Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane Die Trilogie des Nebels und Marina, Teil Eins
Sie wusste, dass die Schatten der großen Stadt
sie hier nicht erreichen konnten, doch die
Erinnerungen ließen sich nicht aufhalten.
Carlos Ruiz Zafón
Vorbemerkung
Liebhaber*innen von Carlos Ruiz Zafóns Tetralogie Der Friedhof der vergessenen Bücher (El Cementerio de los Libros Olvidados) kommt es nicht gleich in den Sinn, dass Zafón seine Karriere als Autor von vier fiktionalen Jugendromanen (young adult fiction) begann, deren Thema und Inhalt oberflächlich betrachtet nichts mit dem Werk zu tun haben, mit dem er berühmt wurde. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn beide Serien teilen die Vorliebe des Autors für mysteriöse Orte und düstere Atmosphären, der mit seiner Melange aus Grusel und Mystik sowie Detektiv- und Abenteuergeschichten seine Leser*innen verzaubert. Werkinterne und werkexterne Intertextualität inklusive.
Die Angewohnheit, Erzählungen in unterschiedliche Genre einzuteilen, ist eine Marketingstrategie, die die Leserschaft in Zielgruppen spaltet, und die nichts mit dem Werk von Autor*innen zu tun hat. Philip Pullman, dem ebenfalls nachgesagt wird, er schreibe für Kinder und Jugendliche, entzog sich in der Einleitung von James Carters Anthologie Talking Books dieser Kategorisierung mit einer neckischen Selbstinszenierung als orientalischer Märchenerzähler auf einem Basar:
My ideal . . . is the old notion of sitting in a marketplace, where all kinds of other transactions are going on around me. People are buying food and selling food, and somebody doing tricks over there in the corner, and the pickpocket over there, and there`s a public hanging over in the corner, all sorts of stuff. And there I am on a bit of carpet with a hat in front of me, telling a story. And whoever wants to stop and listen is welcome to do so. I do not put up a sign saying `this story is only for twelve-year-olds´ or `no children welcome here´ or `only women need be interested in this story´ or anything like that. I don`t want to exclude anyone, because as soon as you say `this story is for such and such a group´, what you`re actually saying as well is `this story is not for anybody else´. I don`t want to do that. I would like to tell the sort of story which brings children from play and old men from the chimney corners, as somebody used to say. I`d like to tell a story which is entertaining and interesting, in necessarily different ways, but nevertheless to all kinds of people and all different age groups.1
Die fiktionalen Jugendromane des katalanischen Autors Carlos Ruiz Zafón, umfassen die dreibändige Serie Die Trilogie des Nebels und den eigenständigen Roman Marina, die seine Leser*innen in drei verschiedene Jahrzehnte und an drei verschiedene Orte entführen. Seine Protagonist*innen sind jugendliche Figuren der erzählten Welt, inmitten der Wirren ihrer Pubertät auf einer Quest, der Suche nach ihrer Identität, in einem höllischen Strudel aus Wahnsinn und Tod. Dabei geraten sie mit parallelen Wirklichkeiten in Konflikt, die ihre alltägliche Lebenswelt aus den Angeln hebt, und sie verändert zurücklässt. Leser*innen, die bereits durch die vier Bände des Friedhofs der vergessenen Bücher mit den fantastischen Kapriolen und den elaboriert konstruierten, düsteren Erzählungen des Autors vertraut sind, werden auch die zafóneske Erzählkunst von Marina und der Trilogie des Nebels lieben. Seine vier frühen Erzähltexte bilden, wie auch sein Opus Magnum, keine Fortsetzungsromane, sondern sind eher eigenständige Erzählungen (standalone novels), nur durch gemeinsame Tropen, beziehungsweise Genres, wie Mystery oder Horror, miteinander verbunden, und deshalb auch unabhängig voneinander zu lesen.2
Zafóns Erzählfiguren motiviert, sich an das zu erinnern, was geschehen ist, und jede Erinnerung besitzt ihre eigene Wirklichkeit, in der sie beschrieben werden will. Erinnerungen stellen ein Leitmotiv für das Werk von Carlos Ruiz Zafón dar, in seinen Jugendromanen wie in seinen Romanen für erwachsene Leser*innen. Gleich im ersten Kapitel seines Romans Der Fürst des Nebels, dem ersten Band der Trilogie des Nebels, kommt es Max Carver in den Sinn, dass sich manche Bilder aus der Kindheit wie Fotografien ins Album der Erinnerung [einprägen], Szenen, zu denen man immer wieder zurückkehrte, ganz gleich, wie viel Zeit verging. (DFN, 14). Auch Ian, der Ich-Erzähler in Der Mitternachtspalasts, beruft sich im ersten Paratext der Rahmenhandlung auf die Erinnerung an das, was er erlebte: So musste ich zwangsläufig lernen, mit der Angst zu leben, diese Geschichte könnte für immer verlorengehen, weil niemand mehr da ist, um sie zu erzählen (DMP, 10).
Geschichten müssen erzählt werden, um Erinnerungen zu bewahren. Das unwägbare Phänomen, das wir Erinnerung nennen, ist das zentrale Thema im Werk von Carlos Ruiz Zafón. Es sind Erinnerungen, die seine Protagonisten umtreiben, und die ihr Leben in der Gegenwart bestimmen. Erinnerungen, die sich anscheinend nicht immer deutlich von ihrer realen Wirklichkeit unterscheiden lassen, von denen sie nie sicher sind, ob es sich nicht um Fiktionen handelt. In Zafóns Romanen legen Erinnerungen einen Schleier über die realen Ereignisse in der Vergangenheit seiner Figuren. Irene Sauvelle, eine Figur des Romans Der dunkle Wächter, wird wie Max von ihren Erinnerungen getrieben. Als ihr Vater stirbt, heißt es, durchzog ein purpurroter Lichtstrahl die Himmelskuppel, der sich mit einem glühenden Funkenstreif am Horizont verlor. Dieser Lichtstrahl, den seine Tochter Irene nicht sehen konnte, geisterte jedoch viele Jahre lang durch ihre Träume (DDW, 11).
Genauso ergeht es uns mit unseren Erinnerungen. Wir können später nicht mehr sagen, ob wir uns an das reale Geschehen einer Situation oder einer Begegnung erinnern, oder an unsere Vorstellung davon, die mehr ein Mythos ist. Vorstellungen wie diese sind prophetisch. Sie betreffen nicht nur die Erinnerungen der Figuren Max und Irene, sie repräsentieren das Gesamtwerk Zafóns. Erinnern ist immer eine Konstruktion des einst Gewesenen, das in der Realität so nie existiert hat, das weiß auch Óscar Drai. Seinen vierten Jugendroman Marina, der wie ich finde, alles andere als ein Jugendroman ist, eröffnet der homodiegetische Ich-Erzähler Óscar Drai mit einem ähnlichen Statement: Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei (M, 9). Und nachdem Óscar den Leser*innen seine mitreißende Geschichte erzählt hat, erinnert er sich daran, was Marina ihm einst sagte, und bilanziert ein weiteres Mal, damit es niemand je wieder vergisst: Manchmal zweifle ich an meinem Gedächtnis, und frage mich, ob ich mich einzig an das werde erinnern können, was nie geschah (M, 8; 721).3 Auch der Roman Der Dunkle Wächter, der dritte Band der Nebel-Trilogie, den Zafón im spanischen Original Las luces de septiembre betitelt hat, handelt von Erinnerungen, die den Leser*innen rückblickend erzählt werden. Die Erzählung beginnt mit einem Brief, dem Prolog, den Irene Sauvelle an ihren Freund Ismael schreibt: [...] die Septemberlichter haben mich gelehrt. Deine Fußspuren in Erinnerung zu halten, die von den Gezeiten hinweggespült wurden. Bereits damals wusste ich, dass der Winter schon bald die Illusion des Sommers verwischen würde (DDW, 5).
Es sind Erinnerungen, die Carlos Ruiz Zafón in seinen Romanen wiedererweckt, doch sie sind vage, unzuverlässig und oft nur ein Schatten dessen, was sie verursacht hat. Wenige Dinge sind trügerischer als Erinnerungen, schreibt Zafón in einem der Bände seiner Tetralogie, wo, daran erinnere ich mich nicht mehr, und weist damit darauf hin, dass jeder Text etwas Gemachtes ist: Fiktion, etwas Gemachtes wie jeder literarische Erzähltext. Das gleiche auch für Erinnerungen, für die vielen Wirklichkeiten, die Menschen erleben, die sie sich machen und beschreiben. Erinnerungen sind Konstruktionen des einst Gewesenen, ein persönlicher Mythos, der in der Wirklichkeit nie auf diese Weise existierte. Wie wir uns erinnern, verändert auch wie wir gelebt haben, mahnt der kanadische Schriftsteller Guy Gavriel Kay. Wir machen Geschichten aus unserem Leben.
1 Philip Pullman, An introduction to . . . Philip Pullman, in: James Carter (ed.), Talking Books: Children`s authors talk about the craft, creativity and process of writing, Routledge, 1999:187–188.
2 Carlos Ruiz Zafón, Die Trilogie des Nebels, Bd.1: Der Fürst des Nebels (DFN), München, 1996 (span. Original El Principe de la Niebla, Barcelona, 1993), Bd.2: Der Mitternachtspalast (DMP), Frankfurt a.M., 2010 (El Palacio de la Medianoche, Barcelona, 1994), Bd.3: Der dunkle Wächter (DDW), Frankfurt a.M., 2009 (span. Original Los Luces de Septiembra, Barcelona, 1995). Carlos Ruiz Zafón, Marina (M), Frankfurt a.M., 2012 (span. Original Marina, Barcelona, 1999).
3 Der Erinnerung wert sind insbesondere diejenigen, die emotional besetzt, und als erlebtes Gefühl gespeichert sind. Das Gedächtnis wiederum ist ein Transitbereich, in dem sich die Aktualität mentaler Prozesse spiegelt. Erinnerungen sind Bestandteil der personalen Identität, Gedächtnis ein kollektives, kulturelles Phänomen. Eine besondere Gruppe von erinnerungsfähigen Erlebnissen repräsentiert vergangene Ereignisse, die sich noch in der Gegenwart auf das Leben der Betroffenen auswirken. Diese Erinnerungen enthalten auch Informationen darüber, was ein Individuum oder eine Kultur im tiefsten Inneren ausmacht; kollektiv sowie individuell. Eine besondere Eigenschaft von Erinnerungen besteht darin, dass sie nicht bewusst hervorgerufen werden können. Ihre Inhalte grenzen ans Unbewusste, und tauchen oft dann auf, wenn sie am wenigsten erwartet werden. Erinnerungen benötigen einen Auslöser, der sie hervorruft. Walter Benjamin verdanke ich die Vorstellung, das Erinnerungen einem Tigersprung ins Vergangene gleichen, Geschichte, wie sie in einem Augenblick der Gefahr aufblitzt. Denn Erinnerungen, das weiß jeder, sind von dreierlei Qualität: erfreulich und angenehm, neutral und emotional ungefärbt oder schmerzhaft und unerwünscht. Die Zeit heilt alle Wunden, meint Cees Noteboom, und die Erinnerung kratzt sie wieder auf. Aber die Zeit existiert nicht, es sei denn, um zu verschwinden, und die Erinnerung schiebt den Fuß in die Tür (Cees Noteboom, Pariser Tage I, in: Die Dame mit Einhorn. Europäische Reisen, Frankfurt a.M., 1997:182).
Jugendliteratur als Initiationsgeschichten
Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane, unabhängig von ihrer Klassifizierung als Schauergeschichten (Mystery beziehungsweise Horror), sind klassische Initiationsgeschichten, deren Figuren und Ereignisse mit den Herausforderungen der Adoleszenz konfrontiert werden. In einem Interview erklärte Carlos Ruiz Zafón, dass ihm der Gedanke gefällt, dass das Erzählen von Geschichten alle Altersgrenzen überschreitet, und so hoffe ich, fährt er fort, dass sich auch die Leser meiner Erwachsenen-Romane auf diese Reise voller Magie, Geheimnis und Abenteuer begeben. Eine berechtigte Hoffnung, denn die Trilogie des Nebels ist eine All-Age-Phantastik, die aufgrund eines Rechtsstreits in der deutschen Übersetzung erst erscheinen konnte, als ihn bereits die beiden ersten Bände seines Hauptwerks, Der Friedhof der vergessenen Bücher, weltweit berühmt gemacht hatten. In einer an gesellschaftlich verbindlichen Initiationsritualen verarmten Epoche überbrückt Jugendliteratur mittlerweile den Übergang zwischen Romanen für Jugendliche und für Erwachsene. Victor Kray, eine der erwachsenen Nebenfiguren in Der Fürst des Nebels, teilt mit Max, der Hauptfigur, die sich noch in der Pubertät befindet, eine wichtige Erfahrung, die gleichzeitig das Programm der Trilogie des Nebels dekodiert: [...] dass sich das Leben eines Menschen in drei Phasen aufteilt. In der ersten Phase verschwendet man keinen einzigen Gedanken daran, dass man älter wird, dass die Zeit verrinnt und wir vom Tag unserer Geburt an einem einzigen Ziel entgegengehen. Nach der Jugend beginnt die zweite Phase, in der man sich der Vergänglichkeit des eigenen Lebens bewusst wird. Was zunächst nur eine innere Unruhe ist, entwickelt sich zu einer Flut an Zweifeln und Ungewissheiten, die dich für den Rest deiner Tage begleiten. Am Ende des Lebens schließlich steht die letzte Phase, in der man die Wirklichkeit akzeptiert und dem Kommenden resigniert entgegensieht. Im Laufe meines Lebens habe ich viele Menschen kennengelernt, die in einer dieser Phasen steckenblieben und nie darüber hinauskamen (FDN, 159-160). Dies zu reflektieren, und im eigenen Leben damit zurechtzukommen, diese Aufgabe erfüllen Initiationsgeschichten, die gerade in der Adoleszenz eine bedeutende pädagogische Funktion übernehmen können. Der Diskurs von Initiationsgeschichten schildert das Heranwachsen, das Erwachsenwerden, einer anfangs naiven Figur auf die Suche nach Antworten auf die Fragen des Lebens. Die Struktur der Erzählungen entspricht den drei rituellen Phasen der Übergangsriten (rite de passage), die die Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner beschrieben haben:
- Trennungsphase: Eine literarische Figur verlässt ihr Zuhause und ihre vertraute Welt, verliert ihren bisherigen Status und bricht ins Unbekannte auf.
- Schwellenphase oder Liminalität: Eine literarische Figur wird zum Schwellenwesen. Sie gerät in den ambivalenten Zustand der Statuslosigkeit (betwixt and between), in dem die alltäglich tragenden Bindungen und Strukturen aufgehoben sind, sie nicht mehr sind, was sie waren und noch nicht, was sie werden müssen.
- Wiedereingliederung: Nachdem die literarischen Figuren alle Herausforderungen bewältigt, alle Konflikte gelöst und sie eine eigenständige, selbstbewusste Persönlichkeit geworden ist, haben die Protagonist*innen den Übergang in die Welt der Erwachsenen vollzogen.
Auch in dieser Perspektive geht es um die persönliche Reife von Initianden, um die Selbstverwirklichung des Individuums, das sich allmählich durch die Bewältigung von Konflikten und Herausforderungen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft einstellt. Lösungen und Werte, Wachstum an Fehlern und Enttäuschungen, werden von oft erst nach mühsamem Ringen akzeptiert und schließlich von der Gesellschaft sanktioniert.
Der Autor und sein Genre
Der Magier der vergessenen Bücher, der katalanische Autor Carlos Ruiz Zafón, erlebte seinen großen Durchbruch im Jahr 2001 mit dem internationalen Bestseller La Sombra del Viento (Der Schatten des Windes, 2003). Damals war der 1964 in Barcelona geborene Autor in seiner Heimat bereits ein bekannter Jugendbuchautor: 1993 wurde er für sein Debüt, den fiktionalen Jugendroman El Principe de la niebla (Der Fürst des Nebels) mit dem Edebé-Preis für Jugendliteratur ausgezeichnet. Die narrative Welt des 2020 viel zu früh verstorbenen Autors ist eine Welt des Dunstes und der düsteren, klimatischen Atmosphären, anschaulich in seinen postum veröffentlichten Erzählungen La Ciudad de Vapor (Die Stadt des Dampfs) ausgebreitet, nicht nur in der Trilogie des Nebels, die diese Atmosphäre bereits im Titel mit sich bringt. Auch das Geschehen seiner späteren Barcelona-Romane für erwachsene Leser*innen, mit ihrer Mischung aus Grusel, Mystik und Thriller, der Tetralogie El cementerio de los libros olvidados (2001-2016; Der Friedhof der vergessenen Bücher, 2003-2017), verzauberte Leser*innen in aller Welt. Allein der erste Band der Tetralogie, La Sombra del Viento, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und verkaufte sich alleine in Deutschland über zwei Millionen Mal. Das Geschehen ereignet sich in düsteren Gassen, verlassenen Gebäuden und auf Plätzen, auf die enge, schattige Gassen münden, wo Bars und Cafés Zuflucht bieten, in verwunschenen Palästen, zwischen huschenden Schatten in Lost Places, deren Aura Charakter und Verhalten der Bewohner*innen prägen. Es gab eine Zeit, schreibt Carlos Ruiz Zafón über seine Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die Straßen Barcelonas bei Einbruch der Dunkelheit in Gaslicht getaucht wurden, und die Stadt am Morgen inmitten eines Walds aus Fabrikschloten erwachte, der den Himmel giftig scharlachrot färbte. Barcelona erinnerte damals an eine Felsküste, geformt aus Kirchen und Palästen in einem verschlungenen Labyrinth aus Gassen und Tunneln über denen ewiger Nebel lag. Die Nebel-Trilogie beherrscht diese Atmosphäre, in den ersten Kapiteln noch Vorspiel des Kommenden, das ein leichtes Schauern weckt, mit Ahnungen einhergeht, dass die Erzähler Mysteriös-Unheimliches, wenn nicht gar Schreckliches, erleben werden, über das sie uns nun, rückwärtsgewandt und in ihre Erinnerungen verstrickt, berichten.
Schauerromane oder Schauermärchen (Horror) sind ein Genre verstörenden, ängstigenden, schockierenden oder erschreckenden Inhalts, die bei den Leser*innen Gefühle der Abneigung und Distanzierung auslösen. Der Grusel dieser Erzählungen, ihre unheimlichen und beängstigenden Atmosphären, konfrontiert Figuren und Leser*innen gleichermaßen mit ihren tiefsitzenden Ängsten, Träumen und Fantasien, die archetypisch unbewusstes, psychisches Material ins Bewusstsein spülen, dass durch eine literarische oder cineastische Darstellung abgearbeitet werden kann. Sie fördern die Katharsis, ein reinigender Einfluss auf psychische Erregungszustände. Als Funktion der Tragödie benennt Aristoteles in der Poetik das Hervorrufen von Mitleid (eleos) und Furcht (phobos), Jammer und Schaudern, als die Affekte, die in der Tragödie abgearbeitet werden; das Mitleid mit dem ungerechten Schicksal der Protagonist*innen und die Furcht, dass es ihnen eines Tages ähnlich ergehen könnte. Die emotionale Anteilnahme am theatralischen oder literarischen Geschehen konfrontiert die Rezipient*innen mit ihren eigenen Gefühlen und Affekten, die in diesem Prozess sublimiert werden.3
Carlos Ruiz Zafón vermischt in Der Trilogie des Nebels die Genregrenzen, um so viel Schrecken wie möglich zu verbreiten. Das Geschehen seiner Jugendromane charakterisieren unheimliche, mysteriöse Erscheinungen, Monster, beunruhigende Träume und düstere Orte, die bis zum Ende der Erzählung geheimnisvoll bleiben und Handlung wie Atmosphäre bestimmen (Mystery):
- ein Spukhaus an der Küste, die Allgegenwart von grau-schwarzen, drohenden Wolkenbänken mit Gewittern im Gepäck und einem aufgewühlten Meer, ein im Nebel versunkener Skulpturengarten sowie ein untergegangenes, geheimnisvolles Schiff weisen auf das Böse hin, das schon einmal passiert ist und jetzt wieder geschieht (DFN);
- rätselhafte Ereignisse in der Vergangenheit einer Familie, das architektonische Meisterwerk eines seit Jahren verlassenen Bahnhofs und ein feuriger Zug, der durch das nächtliche Kalkutta spukt, konfrontieren Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden (DMP);
- ein Haus auf einer meerumtosten Klippe, das ein dichter Wald von einer majestätische Villa trennt, vollgestopft mit automatischem Spielzeug, ein undurchsichtiger, ehemaliger Spielzeugfabrikant mit dem sprechenden Namen Lazarus (DDW).
Die Antagonisten des Mysteriös-Gruseligen in Zafóns Jugendromanen sind literarische Tropen wie Geister, Dämonen, Zombies, Psychopathen, böse Clowns oder Hexer. Die Protagonist*innen der Erzählungen sind Jugendliche, die mit Hilfe von Freunden, durch logische Schlussfolgerungen und mit Hilfe ihrer Erfahrungen die Rätsel und Herausforderungen lösen müssen, die ihnen die Auseinandersetzung mit dem Antagonisten aufdrängt.
Carlos Ruiz Zafón hat vier fiktionale Jugendromane hinterlassen, von denen die ersten drei als eine Trilogie geführt werden. Doch eigentlich sind alle vier Romane eigenständige Erzählungen (standalone novels), sodass man besser von einer Anthologie spricht. Eine zusammenfassende, erzähltextanalytische Besprechung stößt auf gewisse Schwierigkeiten, denn die vier Romane lassen keine gemeinsame Perspektive zu. Der kleinste gemeinsame Nenner besteht darin, dass alle vier Erzählungen Schauerromane sind, in denen das Böse in die Welt von Jugendlichen in der Pubertät einbricht, sie bedroht und zu Entwicklungen zwingt, die sie auf dem Weg ins Erwachsenenleben bewältigen müssen. Vergleichbar sind die Figuren, die diesen Prozess durchlaufen, jugendliche Helden, denen Loyalität, Freundschaft, Liebe und Beharrlichkeit helfen, alle Schwierigkeiten gemeinsam durchzustehen. Damit endet auch schon die Vergleichbarkeit, da Erzählinstanzen, Erzählperspektive und Worldbuilding sowie die erzählte Zeit nur noch bedingt vergleichbar sind. Am besten erscheint es mir deshalb, den ersten und dritten und den zweiten und vierten Roman als Medaillen derselben Seite zu betrachten:
- Der Fürst des Nebels und Der dunkle Wächter sind Erzählungen, die in derselben erzählten Zeit und Welt spielen, in der ein heterodiegetischer Erzähler vom Schicksal seiner Figuren im epischen Präteritum erzählt.
- Der Mitternachtspalast und Marina sind dagegen Erzählungen, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Welten spielen: im Mitternachtpalast ein heterodiegetischer Ich-Erzähler, der als erzählendes Ich in den Paratexten auftritt, und der gleichzeitig als Figur der erzählten Welt agiert, während der Ich-Erzähler in Marina als erlebendes Ich ein homodiegetischer Erzähler ist.
Alle vier Romane zeichnet die charakteristische zafóneske Melancholie aus, die sachte zwischen den Zeilen schwebt, wie sie in der Kurzgeschichte Blanca y el Adiós so anrührend geschildert ist. Der Krieg, der unerwartete Umzug, oder die Entlassung aus einem Waisenhaus in eine ungewisse Zukunft, der Verlust der vertrauten Welt, eine mysteriöse Katze und ein Skulpturengarten im Nebel sowie ein einst prachtvoller, zur Ruine verkommener Bahnhof und eine Linksläuferuhr, all das zusammen bildet das Inventar von Zafóns Schauergeschichten für jugendliche Leser*innen.
3 Aristoteles, Die Poetik, Stuttgart, 2014:19.
Eine kurzgefasste Erzähltextanalyse
Die Erzählebene der Nebel-Trilogie ist vorwiegend extradiegetisch. Der Erzähler ist keine Figur der erzählten Welt, sondern berichtet als Außenstehender, in heterodiegetischer Erzählperspektive über die Ereignisse, die Max und seine Freunde erleben. Dabei übernimmt er hauptsächlich die Perspektive der Hauptfigur Max Carver, erzählt mit interner Fokalisierung, sodass es insbesondere die Gedanken und Wahrnehmungen von Max sind, die die Schilderung des Geschehens bestimmen. Es gibt allerdings auch Passagen, in denen die Sichtweise anderer Figuren fokalisiert wird, sodass die interne Fokalisierung zwischen mehreren Charakteren wechselt. Der Erzählmodus ist überwiegend personal und wirkt neutral. Die Ereignisse werden geschildert, ohne allzu stark zu werten. Der Erzähler bleibt im Hintergrund, sodass die Leser*innen den Eindruck bekommen, die Handlung selbst zu erleben. Dabei nimmt der Erzähler manchmal auktoriale Züge an, weil er mehr Wissen als die Figuren besitzt, Zugang zu den Gefühlen und Gedanken mehrerer Charaktere hat, was charakteristisch für den auktorialen Modus ist.
Erzählerrede dominiert weite Teile des Romans, in denen der Erzähler die Geschehnisse beschreibt und erklärt. Er bleibt neutral und oft im Hintergrund, lässt die Handlung und die Figuren aber aus einer distanzierteren Perspektive wirken. Auch diese Form der Erzählerrede ist charakteristisch für den auktorialen Modus, den Zafón in vielen Passagen verwendet. Erlebte Rede ist die häufigste Form der Erzählerrede, um die Gedanken von Max und anderen Figuren darzustellen, ohne dass sie explizit als direkter innerer Monolog gekennzeichnet ist. Die Gedanken und Gefühle der Figuren werden in der dritten Person ausdrückt; oft ohne direkte Markierung, dass es sich um Gedanken der Figur handelt. Max` innere Welt wird meistens indirekt geschildert, wenn er beispielsweise über das Spukhaus oder den seltsamen Nebel nachdenkt. Diese Technik schafft eine gewisse Nähe zur Figur, ohne direkt in die erste Person oder einen expliziten inneren Monolog zu wechseln. Innere Monologe, bei der eine der Figuren in der ersten Person gedanklich mit sich selbst spricht, gibt es selten, außer gelegentlich, in Momenten großer Anspannung oder Verwirrung. Bewusstseinsstrom (Stream of Consciousness) als narrative Technik, die die Gedanken und Assoziationen einer Figur in scheinbar ungeordneter Form unvermittelt dargestellt, ist für Zafóns Jugendromane untypisch. Seine Romane halten eine klare und geordnete narrative Struktur bei, die die Gedanken der Figuren auf zugängliche Weise vermittelt, ohne in die fragmentierte oder assoziative Form des Bewusstseinsstroms zu wechseln.
Figurenrede und Erzählerrede wechseln sich in der Nebel-Trilogie ab. Figurenrede (direkte Rede) findet sich in den Dialogen. Zafón setzt Dialoge geschickt ein, um die Beziehungen zwischen den Figuren zu verdeutlichen und die Handlung voranzutreiben. Die Gespräche zwischen Max und seinen Geschwistern oder seinem Freund Roland beispielsweise, aber auch mit den Erwachsenen, sind charakteristische Beispiele für die direkte Figurenrede.
Das Böse als Erzählfigur, Teil Zwei: Worldbuilding
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