Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane Die Trilogie des Nebels und Marina, Teil Zwei
. . . das Schloss, ein kathedralartiges Hirngespinst, Ausgeburt
einer überspannten, gequälten Phantasie . . . glich allmählich
einem in den Stein gehauenen, klaustrophobischen Schlund.
Carlos Ruiz Zafón
Vorbemerkung
Wer von einer Lektüre mehr erwartet als genüsslich spannende Unterhaltung, worin auch ihr eigentlicher Sinn besteht, mehr als bloßen Konsum dessen, was Autor*innen in monatelanger Arbeit in ihrer Fantasie konstruiert und auf hunderten Buchseiten inszeniert haben, findet einen besonderen Zugang zu einer Erzählung. Wer sich aufmacht, tiefer in die narrative Welt der Erzählfiguren einzutauchen, muss sich mit der erzählten Zeit und der erzählten Welt, dem Wordbuilding der Erzählung beschäftigen, die ihn eben erst verzaubert hat. Und besonders muss er die Figuren der erzählten Welt näher kennenlernen, die nicht mit dem Autor oder der Autorin, aus deren Fantasie und Feder die Erzählung floss, identisch sind. Es sind die Erzählfiguren, die dem Worldbuilding einer Geschichte Leben einhauchen. Mit ihnen steht oder fällt jede Erzählung. Um die Orte des Bösen und deren Atmosphäre in der Trilogie des Nebels näher zu bestimmen, beschränke ich mich in meinen Ausführungen auf diese beiden Phänomene, die Zafóns Romanen ihre innere Struktur verleihen:
- Einerseits sind das die Orte des Geschehens, denen eine spezifische Atmosphäre anhaftet, die sich in der Trilogie als Nicht-Orte manifestieren, wenn das Böse sie besetzt: Spukhäuser, Ruinen, verwilderte oder verlassene, abgelegene unheimliche Lost Places jeglicher Couleur als Rückzugsgebiete des Bösen.
- Andererseits die Manifestation dieser Atmosphären an den Nicht-Orten der Trilogie, den Antagonisten, die wie reale Personen auftreten, auf die ich im dritten Teil dieser Untersuchung eingehen werde.
Friedrich Wilhelm Murnau, der Magier der Stummfilmära, hat mit seinem Film Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens (1922) den klassischen Horrorfilm begründet, der auch »Der Schatten Nosferatus« heißen könnte. Ich weiß zwar nicht, ob Zafón dieses, oder ein ähnliches Bild vor Augen hatte, als er das Phantom seines Romans Der dunkle Wächter erfand, vorstellbar ist es, denn genau das ist es, was seine Phantome antreibt. Intertextuell unverkennbar sind allerdings die Beziehungen zur deutschen Romantik, zur englischen Gothic Novel und zur modernen, internationalen Phantastik, aus deren Perspektive Zafóns Romane wie Remakes großer Erzählungen wirken. Die folgende Auswahl stellt nur einige der möglichen Modelle für Zafóns Erzählkunst vor:1
- aus der deutschen Romantik: Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813); Wilhelm Hauff, Das Kalte Herz (1828) oder Der Affe als Mensch (1826); E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels (1815-1816), Die Automate (1814) sowie Die Doppeltgänger (1821);
- aus der britischen Gothic Novel: Mary Shelley, Frankenstein; Or, The Modern Prometheus (1818); Robert Louis Stevenson, Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde (1886); Edgar Allan Poe, The Fall of the House of Usher (1839) oder Das Fass Amontillado (1846);
- aus der modernen Phantastik: John Connolly, Die Verborgene Stadt (2003), Paul Auster, Stadt aus Glas (1985) sowie Stephen King, Es (1986) und die Reihe Der Dunkle Turm (1982-2004).
Die literarischen Werke dieser Autor*innen spiegeln sich in Zafóns Erzählweise und dem Einbruch des Phantastischen in das narrative Geschehen wider; seine düsteren, geheimnisvollen Atmosphären und die Verschmelzung von Realität und Illusion. Seine Themen sind mysteriöse, metaphysische Rätsel, Tod und das Phantastische im Spiel mit der Realität, das seine Figuren in eine Irritation nach der nächsten jagt, bis sie sich in ihrer Wirklichkeit nicht mehr wiederfinden. Das Böse bei Zafón trinkt nicht das Blut seiner Opfer, ihren Lebensstoff, wie Murnaus Nosferatu, sie sind auch keine Vampire im klassischen Sinn, dennoch ergreifen sie Besitz von den Figuren seiner Erzählungen, genauer von deren psychischer Befindlichkeit, und verzerren sie ins Absure und Groteske. Ihnen ist an der ätherischen Gestalt ihrer Opfer gelegen, die sich in ihrer Aura zeigt, und von der sie sich nähren. Sie ist weltberühmt, jene berührende Szene in Werner Herzogs Remake von Murnaus Klassiker, Nosferatu – Phantom der Nacht (1979), und von Klaus Kinski kongenial dargestellt, in der Autor zur Metapher des Schattens greift, um mit ihr das bevorstehende Grauen greifbar ins Bild zu setzen: Nosferatu steigt die Treppe zu Ellens Zimmer hinauf. Zu sehen ist nur sein riesiger Schatten an der Wand. Dann greift der Schatten seiner Hand nach der Türklinke: Dann fasst sie [Ellen] sich an die Brust, und man ahnt, dass Nosferatu sich nähert, und man sieht schon die ersten Schatten seiner Krallen über dem Leib - der Schatten ergreift zuerst Besitz von ihr, bevor er zubeißt.2
Wie Nosferatu, ein Untoter, keine Seele mehr besitzt, hat der böse Clown in Der Fürst des Nebels oder der Schatten in Der dunkle Wächter keinen Leib mehr, in dem er sich manifestieren kann. Ähnlich ergeht es auch dem feurigen Lokomotivführer Jawahal in Der Mitternachtspalast, der nur überleben kann, wenn er, wie Kronos, seine Nachkommen verschlingt, um sich ihre Körper als Vehikel für seine sonst nur schattenhafte Existenz zu sichern. Ihnen allen fehlt etwas Existenzielles, dass zum individuellen Leben gehört - Leib oder Seele - und macht sie zum Phantom. Murnaus Nosferatu ist nur noch Leib, während Zafóns Phantome nur die Schatten einstigen Lebens sind. Deshalb müssen sie das ihnen fehlende von lebendigen Menschen rauben, von den Kindern Roland (DFN) und Ben (DMP) die Körper, von Lazarus Jann (DDW) sein Herz, der Sitz des Lebens.
1 Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass Intertextualität auch innerhalb der Trilogie des Nebels eine große Rolle spielt. Symbole, Metaphern sowie narrative Versatzstücke hinterlassen in den vier Romanen eine deutliche Spur. Der Hinweis, was die strukturalistische Literaturtheorie unter Intertextualität versteht, kann an dieser Stelle nur eine Randbemerkung sein. Innerhalb einer kulturellen Struktur gibt es kein Element, also auch keinen Text, der nicht mit allen anderen Elementen (Texten) in Beziehung steht. Zwischen einzelnen Erzähltexten Zafóns bestehen interessante Bezüge, die es lohnt zu verfolgen. In den 1990ern war er, neben seiner Arbeit an Romanen, in Los Angeles als Drehbuchautor tätig, und man kann wohl davon ausgehen, dass er das filmische Schaffen seiner Zeit kannte: Eine Nebelbank, ein Geisterschiff und untote Seeleute, wie in Der Fürst des Nebels, bestimmen auch in John Carpenters Film The Fog die Handlung (1980). Und ein böser Clown (Pennywise oder Joker) ist der Antagonist in Stephan Kings Coming-of-Age-Roman Es (1986; Verfilmung 1990) sowie in Tim Burtons Batman (1989). Batmans Gegenspieler Joker, darauf werde ich im dritten Teil noch eingehen, ist mittlerweile zum Prototyp des bösen Clowns der Popkultur geworden.
2 Christiane von Wahlert, Vorstand der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden im Interview; WDR, Zeitzeichen, 28.12.2023.
Worldbuilding des Grauens
Die erzählte Zeit in der Trilogie des Nebels
Die erzählte Zeit, in der sich das Geschehen der Trilogía de la Niebla ereignet, ist leicht bestimmt, denn die Erzählfiguren geben sie exakt an: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, an einem kalten Wintermorgen im Jahr 1936, erliegt Armand Sauvelle, der Vater der 14jährigen Irene, der Protagonistin in Der dunkle Wächter, dem schwarzen Gespenst einer Krankheit, das den schwindelerregenden Abstieg der Sauvelles in die wirkliche Welt des Paris jener Tage auslöst (DDW, 12). Die an Wohlstand und Reichtum gewohnte Familie zerbricht an der Schuldenlast, die Armand ihnen hinterlassen hat, und ist gezwungen, das düstere Grau von Paris ein halbes Jahr später, im Juni 1937, zu verlassen, um vor dem Phantom des Unglücks, das sie seit Monaten verfolgte in die Arme eines noch böseren Phantoms zu fliehen (DDW, 14).
Als Max Carver, der Protagonist in Der Fürst des Nebels Barcelona verlässt, ist es Frühling, und der Krieg riss die Welt unaufhaltsam in den Abgrund. Der Erzähler von Max` Schicksal schildert ein paar Tagen im Sommer, Mitte Juni 1943. Alles beginnt mit dem Tag, als Max beinahe zufällig die Magie entdeckte (FDN, 5) und endet, als ein Sturm, der in der langen Nacht des 23. Juni 1943 an der Küste wütete (FDN, 312; 325), und die Orpheus zu zweiten Mal im Meer versenkt. Max hat Geburtstag, als die Erzählung beginnt. Er wird dreizehn Jahre alt, und bekommt von seinem Vater, einem Uhrmacher, eine besondere Uhr zum Geschenk (FDN, 9). Am Morgen des folgenden Tages werden sie abreisen (FDN, 6), und ein neues Haus an der Küste beziehen, denn die Stadt, in der sie leben, ist ihnen zu gefährlich geworden. Die Erzählung endet nur wenige Tage später (DFN, 312): Als sich der September dem Ende zuneigte und der Herbst vor der Tür stand, schien die Erinnerung an den Nebelfürsten aus seinem Gedächtnis zu schwinden wie ein Traum bei hellem Tageslicht (FDN, 323-333).
Die Ereignisse des ersten und dritten Romans der Nebel-Trilogie ereignen sich in den Jahren um den Zweiten Weltkrieg. Der zweite Roman der Serie, Der Mitternachtspalast, nimmt nicht nur aufgrund des Worldbuildings eine Sonderstellung ein. Die erzählte Zeit in Der Mitternachtspalast ist eine doppelte, denn das Geschehen der Erzählung verläuft über drei Jahrzehnte: in den Jahren 1916 und 1932, in Vergangenheit und Gegenwart der Figuren der erzählten Welt. Die doppelte Zeit spiegelt sich in der Verdoppelung der Erzählinstanz, ein erzählendes und ein erlebendes Ich. Die Zeit in Kalkutta, von der Ian im Mitternachtspalast erzählt, verbindet die vergangene Zeit der Erinnerung (1916) mit der gegenwärtigen Zeit des aktuellen Geschehens (1932), die narrativ voneinander abhängen. »Ein erfinderisches Volk, die Schweizer«, denkt Dorian, Irenes schüchterner Bruder. »Uhren und Schokolade, die Essenz des Lebens«. (DDW, 228). Diese harmlos klingende Sentenz, die Zafón Dorian Sauvelle in den Mund legt, ist bedeutender als auf den ersten Blick zu vermuten ist, denn in Zafóns Jugendromanen spielt die Zeit eine den Plot strukturierende Rolle. In seinen Romanen ist die erzählte Zeit einerseits nüchtern an absoluten Daten der Zeitgeschichte orientiert, andererseits wird sie durch eine symbolische Zeit gedoppelt. Während sich die Figuren den aus komplizierten Verhältnissen einer Stadt in die scheinbare Idylle einer Küste oder in die Ruine des Mitternachtspalasts flüchten, markiert ihre reale, historische Zeit das Voranschreiten des Geschehens. In Der Fürst des Nebels bekommt Max Carver, der Protagonist der Erzählung, von seinem Vater, einem eigenwilligen Uhrmacher, eine glänzende Taschenuhr, die an einer Kette baumelte, zum Geburtstag geschenkt (DFN, 12). Im Lauf der Ereignisse bekommt die Taschenuhr von Max eine besondere Bedeutung, nicht nur, weil sie ein besonderes Geschenk ist: Die habe ich für dich gemacht. Herzlichen Glückwunsch, Max.
In Marina dringt der Erzähler Óscar Drai in ein verlottertes altes Haus ein, weil ihn eine Katze fesselt, die Kafka heißt, und die einen Sperling auf seiner letzten Reise in die Unendlichkeit eines verdammten Eden davonträgt. Óscar glaubt, dass dieses Haus mehr als nur die Geister eines verschwundenen Barcelonas beherbergt, und folgt einer Melodie, die aus dem Haus kommt. Drinnen findet er eine golden glänzende Taschenuhr mit Gravur, die dem Maler Germán Blau gehört. Als ihn der Bewohner des Hauses plötzlich überrascht, steckt er sie erschrocken ein und nimmt sie ungewollt mit. Die Zeiger auf dem zersplitterten Zifferblatt der Uhr, wie auch anderer Uhren in den Zafóns Jugendromanen, waren stehengeblieben und das Uhrwerk zunichtegemacht (M, 19; 22). Die Zeiger der Uhr waren ewig zu sechs Uhr dreiundzwanzig verdammt. Auf die Rückseite ist eine Inschrift eingraviert: Für Germán, aus dem das Licht spricht, und darunter die Jahreszahl 1964, die an eine vergangene, glücklichere Zeit erinnert, in der aber auch die Ursachen für das Geschehen der Erzählung liegen, die weit über das Schicksal Germáns hinausweisen (M, 21-22). Germáns Taschenuhr bildet eine Zäsur in Óscar Lebens, wie auch die Uhr, die Max zum Geburtstag geschenkt bekommt, und lenken das Leben der jugendlichen Figuren in unvorhergesehene Bahnen. Im dritten Roman der Trilogie, Der dunkle Wächter, erzählt eine der Figuren dem jugendlichen Dorian Sauvelle die Geschichte des Uhrmachers Hermann Blöcklin, der seine Seele in eine Uhr sperrt, und diese im Stil der Schauermärchen der deutschen Romantik, an den zwielichtigen Andreas Corelli verkauft, dem die Leser*innen im Friedhof der vergessenen Bücher wiederbegegnen werden (DDW, 156-165).
Die Symbolik der Uhren
Die Welt der fiktionalen Jugendromane von Carlos Ruiz Zafón lebt von der atmosphärischen Spannung, die die Polarität von Licht und Finsternis, hellen, lichtdurchfluteten sowie düsteren, unheimlichen Orten, auslöst. Die Figuren fliehen aus einer dunklen, grauen Welt des Elends und Verlusts, um für kurze Zeit zu erfahren, dass es daneben auch Welten des Lichts und des Friedens gibt. Doch viel zu schnell werden sie von der Welt, die sie dachten, hinter sich gelassen zu haben, wieder eingeholt. Eine der finalen Szenen in Der dunkle Wächter drückt dieses Dilemma treffend aus: Zunächst einmal erlauben Sie mir die Feststellung, erläutert Lazarus Jann den Leser*innen, dass der Mensch nach einigen Stunden ohne Licht das Zeitgefühl verliert. […] Zeit und Licht hängen eng zusammen (DDW, 266), eine für den Roman bedeutsame Randbemerkung, die der Autor einen seiner Protagonisten stellvertretend äußern lässt.
Auch Max` Taschenuhr ist nicht nur ein besonders schönes und wertvolles Artefakt, und gleicht der von Germán, sie ist auch ein Symbol für eine neue Phase im Leben von Max. Noch ist sie unversehrt, anders als die von Germán, und misst korrekt die Zeit, denn noch ist das Leben von Max im Gleichgewicht: Die vollen Stunden waren als zu- und abnehmende Monde dargestellt, und die Strahlen einer Sonne, die ihn von der Mitte des Ziffernblatts anlächelte, bildeten die Zeiger. Auch diese Taschenuhr besitzt eine Widmung, die auf Max` Entdeckung der Magie und auf die kommenden Ereignisse anspielt: Max´ Zeitmaschine, die wie die Leser*innen noch früh genug erfahren werden, ihn plötzlich in eine andere Zeit katapultiert (DFN, 9-10). Nur wenige Seiten später, auf dem Bahnhof ihres neuen Wohnorts, entdeckt Max eine zweite Uhr, vergleicht die Zeit mit seiner Taschenuhr, und stellt verwundert fest: die Bahnhofsuhr geht falsch (FDN, 18). Der Hinweis auf eine andere Zeit in einer anderen Realität? Mit der Ankunft an ihrem neuen Wohnort hat sich etwas unumkehrbar verändert. Zum ersten Mal ergreift Max eine Unruhe, dass etwas nicht stimmt, denn er erinnert sich genau, dass die Uhr bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof halb eins gezeigt hatte. Jetzt standen die Zeiger auf zehn vor zwölf. […] Die Uhr war nicht kaputt, wie Max feststellt. Sie funktionierte einwandfrei, mit einer einzigen Besonderheit: Sie ging rückwärts (FDN, 23-24). Eine Zeitmaschine in Form einer Uhr, eine Linksläuferuhr, rätselhafte Gravuren, Zafón benutzt diese Bilder, um eine Irritation in das Geschehen einzuführen, die an die Zeit anknüpft, die sich irgendwie falsch anfühlt, und die bei den Leser*innen die Erwartung nährt, etwas Außergewöhnliches liege in der Luft. All das zusammen bildet das Fundament für eine Schauergeschichte nicht nur für jugendliche Leser*innen. Die Taschenuhr repräsentiert die individuelle Zeit von Max, die von Germán, und die sich eigenartig verhaltenden Bahnhofsuhren, oder die mechanische Uhr in Cravenmoore, stehen für eine Veränderung der erzählten Zeit in der erzählten Welt, in der die Uhren anders gehen, und andere Ereignisse zeitigen. Im letzten Kapitel des Fürsts des Nebels betrachtet Max die alte Bahnhofsuhr, und stellte fest, dass ihre Zeiger nun endgültig stehengeblieben waren; eine Lebensphase ist endgültig vorbei (FDN, 327).
In Der Fürst des Nebels tritt eine Uhr, meist ist es die Taschenuhr von Max, immer dann auf, wenn sich die Handlung aus der realen Zeit entfernt, und das Geschehen an einen Nicht-Ort führt, den der Antagonist besetzt hält. Max` Taschenuhr erscheint in einem Super8-Schmalfilm, der Jahre bevor die Taschenuhr in seinen Besitz kam, gedreht wurde, wo sie an der Kette einer weißen Hand baumelte. Der Hand einer Statue, die Max in der Nähe des Strandhauses gesehen hat (FDN, 203). Einen Moment später beginnt der Zeiger der Uhr sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen und Max` Taschenuhr, die er außerdem vor ein paar Tagen in Jacob Fleischmanns Grab verloren hatte, [...] befand sich in der Gewalt des Magiers, der Max` kostbarsten Besitz auf unerklärliche Weise in die unwirkliche Dimension der Schwarzweißbilder (des Films) mitgenommen hatte, die aus dem alten Projektor fluteten. Max verfolgt entsetzt, wie die Zeiger in einer unwahrscheinlichen Geschwindigkeit immer schneller rückwärtsliefen, bis Rauch aus dem Zifferblatt quoll, Funken sprühten, und schließlich die Uhr in Flammen aufging (265-266), und sie ihre eigentliche Funktion, wie die von Germán, nicht mehr erfüllen kann. Als Irene Sauvelle durch den unheimlichen Korridor in Cravenmoore schleicht, wie durch einen atemberaubenden und zugleich beängstigenden Traum, schlägt eins von den mechanischen Uhrengesichtern in Form einer Sonne die Augen auf und lächelt ihr zu. Die Sonne ist freundlich, sie lächelt aufmunternd, und Irene scheint sich noch in der realen Welt zu befinden. Als der Stundenzeiger auf Mitternacht wanderte, drehte sich die Scheibe um und an die Stelle der Sonne trat ein Mond, von dem ein gespenstisches Leuchten ausging (DDW, 196). Die Veränderung der Uhr taucht den Korridor in eine unheimliche Atmosphäre, die auf bevorstehendes Unheil verweist. Es ist Mitternacht, die Geisterstunde, und das Lächeln des Zifferblatts verwandelt sich in ein gespenstisches Leuchten. Irene betritt eine andere Zeit und, wie sich zeigen wird, einen Nicht-Ort, dessen Aura ein Grauen ausströmt. Max sieht seine Taschenuhr noch zwei weitere Male, jedes Mal in einer Situation, die nicht zu seiner realen Welt gehört, das letzte Mal in einer albtraumhaften Szene unter Wasser (FDN, 265-266). Obwohl die Uhr bereits in Flammen aufgegangen ist, wird sie in der finalen Auseinandersetzung der Erzählung erneut zerstört. Mit der Zerstörung der Uhr verschwindet auch das Phantom: Max hörte das Metall knirschen. Als der Magier die Handfläche wieder öffnete, war von dem Geschenk des Vaters nur noch ein unkenntliches Häuflein verformter Schrauben und Muttern übrig. Die Symbole Zeit und Uhr gliedern die erzählte Welt in zwei Sphären: die reale Welt der Figuren, in der sie sicher auf vertrautem Boden sind, und in das Reich der Phantome, Gespenster und Dämonen, wo sie, aus ihrer Zeit gefallen, in Lebensgefahr geraten. »Die Zeit, mein lieber Max, eröffnet ihm der Fürst des Nebels, existiert nicht. Sie ist eine Illusion«, eine weitere bedeutsame Randbemerkung, die sehr einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit klingt (FDN, 302-303).
Gemeinsam symbolisieren die Uhren in der Trilogie des Nebels Risse in der Zeit, in die die Figuren unversehens geraten, und auf der Schwelle, wie im Traum, zwischen Realität und Illusion wanken. Noch weiß Max es nicht, aber die Uhren sagen den Figuren, dass sie zu Schwellenwesen geworden sind, die einen Blick an Orte werfen, die nicht zu ihrer realen Welt gehören, und wo eine vergangene Zeit mit ihren Geheimnissen endlos wiederholt wird, bis die Antagonisten, die sich an diese Zeit als ihre letzte Realität klammern, erlöst werden. Die Zeit, die sich an diesen Nicht-Orten manifestiert, ist nicht die reale Zeit der Figuren, sondern eine rückwärtsgerichtete Zeit, aus der realen Welt ausgesondert, funktionsfähig nur in einer Grenzwelt, in die Max seine Zeitmaschine versetzt hat. Uhren stehen still, sind defekt oder gehen rückwärts, wie auch die Uhr von Ismael, deren Zifferblatt, als er mit Irene in der Fledermaushöhle gefangen ist, voller Wasser [stand], und der abgerissene Sekundenzeiger erinnerte an einen versteinerten Aal in einem Fischglas (DDW, 242). Die Uhren symbolisieren ein paralleles, geschlossenes Zeitresiduum, dass sich innerhalb der realen Zeit und Welt der Figuren immer nur temporär öffnet, eine Zeit, die einen Blick durch einen Spalt aus der realen Wirklichkeit in eine parallele Realität ermöglicht, in der andere Regeln gelten. Eine Zeit, wie im Traum, die stillsteht und unwichtig wird.
Das Symbol der Uhr (der Zeit) als ein narratives Motiv, dass immer wiederkehrt, bildet den latenten Rahmen von Ereignissen in der Trilogie des Nebels, die nicht in die reale Zeit gehören. An Nicht-Orten öffnet die Nicht-Zeit einen Riss in Raum und Zeit: ein unheimlicher Skulpturengarten, ein Wanderzirkus, ein verlassener Bahnhof, eine verwunschene Villa, Ausblick und Chance einer personalen Entwicklung, mitten in der Adoleszenz der jugendlichen Figuren, die sie ergreifen müssen, um zu überleben. Wenn sie sich nicht darauf verlassen können, dass die Zeit nur in einer Dimension gültig ist, sondern auch die Welt der Fantasie und des Traums umfasst, und zwei unterschiedliche Wahrnehmungen strukturiert, dann ist sie nicht konstant und keine verlässliche Größe mehr, denn Uhren, die sie messen sollen, funktionieren nur in einer Dimension. Deutlicher als die Uhr mit den zerflossenen Zeigern (DMP, 261), die Bahnhofsuhr in Jheeter`s Gate in Der Mitternachtspalast, die frappierend an Dalís Gemälde der weichen Uhren erinnert, lässt es nicht sagen. Leonard Cohens bringt diesen Entwicklungsschritt in die Liminalität im Refrain der Hymne Anthem poetisch auf den Punkt. Die Figuren vernehmen den Klang der Glocken und werden zu Schwellenwesen: Ring the bells that still can ring / forget your perfect offering / there is a crack, a crack in everything / thats how the light gets in. Dieses durchschimmernde Licht der Hoffnung, dass letztlich alles gut wird, dass Tolkien in Über Märchen als Eukatastrophe bezeichnet, eine Beharrlichkeit gegen jeden äußeren Anschein, beschwört auch Carlos Ruiz Zafón in der Trilogie des Nebels, ein Licht, dass über jeden Schrecken hinaus nicht vergeht, und die Hoffnung auf Zukunft aufrechterhält.
Die erzählte Welt in der Trilogie des Nebels
Die erzählte Welt der Nebel-Trilogie erwartet die Leser*innen mit ähnlichen narrativen Strategien und Motiven, die, wie die erzählte Zeit, dazu dienen, durch eine unheimlich-mysteriöse Stimmung der Umgebung, beunruhigende oder irritierende Atmosphären zu schaffen, die auf Kommendes hindeuten, das in anfangs noch hoffnungsvoller Stimmung unausgesprochen bleibt
Die Erzählungen Der Fürst des Nebels und Der dunkle Wächter beginnen mit einem Umzug; der erste Roman aus einer namenlosen Stadt hoch über den Dächern der Altstadt (FDN, 5), mitten im Zweiten Weltkrieg, im dritten Roman aus dem düsteren Grau von Paris (DDW, 15), eine Flucht aus der Stadt aufs Land, in ein Strandhaus an einem langen Strand oder hoch oben auf einer Klippe, an der die Brandung tobt. Anders als in den beiden anderen Romanen ist die erzählte Welt in Der Fürst des Nebels unbestimmt, aufgrund der Personennamen und wenigen Andeutungen vielleicht irgendwo an der Küste Südenglands: die Vergnügungspaläste auf den Piers erinnern an die südenglischen Badeorte, die weit ins Meer ragen, die Gebäude darauf strahlten wie ein vom Himmel schwebender Kristallpalast (FDN, 170), der Hinweis auf den holländischen Kapitän (FDN, 189), dessen bevorzugte Kunden waren Schmuggler, die den Ärmelkanal überqueren wollten (FDN, 119).
Der dritte Roman benennt Ort und Ziel des Umzugs der Familie Sauvelle in ein idyllisches Dorf an der französischen Kanalküste; nach Baie Bleue, eine fiktive Blaue Bucht, in die Nähe der Meerenge von La Rochelle gelegen (DDW, 172). Irene kann von ihrem Fenster aus die Leuchtturminsel und die Lichtflecken sehen, die die Sonne auf den Ozean malte, Seen aus gleißendem Silber (DDW, 19); in der Ferne die Lichter der Schiffe im Ärmelkanal (DDW, 20). Die Blaue Bucht, an der ihre neue Heimat liegt, war eine paradiesische Umgebung, um ein neues Leben anzufangen (DDW, 35).
Es fällt nicht schwer, sich die namenlose Stadt, aus der die Familie Carver flieht, wie Zafóns Beschreibungen von Barcelona nach der Machtergreifung Francos vorzustellen. Einige willkürlich gepflückte Textschnipsel aus Marina bilden eine kleine Skizze der zafónesken Atmosphären Barcelonas, in der seine Figuren agieren: Die meisten Herrschaftsvillen, die seinerzeit das Gelände nördlich des Paseo de la Bonanova besiedelt hatten, standen noch da, wenn auch nur als Ruinen (M, 15). Zwei alte leerstehende Lagerräume und ein vor Jahrzehnten von den Flammen verzehrtes Haus – das war alles, was noch stand (M, 47). Die Armut und das Elend dieses Viertels waren in der Luft zu riechen [...] Die erleuchteten Kioske sahen aus wie gestrandete Schiffe (M, 221). Efeubewachsene Mauern versiegelten den Zugang zu wilden Gärten, in denen sich monumentale, von Unkraut und Vernachlässigung heimgesuchte Paläste erhoben, in welchen die Erinnerung wie hartnäckiger Nebel zu schweben schien. Viele dieser Kästen warteten auf ihren Abbruch, andere waren jahrelang ausgeplündert worden. In einigen gab es noch Menschen (M, 15). Wir waren im verzauberten Barcelona angelangt, dem Labyrinth der Geister, wo die Straßen legendenhafte Namen trugen und die Kobolde der Zeit sich hinter uns tummelten (M, 227). Zafóns Ortsbeschreibungen, wie in Marina oder im Friedhof der vergessenen Bücher, findet man überall in seinem Werk. Es sind Lost Places und Edgelands, die Gespenster längst vergangener Tage heimsuchen, wie es auch die Phantome in der Trilogie des Nebels tun.
Die Idylle der ersten Szenen, wie sie in Der Fürst des Nebels oder Der dunkle Wächter beschrieben werden, bilden eine Ausnahme unter all den düsteren, Melancholie atmenden Orten Zafóns. Die hoffnungsvolle und friedliche Stimmung, die diese Orte anfangs auszustrahlen scheinen, täuscht die Figuren und die Leser*innen, zeigt ihnen ein Dorf mit verschnörkelten, viktorianischen Häusern, eine lange, gewundene Parade spitzer Giebel und farbiger Schiebefenster, die den Eindruck eines Spielzeugstädtchens machen (FDN, 26). Max ist anfangs von seiner neuen Umgebung fasziniert, von dieser endlosen Fläche aus Licht und Helligkeit, vom elektrischen Blau des Meeres - wie eine übernatürliche Erscheinung (FDN, 14). Ihm kommt es vor, als ob er seine Welt, das aschfarbene Licht der Altstadt, [...] zeitlebens in Schwarzweiß gesehen hat und sie mit einem Mal zum Leben erwacht ist, in leuchtenden, kräftigen Farben, die er beinahe berühren konnte (FDN, 14). Irene ergeht es ähnlich, die sich glücklich in einer neuen Umgebung wiederfindet, ein idyllisches Dorf mit der kleinen Fischermole, der endlose weiße Sandstrand des Engländers und ihr neues Zuhause, an der Nadel des Kaps, die sich wie eine spitze Kralle ins Meer bohrte. [...] An seiner äußersten Spitze, die den Ort von dem breiten Golf trennte, der von den Einheimischen wegen des tiefen, dunklen Wassers die Schwarze Bucht genannt wurde. [...] Eine kleine Leuchtturminsel ragte dunkel und geheimnisvoll aus den Nebenschwaden auf (DDW, 17-18). Es sind Orte, an denen sich auch die Leser*innen wünschen könnten, zu leben, die kleine, friedliche Welt eines winzigen Spielzeugdorfs, wie von einem Modelleisenbahnsammler gebaut [...] wie aus dem Schaufenster einer Spielwarenhandlung, so erlebt Max seine neue Umgebung (FDN, 16). Von diesem Tag an, beschließt Max, würde er nie wieder an einem Ort leben, von dem aus er nicht jeden Morgen beim Aufwachen dieses blendende blaue Licht sehen würde, das wie ein magischer, durchsichtiger Dunst zum Himmel aufstieg (FDN, 15); das Meer und das Licht: eine heile und friedliche, dennoch bedrohte Welt. Die Landschaft hat ihn gefangengenommen, kaum, dass er die Meeresküste erblickt hat: ... eine endlose Fläche aus Licht und Helligkeit ... das elektrische Blau des Meeres . . . in leuchtenden kräftigen Farben ... wie eine übernatürliche Erscheinung ... jeden Morgen beim Aufwachen dieses blendende blaue Licht ... von demselben strahlenden Licht erfüllt... ein magischer, durchsichtiger Dunst zum Himmel aufstieg ... der von Licht und Stille durchfluteten Straßen ... wie sich das Meer in der Abendsonne golden färbte (FDN, 14-17). Doch in die friedlich wirkende Idylle schleichen sich zuerst allmählich, dann immer häufiger, seltsame, beunruhigende oder mysteriöse Beobachtungen in den Erzähltext wie fallengelassene Brotkrumen, die von den Figuren ignoriert oder nur am Rand wahrgenommenen, und angesichts des Idylls verblassen. Das unterschiedliche Licht, die unterschiedliche Atmosphäre im ersten und dritten Nebel-Roman, der von Max und Irene geografisch getönte Gegensatz von Stadt (düster) und Land-Meer (hell), als Dualismus von Licht und Finsternis, bildet neben dem Symbolismus der Uhr-Zeit einen zweiten Marker und ein weiteres Indiz, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Von Beginn an spürt Max eine Unruhe, und auch Irenes Begeisterung ist nicht ungetrübt. Erst viel später erinnert sich Max deutlich an sein eigenartiges Gefühl des ersten Tags, und daran, dass er ungewollt und unbemerkt eine Schwelle überschritten hat: Er spürte, dass zum ersten Mal in seinem Leben die Zeit schneller verrann, als ihm lieb war, und er sich nicht länger in die Träumereien der vergangenen Jahre flüchten konnte. Das Rad des Schicksals hatte sich zu drehen begonnen, und er hatte keinen Einfluss darauf (FDN, 135-136).
Die erzählte Welt, die bei der Ankunft der Protagonist*innen an ihrem neuen Wohnort eine friedliche Welt zu sein scheint, verwandelt sich schnell in eine Ansammlung unheimlicher Orte, die in eine andere Wirklichkeit zu gehören scheinen. Mit der gleichen Atmosphäre wiegt Alfred Hitchcock sein Publikum in seinem Film Die Vögel in Sicherheit, täuscht das Publikum mit der sonnigen, friedlichen Stimmung des Städtchens Bodega Bay, wo jeder gerne Urlaub macht. Wären da nicht die Vögel, die sich plötzlich merkwürdig verhalten, oder eine mysteriöse Katze, die Max das sichere Gefühl gibt, beobachtet zu werden, die ihn unverwandt anstarrte, als könne sie Gedanken lesen. (FDN, 19), und von der er glaubt: Sie hat auf uns gewartet (FDN, 23). Nach der rückwärtsgehenden Bahnhofsuhr der zweite Riss in der heilen Welt des Spielzeugstädtchen, auf die nur einen Moment später eine zweite Irritation folgt, eine streunende Katze bei ihrer Ankunft am Bahnhof, die seine Schwester Irina aus Mitleid mit nach Hause nimmt. Als die Familie Carver ihr neues Domizil erreicht, stehen die Zeiger der Uhr auf zehn vor zwölf (FDN, 23-24). Eine Warnung kommenden Unheils: Es ist kurz vor Zwölf.
Die lichten Tage der Ankunft sind mit dem Einzug in das Haus am Strand, hinter dem sich ein mysteriöser Skulpturengarten befindet, der meistens im Nebel verborgen liegt, und dessen Bedeutung sich erst allmählich enthüllt, endgültig vorbei. Den Gegenpol des dörflichen Idylls bildet das Spukhaus am Strand: Eine Weile lauschte er [Max] auf die tausend winzigen Geräusche, die ein Haus macht, wenn es glaubt, niemand würde es hören (FDN, 92). Und auch Max` Vater begrüßt das Haus mit seiner dekadenten Aura: Als Maximillian Carver feierlich das Haus aufschloss, entwich ein modriger Geruch durch die Tür wie ein Gespenst, das jahrelang in den Wänden gefangen gewesen war. Das Innere war erfüllt von einem dämmrigen Licht, das durch die geschlossenen Fensterläden drang (FDN, 34-35). Als Irina, Max` jüngere Schwester, später allein im Haus ist, hört sie Stimmen. Zuerst glaubt sie an eine akustische Halluzination: Doch dann hörte sie sie wieder, in ihrem Zimmer diesmal, wie ein Flüstern durch die Wände drang [...] als sie spürte, wie ein kalter Windhauch über ihr Gesicht strich. Er fegte durch das Zimmer und warf krachend die Tür ins Schloss. Während sie sich vergeblich bemühte, die Tür zu öffnen, hörte sie, wie sich hinter ihr der Schlüssel der Schranktür langsam im Schloss drehte. [...] Aus dem Dunkel des Kleiderschranks tauchte eine Gestalt auf. Für einen Moment glaubte Irina, ihr Herz würde stehenbleiben vor lauter Angst. Dann seufzte sie. Es war ihre Katze. [...] Doch dann bemerkte sie, dass hinter der Katze, ganz tief im Schrank, noch jemand oder etwas war [...] Ein Grinsen flammte im Dunkel auf, und zwei golden glühende Augen richteten sich auf Irina, während die Stimmen wie aus einer Kehle ihren Namen riefen (FDN,116; 124-125).
Dann entdeckt Max zum ersten Mal den vom Nebel verhüllten Skulpturengarten am Rand des Grundstücks, den er zuerst meidet. Doch dann reizt ihn der geheimnisvolle Anblick, und er geht hinüber und durch das Tor hinein. Die gespenstische Nähe des Skulpturengartens und die Vorfälle an diesen ersten Tagen im Dorf bewiesen, dass ein unheilvoller Mechanismus in Gang gesetzt worden war (FDN, 196). Ein immer wiederkehrender, sechszackiger Stern in einem Kreis, dunkle Schatten in einem nach Moder und Verwesung reichendem Grab und der Untergang eines Schiffs mit einer gruseligen Geschichte, all dies sind vertraute Motive und Klischees, aus denen sich ein Worldbuilding des Horrors generieren lässt, das angenehme Schauer den Rücken hinabrieseln lässt, mit dem die Spannung immer wieder an die Grenze der Erträglichen gesteigert wird, bis endlich der Antagonist, das Phantom, erscheint: Schließlich näherte sich die Kamera langsam der Figur, die in der Mitte des sechszackigen Sterns thronte. Der Clown. Doktor Cain. Der Nebelfürst. Zu seinen Füßen sah Max die reglose Gestalt einer [steinernen] Katze liegen, die ihre scharfen Krallen ausfuhr, die eine beunruhigende Ähnlichkeit mit der Katze hatte, mit dem Maskottchen, das Irina am ersten Tag auf dem Bahnhof aufgelesen hatte (FDN, 204). Das steinerne Gesicht veränderte sich [...] Die Pupillen der steinernen Augen weiteten sich, und die Lippen verzogen langsam sich zu einem grausamen Lächeln und gaben den Blick auf eine lange Reihe spitzer Wolfszähne frei (FDN, 206).
Später kompletiert das Wrack des versunkenen Schiffs mit dem bedeutungsschweren Namen Orpheus die grausige Szenerie. Im Mitternachtspalast verwandelt Zafón ganz Kalkutta in einen Nicht-Ort, wenn eine feurige Lokomotive durch Straßen und Hauswände rast, ein leerstehendes Haus sich mit Gerüchen und Geräuschen füllt und die aufgegebene Bauruine eines Bahnhofs, einst das Prestigeobjekt der Stadt, zum Schauplatz schauriger Ereignisse mutiert. Als Victor Kray, der Großvater von Roland, einer der Hauptfiguren im Fürst des Nebels, am Haus am Strand ankommt, kriecht dichter Nebel durch die Gitterstäbe am Eingang des Skulpturengartens auf das Haus zu. [...] Bald hatte ihn der Nebel, der aus dem Inneren des Gartens quoll, bis zur Taille eingehüllt. (FDN, 258-259), und der Skulpturengarten, wo im Zentrum die Skulptur eines bösen Clowns auf einem Sockel stand, war leer. (FDN, 259). Für Victor Kray, für den die Ereignisse am Strand eine Wiederholung der Vergangenheit sind, war das Geschehen der letzten Tage nur Vorzeichen für das, was noch kommen muss. […] Und an Max gewandt fährt er fort: »Schon seit Tagen passieren merkwürdige Dinge.« (FDN, 223).
Klimatische Atmosphären und Orte des Bösen und des Grauens
Als der Tag anbrach, lag der Himmel unter einer bedrohlichen Wolkendecke, die sich bis zum Horizont erstreckte (FDN, 143). Die glückliche Zeit, die Max und Irene am nordfranzösischen Strand erleben, sind schon nach wenigen Tagen vorbei. Eigentlich gab es sie nie wirklich, denn die Hauptfiguren der Erzählungen, die Jugendlichen, ahnen von Beginn an, dass nichts so ist, wie es scheint. Nur die Erwachsenen sind blind oder wollen in ihrem Glück, widrigen Umständen entkommen zu sein, nicht wahrhaben, was sich um sie herum ereignet. Nach der trügerischen Ruhe und den beunruhigenden Andeutungen der ersten Kapitel ahnen genre-kundigen Leser*innen bereits, dass sich etwas zusammenbraut, das die Hoffnungen der Protagonist*innen und ihrer Familien zerstören wird. Im Laufe der Erzählungen gerät die Welt der Figuren zunehmend aus den Fugen, was sich besonders im Wetter spiegelt, in wallende, alles verhüllende Nebel, im trüben, grauen Licht von Gewitter und Sturm. Carlos Ruiz Zafón konstruiert, besonders im ersten und dritten Band seiner Nebel-Trilogie, ein düsteres Worldbuilding klimatisch erzeugter Atmosphären und unheilvoller, abgelegener Orte, an einsamer Küste, auf Friedhöfen, denn nichts anderes ist der Skulpturengarten, oder in tiefen, labyrinthischen Wäldern, die ein Geheimnis bergen.
Die klimatisch getönte Polarität von Licht und Finsternis in Der Fürst des Nebels bewertet Max als gut und angenehm (Licht) oder böse und abstoßend (Schatten), als heile Welt oder als gefährliche Finsternis, eine Polarität, die sich in allen fiktionalen Romanen Zafóns findet, und die ebenfalls in seiner Tetralogie der vergessenen Bücher eine wichtige Rolle spielt. Sie ist das Markenzeichen des Zafónesken. Den Strand und das Meer kontrastiert Zafón mit dem Ort, an dem die Familie Carver im ersten Band der Trilogie in den Wirren des Zweiten Weltkriegs eine Zuflucht finden will: ein seit Jahren verlassenes Strandhaus mit zweifelhaftem Ruf. Schon als Max das erste Mal in das Haus kommt, ergreift ihn das Gefühl, ein Eindringling in einem fremden Zuhause zu sein, das er in dem Haus am Strand vom ersten Tag an empfunden hat (FDN, 200). Das Strandhaus bildet den räumlichen Kontrapunkt und vermittelt zwischen dem Licht des Meers und der kommenden Dunkelheit. Während die Atmosphäre in der Trilogie des Nebels durch ein einsames Strandhaus, in dem es spukt, im Mitternachtspalast durch den mysteriösen Bahnhof Jheeter`s Gate, in Der dunkle Wächter durch die Villa eines Exzentrikers oder eines Gewächshauses in einem verwilderten Garten Barcelonas und dem verlassenen Teatro Real in Marina, zunehmend bedrohlicher und bedrückender werden, ist auch die Küste und das Meer schließlich keine helle und leuchtende Fläche mehr. Entsprechend schildert Max die Atmosphäre des Strandhauses in Metaphern von unheimlicher, düsterer Dunkelheit: . . . ein modriger Geruch durch die Tür wie ein Gespenst . . . erfüllt von einem dünnen Staubschleier und dämmrigen Licht . . . die Holzdielen knarrten leise . . . eine Spinne von beachtlicher Größe . . . eine in den nächtlichen Nebel gehüllte Gestalt . . . die unheimliche, in der Dunkelheit raunende Gestalt . . . Nebelschwaden aufriss, die langsam über die Wiese zogen ... der im Nebel des Skulpturengarten vor sich hin grinste (FDN, 35-41).
Die erzählte Welt der Trilogie des Nebels verdankt ihre Düsternis Zafóns äußerst bildhaft geschilderten, klimatischen Atmosphären, die die Stimmung seiner Romane ausmachen. Seine erzählte Welt ist vom Wetter geprägt, dass das Geschehen untermalt, und die Handlungen der Figuren emotional tönt. Die Funktion des Wetters besteht darin, die Stimmungen zu kreieren, die für die Spannungskurve und die emotionale Gestimmtheit einer Schauergeschichte erforderlich sind. Und stets ist es das Wetter, das drohend in die erzählte Welt einbricht, von schlimmen Dingen kündet, die bevorstehen, denen das helle, friedliche Wetter des Idylls auf Dauer nicht standhalten kann. Während Max am Strand zurück zum Haus eilt, färbten die ersten Blitze den Himmel feuerrot, und der Wind spuckte Max dicke Regentropfen ins Gesicht (FDN, 196). Ein anderes Mal türmt sich eine gewaltige Kuppel aus schweren, flammend roten Wolken über der Bucht auf […] während glühende Funken auf den Strand hinabregneten (FDN, 284). Immer kündet das Wetter Schlimmes an, das den Figuren bevorsteht, und auch Victor Kray nimmt das ferne Grollen eines herannahenden Gewitters wahr und blickte zum Horizont. Eine bedrohlich schwarze, zerklüftete Wolkendecke breitete sich am Himmel aus wie ein Tintenfleck in einem See, als er zum Skulpturengarten unterwegs ist, um die Wiederauferstehung des bösen Clowns zu verhindern. Ein Blitz riss den Himmel entzwei, und der Widerhall des Donners rollte an die Küste wie der warnende Trommelwirbel vor einer Schlacht. Doch er kommt zu spät, die Skulpturen haben den Garten schon verlassen, und Max und Roland kämpfen bereits unter Wasser mit dem Fürsten des Nebels um ihr Leben.
Und auch die Nebel, die plötzlich von Nirgendwo erscheinen, sind wie Sturm und Gewitter, atmosphärenprägend. Wieder lag die steinerne Umfassungsmauer in dichtem, undurchdringlichem Nebel […] als wäre dieser Nebel nichts anderes als der eisige Atme das Doktor Cain, der lächelnd auf die Stunde seiner Rückkehr wartete (FDN, 206-207). Als Roland Alicia vor der Entführung auf die im Sturm wieder aufgetauchte Orpheus retten will, kriecht ein dichter, bläulicher Nebel vom Meer auf die Hütte zu wie ein lauernder Geist und Alicia hörte Dutzende von wispernden Stimmen, die aus seinem Inneren zu kommen schienen. Roland verliert Alicia, umfangen von einer Klaue aus Nebeldunst, an den Fürsten des Nebels (FDN, 282-283).
Nur einige Beispiele einer Vielzahl klimatischer Atmosphären, die in der Trilogie des Nebels die Auftritte und das Treiben der Phantome begleiten, die illustrieren, wie Zafón mit der Beschreibung des Wetters die Gefühle und Wahrnehmungen der Figuren ins Bild setzt. Nicht nur die Menschen, auch die Elemente trauern in Der dunkle Wächter um die unglückliche Hannah. Bei ihrer Beerdigung fegte eine Sturmfront über die Küste der Normandie hinweg, und breitete ein aschgraues Tuch über die Bucht, dass sich eine Woche halten sollte (DDW, 169). Auf einem Hügel über dem Friedhof trauert Ismael um seine Cousine und sieht auf das bleierne Meer hinaus [...] Am Horizont war ein Wetterleuchten über dem Meer zu sehen, Vorhänge aus Licht flammten zwischen den Wolken auf, die an Panzer aus weißglühendem Stahl erinnerten. [...] In der Ferne versanken Leuchtturminsel und das Kap im Nebel (DDW, 170.)
Neben Sturm und Gewitter, die erbarmungslos über die Küste der Normandie fegen, wenn die Phantome unterwegs sind, kündigt auch der Nebel, der aus dem Skulpturengarten aussteigt, oder die versunkene Orpheus einhüllt, von ihrer Anwesenheit. Gewitter, Nebel, Lost Places und olfaktorische Signale legen auf wenigen Seiten einen Schleier des Grauens über Kalkutta und künden so im Mitternachtspalast die Ankunft des Antagonisten an, des lebenden Toten Jawahal. Im ersten Kapitel des Mitternachtspalasts, mit dem Titel Die Rückkehr der Finsternis, schildert Ian, der Ich-Erzähler, die Stadt des Geschehens, Kalkutta, von Beginn an als eine Umgebung, die Furcht und Schrecken auslöst, und nichts Gutes ahnen lässt. Ein Karussell aus Phrasen der Erzählung gebildet, zeigt, wie Zafón eine Atmosphäre des Grauens über die Ereignisse im Mitternachtspalast legt: . . . ein nächtlicher Nebel, wie ein Fluch . . . eine aschgraue Wolkendecke wie ein schier endloses Leichentuch . . . Mausoleen, in Jahrzehnten der Verwahrlosung schwarz geworden . . . tief in dieser verfluchten Stadt . . . dem unergründlichen, gespenstischen Labyrinth . . . eine Stadt, in die Gott sich niemals hineingewagt hätte . . . mit der Wucht eines zerstörerischen Geistes . . . Gewitter, die den Himmel in eine Wand aus Pulverdampf verwandelte . . . altersschwache Stege aus modrigem Holz . . . durch die Nacht wie eine Blutspur . . . in die gewaltige Finsternis . . . die dunkle, unheimliche Straße . . . in einen sumpfigen Morast verwandelt . . . die in der Dunkelheit verbargen . . . konnten die Spur des Todes riechen . . . der undurchdringliche Wasservorhang mitten in der Nacht . . . in der stockfinsteren Nacht . . . Nebelschwaden und von giftigen Pfützen überschwemmte Straßen . . . wie schwarzes Blut, das aus einer tiefen Wunde quoll . . . der Geruch der Angst . . . von Feuchtigkeit zerfressene Bretter . . . ein ekelerregender Luftzug . . . dessen tödlich verwundertes Gebälk im Sturm ächzte (DMP, 13-21).3
Im dunklen Wächter ist es der Mond, der die gruseligen Atmosphären erzeugt. Als die Sauvelles der Einladung nach Cravenmoore folgen, müssen sie den Wald durchqueren, der das Anwesen umgibt. Dorian, den jüngsten Sohn der Familie, suchen archaische Fantasien heim, die sich nachts im Dunkeln schnell einstellen. Der Pfad, der durch den Wald führte, [...] ein regelrechter Tunnel, der in das dunkle, unergründliche Dickicht geschlagen war. Das bleiche Antlitz des Mondes lugte hinter dem Leichentuch aus dunklen Schatten hervor [...] »Dieser Ort macht mir Gänsehaut«, sagt er zu seiner Schwester. Die Dunkelheit formte bedrohliche Schatten und befeuerte seine Phantasie, die in ihnen Dutzende von teuflischen, auf der Lauer liegenden Kreaturen sah. Dann standen sie vor der eindrucksvollen, verwinkelten Silhouette von Cravenmoore, das wie ein Märchenschloss aus dem Nebel auftauchte (DDW, 25-26). Als Irene und Ismael Kapitel später durch den Wald nach Cravenmoore gehen, ist es wieder der Mond, der den Prolog der dramatischen Ereignisse beleuchtet: Während sich die Dunkelheit über die Bucht ausbreitete, war eine aufklarende Stelle am Himmel zu sehen, durch die in einem nahezu vollkommenen Kreis das Licht des zunehmenden Mondes fiel. Sein silbriges Leuchten bahnte sich einen Weg in Irenes Zimmer (DDW, 174). Als Irene eine dicke Strickjacke überzog, verschwand langsam der Mond hinter den Wolken (DDW, 177) und die nächtliche Brise trieb kalten Nebel von der Bucht heran, die sich wie eine Girlande aus tanzenden Schatten über den Wald legte. [...] Das Gesicht des Mondes ließ sich nur flüchtig zwischen den Wolken blicken, die über der Bucht dahinjagten und den Wald in ein gespenstisch flackerndes Helldunkel tauchten. [...] Für Sekunden zerriss der Mond den samtenen Wolkenvorhang, und ein Lichtfleck huschte über die Fassade von Cravenmoore. Im Schlagschatten wurde jedes einzelne Relief und jede Kontur sichtbar, und es entstand das faszinierende Bild einer wundersamen, in der Tiefe eines verwunschenen Waldes verlorenen Kathedrale (DDW, 177-178).
Die unheimliche Stimmung in Der dunkle Wächter, die das hochherrschaftliche Anwesen Cravenmoore umgibt, erlebt die Familie Sauvelle bei ihrem ersten Besuch als faszinierende, exotische Welt. Doch auch in dieser Erzählung fällt das Idyll Zafóns gruseligen Atmosphären zum Opfer: . . . die überwältigende Größe der Residenz . . . wie ein Märchenschloss aus dem Nebel auftauchte . . . die geschwungene Treppe aus weißem Marmor hinauf, die zu dem mächtigen Bronzeportal . . . den eigentümlichen Türklopfer in Gestalt eines Engelsgesichts . . . eine phantastische Welt eintauchten, die weit über ihre kühnsten Vorstellungen hinausging . . . Eine Laterna magica tauchte das Innere des Hauses in ein diffuses, gebrochenes Licht. Von diesem gespenstischen Schimmern übergossen, war eine schier endlose Galerie mechanischer Geschöpfe zu erkennen . . . erinnerte eher an ein Schloss, ein kathedralartiges Hirngespinst, Ausgeburt einer überspannten, gequälten Phantasie . . . in den dichten labyrinthischen Wald . . . kein einziges lebendes Tier in diesem Wald . . . verwandelten sich die vielen hundert mechanischen Geschöpfe, Masken und Automaten in eine schaurige Gesellschaft . . . glich allmählich einem in den Stein gehauenen, klaustrophobischen Schlund (DDW, 18-19; 23-25; 31-32; 79; 134-135; 178).
Den Figuren in Marina ergeht es nicht anders. Auch sie werden von Zafón in einen brodelnden Kessel grauenerregender, unheimlicher Orte geworfen, die den Grusel der Erzählung immer weiter auf eine schaurige Klimax zutreiben. Ein Gewächshaus, in dem Óscar und Marina zum ersten Mal ahnen, was ihnen bevorsteht, ist zuerst nur . . . die Fassade eines seltsamen, efeuüberwachsenen Baus . . . Pflanzen zischten wie ein lauernder Insektenschwarm . . . dem Dschungel feindlicher Äste . . . wie ein in den Tiefen eines Sumpfes begrabener Palast . . . den süßlich stinkenden Broden riechen, der aus dem Inneren kam . . . der Gestank vergifteter Sümpfe und Schächte (M, 48-49), bis das Geschehen in dem Brand des Teatro Real in dem schaurigen Finale endet. Zuletzt geht auch Cravenmoore in Flammen auf (DDW, 331-333). Sterbend stellt sich Lazarus Jann, der Spielzeugfabrikant, der seine Seele verkaufte, dem Schatten mit einem brennenden Holzscheit entgegen: Das Feuer breitete sich auf der Leinwand aus wie Wellen auf einem See. [...] doch der Schatten stürzte sich hinter ihm her, aufgebläht vor Wut und von den Flammen verzehrt, eine Spur aus Feuer hinter sich herziehend. Die Flammen leckten an einem Fenster empor und die Hitze ließ die wenigen Glasscheiben bersten, die noch heil waren. [...] In Sekundenschnelle war das Zimmer ein flammendes Inferno. Jahrzehnte der Phantasie gingen in Rauch auf und ließen nur ein Häufchen Asche zurück. (DDW, 331-332). Auch die Zeiger der sprechenden Uhren zerschmolzen zu Fäden aus glühendem Brei (DDW, 335), genauso wie die Bahnhofsuhr in der unvollendeten Bauruine Jheeters Gate im Mitternachtspalast.
Diese und noch viele andere, vergleichbare Phrasen durchziehen Zafóns Trilogie des Nebels, und je weiter das Geschehen seinem schaurigen Höhepunkt entgegenstrebt, desto gruseliger wird die Atmosphäre der erzählten Welt. Es sind diese Atmosphären, denen sich die Leser*innen plötzlich nicht mehr entziehen können, die buchstäblich unter die Haut gehen, und Zafóns Romane zu Pageturnern machen.
Mit der ausführlichen Schilderung des Wetters, des Klimas und der Orte steuert Zafón die emotionale Gestimmtheit seiner Leser*innen - oszillierend zwischen Idyll und Grauen. Carlos Ruiz Zafón ist ein Meister unheimlicher Stimmungen, die das Wetter bedrohlich nährt. Betrachtet man seinen narrativen Stil unter dem Aspekt klimatischer Atmosphären, als Indikator emotionaler Gestimmtheit, die seine erzählte Welt charakterisiert, dann findet man äußerst dichte Beschreibungen idyllischer oder gespenstischer Orte, die sich unter zwei Pole subsumieren lassen: Licht (hell, strahlend) und Finsternis (dunkel, düster). Idyllische Orte und friedliche Landschaften, die Urlaubslust antizipieren, in denen die Figuren anfangs leben, ahnungslos und glücklich in ihrer Naivität, so verlockend, dass sich die Leser*innen gerne zu ihnen gesellen würden. Doch dann ahnen sie das Grauen, das sich zwischen den Zeilen zunehmend breit macht, und verharren mit angehaltenem Atem, in Sicherheit, jenseits der Buchseiten. Und sie tun recht daran: Im Verlauf des Geschehens entwickeln sich diese Orte in allen vier Romanen zu Nicht-Orten im liminalen Bereich, zu Orten schieren Grauens.
3 In der Fortsetzung der Nebel-Trilogie, in Der Mitternachtspalast (El Palacio de la Medianoche, 1994 [2010]), führt der sechzehnjährige Erzähler Ian die Leser*innen in ein quasi-reales Kalkutta der 1930er Jahre. Er erinnert sich an die Chowbar Society, eine Geheimgesellschaft jugendlicher Waisen, und erzählt von einem feurigen Zug, der, sichtbar nur für die Augen der jungen Protagonisten, durch die nächtliche Stadt rast, die Grenzen zwischen physischer und metaphysischer Welt einreißend, und an ein von Rache zerfressenes Phantom, das keine Ruhe findet, bevor nichts mehr existiert, was es einst geliebt hat. Das Kalkutta, das Ian in dem Roman entstehen lässt, gleicht mit seiner Dickenschen Atmosphäre mehr dem viktorianischen London, der Vision eines labyrithine, subaqueous London as moronic inferno (John Clute und John Grant, The Encyclopedia of Fantasy, London, 1997:895) in Oliver Twist beispielsweise in Robert Lewis Stevenson Novelle Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde als der bengalischen Stadt am Ufer des Ganges. Auch der romantisch phantastische Roman Frankenstein; or, the Modern Prometheus von Mary Shelley oder Tim Powers New-Weird-Erzählung The Anubis Gates könnten für dieses düstere, morbide Panorama von Kalkutta Pate gestanden haben. Um nicht die Argumentation über das Genre von C. Ruiz Zafóns Jugendromanen erneut zu führen, möchte ich trotzdem eine Anmerkung nachreichen, die gerade hinsichtlich der erzählten Welt des Mitternachtspalast aufschlussreich ist: Das bedeutendste, definierende Merkmal des New Weird ist das konsequente Überschreiten der Gattungsgrenzen. New-Weird-Erzählungen sind Hybride der Phantastik, die die traditionellen Konventionen aufbrechen. Sie verschmelzen narrative Elemente, Motive und Tropoi der Science-Fiction, der Fantasy, des Horrors und der Groteske, sodass sich die Frage stellt, ob Zafóns fiktionale Jugendliteratur nicht am Besten in diesem Genre untergebracht werden kann, besonders weil es sich dabei um schemaorientierte Erzähltexte handelt, die in der Fantasy und Science-Fiction dominieren. Das Alltagsleben Kalkuttas (wie des viktorianischen Londons), diese scheinbar wirklich stattgefundene, historische Realität mit dem vertrauten Stadtbild, wird durch das Einbrechen des Magischen, Unheimlichen, des jenseits des menschlichen Verständnisses liegenden Befremdlichen permanent verunsichert, geradezu charakteristisch für die Erzählungen des New Weird.
Demnächst: Das Böse als Erzählfigur der Phantastik, Teil Drei: Phantome
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