initianden, um die Selbstverwirklichung des Individuums, das sich allmählich durch die Bewältigung von Konflikten und Herausforderungen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft einstellt. Lösungen und Werte, Wachstum an Fehlern und Enttäuschungen, werden von oft erst nach mühsamem Ringen akzeptiert und schließlich von der Gesellschaft sanktioniert.
Der Autor und sein Genre
Der Magier der vergessenen Bücher, der katalanische Autor Carlos Ruiz Zafón, erlebte seinen großen Durchbruch im Jahr 2001 mit dem internationalen Bestseller La Sombra del Viento (Der Schatten des Windes, 2003). Damals war der 1964 in Barcelona geborene Autor in seiner Heimat bereits ein bekannter Jugendbuchautor: 1993 wurde er für sein Debüt, den fiktionalen Jugendroman El Principe de la niebla (Der Fürst des Nebels) mit dem Edebé-Preis für Jugendliteratur ausgezeichnet. Die narrative Welt des 2020 viel zu früh verstorbenen Autors ist eine Welt des Dunstes und der düsteren, klimatischen Atmosphären, anschaulich in seinen postum veröffentlichten Erzählungen La Ciudad de Vapor (Die Stadt des Dampfs) ausgebreitet, nicht nur in der Trilogie des Nebels, die diese Atmosphäre bereits im Titel mit sich bringt. Auch das Geschehen seiner späteren Barcelona-Romane für erwachsene Leser*innen, mit ihrer Mischung aus Grusel, Mystik und Thriller, der Tetralogie El cementerio de los libros olvidados (2001-2016; Der Friedhof der vergessenen Bücher, 2003-2017), verzauberte Leser*innen in aller Welt. Allein der erste Band der Tetralogie, La Sombra del Viento, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und verkaufte sich alleine in Deutschland über zwei Millionen Mal. Das Geschehen ereignet sich in düsteren Gassen, verlassenen Gebäuden und auf Plätzen, auf die enge, schattige Gassen münden, wo Bars und Cafés Zuflucht bieten, in verwunschenen Palästen, zwischen huschenden Schatten in Lost Places, deren Aura Charakter und Verhalten der Bewohner*innen prägen. Es gab eine Zeit, schreibt Carlos Ruiz Zafón über seine Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die Straßen Barcelonas bei Einbruch der Dunkelheit in Gaslicht getaucht wurden, und die Stadt am Morgen inmitten eines Walds aus Fabrikschloten erwachte, der den Himmel giftig scharlachrot färbte. Barcelona erinnerte damals an eine Felsküste, geformt aus Kirchen und Palästen in einem verschlungenen Labyrinth aus Gassen und Tunneln über denen ewiger Nebel lag. Die Nebel-Trilogie beherrscht diese Atmosphäre, in den ersten Kapiteln noch Vorspiel des Kommenden, das ein leichtes Schauern weckt, mit Ahnungen einhergeht, dass die Erzähler Mysteriös-Unheimliches, wenn nicht gar Schreckliches, erleben werden, über das sie uns nun, rückwärtsgewandt und in ihre Erinnerungen verstrickt, berichten.
Schauerromane oder Schauermärchen (Horror) sind ein Genre verstörenden, ängstigenden, schockierenden oder erschreckenden Inhalts, die bei den Leser*innen Gefühle der Abneigung und Distanzierung auslösen. Der Grusel dieser Erzählungen, ihre unheimlichen und beängstigenden Atmosphären, konfrontiert Figuren und Leser*innen gleichermaßen mit ihren tiefsitzenden Ängsten, Träumen und Fantasien, die archetypisch unbewusstes, psychisches Material ins Bewusstsein spülen, dass durch eine literarische oder cineastische Darstellung abgearbeitet werden kann. Sie fördern die Katharsis, ein reinigender Einfluss auf psychische Erregungszustände. Als Funktion der Tragödie benennt Aristoteles in der Poetik das Hervorrufen von Mitleid (eleos) und Furcht (phobos), Jammer und Schaudern, als die Affekte, die in der Tragödie abgearbeitet werden; das Mitleid mit dem ungerechten Schicksal der Protagonist*innen und die Furcht, dass es ihnen eines Tages ähnlich ergehen könnte. Die emotionale Anteilnahme am theatralischen oder literarischen Geschehen konfrontiert die Rezipient*innen mit ihren eigenen Gefühlen und Affekten, die in diesem Prozess sublimiert werden.3
Carlos Ruiz Zafón vermischt in Der Trilogie des Nebels die Genregrenzen, um so viel Schrecken wie möglich zu verbreiten. Das Geschehen seiner Jugendromane charakterisieren unheimliche, mysteriöse Erscheinungen, Phantome, beunruhigende Träume und düstere Orte, die bis zum Ende der Erzählung geheimnisvoll bleiben und Handlung wie Atmosphäre bestimmen (Mystery):
- ein Spukhaus an der Küste, die Allgegenwart von grau-schwarzen, drohenden Wolkenbänken mit Gewittern im Gepäck und einem aufgewühlten Meer, ein im Nebel versunkener Skulpturengarten sowie ein untergegangenes, geheimnisvolles Schiff weisen auf das Böse hin, das schon einmal passiert ist und jetzt wieder geschieht (DFN);
- rätselhafte Ereignisse in der Vergangenheit einer Familie, das architektonische Meisterwerk eines seit Jahren verlassenen Bahnhofs und ein feuriger Zug, der durch das nächtliche Kalkutta spukt, konfrontieren Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden (DMP);
- ein Haus auf einer meerumtosten Klippe, das ein dichter Wald von einer majestätische Villa trennt, vollgestopft mit automatischem Spielzeug, ein undurchsichtiger, ehemaliger Spielzeugfabrikant mit dem sprechenden Namen Lazarus (DDW).
Die Antagonisten des Mysteriös-Gruseligen in Zafóns Jugendromanen sind literarische Tropen wie Geister, Dämonen, Zombies, Psychopathen, böse Clowns oder Hexer. Die Protagonisten der Erzählungen sind Jugendliche, die mit Hilfe von Freunden, durch logische Schlussfolgerungen und mit Hilfe ihrer Erfahrungen die Rätsel und Herausforderungen lösen müssen, die ihnen die Auseinandersetzung mit dem Antagonisten aufdrängt.
Carlos Ruiz Zafón hat vier fiktionale Jugendromane hinterlassen, von denen die ersten drei als eine Trilogie geführt werden. Doch eigentlich sind alle vier Romane eigenständige Erzählungen, Standalone Novels, sodass man besser von einer Anthologie spricht. Eine zusammenfassende, erzähltextanalytische Besprechung stößt auf gewisse Schwierigkeiten, denn die vier Romane lassen keine gemeinsame Perspektive zu. Der kleinste gemeinsame Nenner besteht darin, dass alle vier Erzählungen Schauerromane sind, in denen das Böse in die Welt von Jugendlichen in der Pubertät einbricht, sie bedroht und zu Entwicklungen zwingt, die sie auf dem Weg ins Erwachsenenleben bewältigen müssen. Vergleichbar sind die Figuren, die diesen Prozess durchlaufen, jugendliche Helden, denen Loyalität, Freundschaft, Liebe und Beharrlichkeit helfen, alle Schwierigkeiten gemeinsam durchzustehen. Damit endet auch schon die Vergleichbarkeit, da Erzählinstanzen, Erzählperspektive und Worldbuilding sowie die erzählte Zeit nur noch bedingt vergleichbar sind. Am besten erscheint es mir deshalb, den ersten und dritten und den zweiten und vierten Roman als Medaillen derselben Seite zu betrachten:
- Der Fürst des Nebels und Der dunkle Wächter sind Erzählungen, die in derselben erzählten Zeit und Welt spielen, in der ein heterodiegetischer Erzähler vom Schicksal seiner Figuren im epischen Präteritum erzählt.
- Der Mitternachtspalast und Marina sind dagegen Erzählungen, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Welten spielen: im Mitternachtpalast ein heterodiegetischer Ich-Erzähler als erzählendes Ich, der gleichzeitig im als Figur, der im Präteritum erzählten Welt agiert, während der Ich-Erzähler in Marina als erlebendes Ich ein homodiegetischer Erzähler ist.
Alle vier Romane zeichnet die charakteristische zafóneske Melancholie aus, die sachte zwischen den Zeilen schwebt, wie sie in der Kurzgeschichte Blanca y el Adiós so anrührend geschildert ist. Der Krieg, der unerwartete Umzug, oder die Entlassung aus einem Waisenhaus in eine ungewisse Zukunft, der Verlust der vertrauten Welt, eine mysteriöse Katze und ein Skulpturengarten im Nebel sowie ein einst prachtvoller, zur Ruine verkommener Bahnhof und eine Linksläuferuhr, all das zusammen bildet das Inventar von Zafóns Schauergeschichten für jugendliche Leser*innen.
3 Aristoteles, Die Poetik, Stuttgart, 2014:19.
Das Böse als Erzählfigur der Phantastik, Teil Zwei: Worldbuilding
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