Ich weiß nicht mehr, wer gesagt hat, Schöpfung sei Erinnern.
Meine eigenen Erfahrungen, und das, was ich gelesen habe,
bleiben mir im Gedächtnis und bilden die Grundlage für
meine schöpferische Arbeit.
Aus dem Nichts heraus kann ich nichts schaffen.
Akira Kurosawa
Einleitung
Die Earendil-Saga gehört zu den Erzählungen der Älteren Tage (The Legends of the Elder Days), an denen John Ronald Reuel Tolkien lebenslang arbeitete. Diese Sammlung von mythischen Erzählungen und Sagas liegen in drei, im Detail doch sehr verschiedenen Sammlungen vor, die er immer wieder überarbeitet und revidiert, und so weiter entwickelt hat.1 Diese drei Sammlungen von fiktionalen Erzählungen wuchsen aus einer einzigen Wurzel, aus Tolkien Faszination und Begeisterung die altenglische und altnordische Literatur, generell für die altgermanischen Kulturen. Daneben beflügelte die Mythologie Finnlands, in Form der Kalevala-Edition von Elias Lönnrot, Tolkiens Fantasie, und beeinflusste sein Denken über Mythologie. In der Auseinandersetzung mit diesen frühgeschichtlichen, europäischen Kulturen verfasste Tolkien zwei Fassungen seiner Mythologie:
- die in zwei Bänden zuammengestellten Erzählungen in The Book of Lost Tales (dt. Das Buch der Verschollenen Geschichten), und
- die verschiedenen Versionen der Quenta Silmarillion, in denen er die Verschollenen Geschichten aufgriff und weiterentwickelte, ohne sie abschließen zu können.2
Die dritte Fassung der Sagas der Älteren Tage publizierte sein Sohn Christopher Tolkien 1977 postum als die Kompilation The Silmarillion. J.R.R. Tolkien selbst bezeichnete diese Texte seiner fiktionalen Mythographie als Legendarium (Q Atanatárion), eine Sammlung von Heldenliedern, Heldenlegenden und Heldenbiographien, ein Sagenbuch also.3
Tolkiens hinterlassenes Oeuvre ist weniger ein abgeschlossenes Werk, als work in progress, was die zwölfbändige Geschichte Mittelerdes,4 in der Christopher Tolkien das umfangreiche Werk seines Vaters ausführlich editiert und kommentiert, belegt. Die fiktionale Mythologie, die Tolkien in The Book of Lost Tales noch während des Ersten Weltkriegs begann, geriet ihm schließlich zu einer unendlichen Geschichte:
Tolkien never completed The Book of Lost Tales; however, from 1920 until his death, except for long periods while he was working on The Lord of the Rings, he continued to develop his legendarium, or part of it, and in several formats: in alliterative verse and octosyllabic couplets; in prose versions of varying length; as series of annals; as essays on particular topics. Only a few of these were completed, and most exist in multiple versions. In his many revisions and different versions of his legendarium Tolkien each time tended to go back to the beginning and stop before he reached the end, or returned to work on favourite stories, so that the earlier parts of the mythology, or those favoured stories, are much more developed than later [...]
Tolkien hat in seinen Texten metaphorische Vergleiche für seine schriftstellerische Methode gefunden, so in seiner autobiographischen Erzählung Leaf by Niggle, in der er von einem Künstler berichtet, der sein Werk nicht vollenden kann, weil es immer noch etwas zu sagen gibt.6 Es ist unmöglich, etwas restlos zu erschöpfen. Ein anschauliches Bild für eine dichterische Methode, die er selbst Zweitschöpfung (sub-creation) genannt hat, findet sich auch im dritten Buch von Der Herr der Ringe. Nach der Schlacht um Helms Klamm schwärmt der Zwerg Gimli von der unterirdischen Schönheit der Grotten der Hornburg:
»Und, Legolas, wenn die Fackeln angezündet werden, und Menschen auf den sandigen Böden unter den widerhallenden Gewölben einhergehen, ah, dann, Legolas, dann glitzern Edelsteine und Kristalle und Adern von edlen Erzen in den geglätteten Wänden; und das Licht leuchtet durch Marmorfalten, muschelgleich, durchscheinend wie die lebendigen Hände der Königin Galadriel. Da sind weiße und safrangelbe Säulen und rosige wie die Morgenröte, Legolas, geriffelt und verschlungen in traumhaften Formen; sie streben von vielfarbigen Böden empor zu den Schlußsteinen des Dachs; Flügel, Stränge, Vorhänge, so zart wie gefrorene Wolken; Speere, Banner, Zinnen von hängenden Palästen! Stille Seen spiegeln sie wider: eine schimmernde Welt schaut herauf aus dunklen Weihern, bedeckt mit klarem Glas; Städte wie Durins Geist sie sich kaum im Schlaf hätte ausmalen können, erstrecken sich über Prachtstraßen und Säulenhöfe bis zu den dunklen Winkeln, in die kein Licht dringen kann. Und plink! ein silberner Tropfen fällt, und die runden Kringel auf dem Glas lassen alle Türme sich verbeugen, und wie Wasserpflanzen und Korallen in einer Meeresgrotte wogen sie.«7
Anmerkungen
1 Die in der literaturwissenschaftlichen Kritik gebräuchliche Bezeichnung für Tolkiens Werk ist Mythos / Mythologie. Tolkien selbst spricht in seinen Briefen häufig von seiner Mythologie oder dem Legendarium, wenn er sich auf Das Silmarillion bezieht. Dass es sich dabei um eine besondere Form der Mythologie, nämlich um eine fiktive Mythologie handelt, die ich mythistorisch nenne, habe ich in einem anderen Beitrag erörtert: Herbert W. Jardner, J.R.R. Tolkiens mythographische Methode.
2 Quenya (Q), quenta Erzählung, Geschichte [die Geschichte der Silmarilli], der Edelsteine, die der Alchemist Fëanor schuf, und in denen er das Licht der Zwei Bäume Valinors einschloss (vgl. J.R.R. Tolkien, Das Silmarillion, herausgegeben von Christopher Tolkien, Stuttgart, 1999:81-94, die Kapitel: Von Feanor und der Loskettung Melkors (VI) und Von den Silmaril und der Unruhe der Noldor (VII); [SIL.deutsch]. KWET-; *kwentā, tale, Q qenta; *kwentaro, narrator: Q qentare; Q qetil, tongue, language; qentale, account, history (J.R.R. Tolkien, The Etymologies, in: The Lost Road and Other Writings, The History of Middle-Earth, Volume V, edited by Christopher Tolkien, London, 1993:366 [HME, V]). Die Lexeme des Primitive Quendian besitzen Asteriks-Realität (*): Es handelt sich bei ihnen nicht um Formen, die irgendwann einmal in einer Sprache verwendet wurden, sondern um hypothetische, philologische Rekonstruktionen einer sprachlichen Proto-Ebene. Diese Formen haben zwar nie real existiert, bilden aber einer modernen Sprachfamilie zugrunde liegende, archaische Wortwurzeln (Etyma), die sich nach allgemein gültigen Regeln auf existierende Wörter zurückführen lassen. In seiner linguistischen Schrift The Etymologies listet Tolkien eine Basisliste seiner Etyma auf. Aus den Begriffen dieser Liste entwickelt er zwölf verschiedene Sprachen: Danian, Doriathrin, Eldarin, Exil-Noldorin, Ilkorin, Lindarin, Alt-Noldorin, Noldorin, Ossiriandeb, Primitiv-Quendian, Quenya und Telerin (Tolkien, Etymologies, HME, V.347).
3 In this last section of the book I give a number of late writings of my father´s, various in nature but concerned with, broadly speaking, the reinterpretation of central elements in the ´mythology´ (or legendarium as he called it) [...] (J.R.R. Tolkien, Myths Transformed, in: Morgoth´s Ring, The History of Middle-Earth, Volume X, edited by Christopher Tolkien, London, 1994:369 [HME, X]. Q atanatárion, Sagenbuch der Väter der Menschen; Q ata(r), Vater, atanatári, Väter der Menschen (Tolkien, The Etymologies, HME, V.349). Atanatárion: according to a late note the Quenya name for the three Great Tales of the Elder Days, i.e. the Tale of Beren and Lúthien, the Tale of the Children of Húrin, and the Tale of Eärendil. Atanatárion is literally ´of the Fathers of Men´ with ´legendarium´ implied but unexpressed (Patrick Wynne und Carl F. Hostetter, Morgoth´s Ring, A Linguistic Review, Part 1, in: Vinyar Tengwar 34, 1994:12). In Tolkien zweiter künstlicher Sprache, dem Sindarin (S), lautet der Terminus: Nern in Edenedair (or In Adanath); S nern / narn, Erzählung, Saga, S adan / edain, Mensch; vgl. a. Tolkien, Myths Transformed, HME, X.373.
4 J.R.R. Tolkien, The History of Middle-Earth, Volumes I-XII, edited by Christopher Tolkien, London, 1983-1996 [HME].
5 Christina Scull, The Development of Tolkien´s Legendarium. Some Threads in the Tapestry of Middle-Earth, in: Verlyn Flieger and Carl F. Hostetter, Tolkien´s Legendarium. Essays on The History of Middle-Earth, Westport Connecticut, London, 2000:8 [Tapestry of Middle-Earth].
6 Deutsch: Blatt von Tüftler; in: J.R.R. Tolkien, Fabelhafte Geschichten, Stuttgart, 1975:127-160 [Blatt von Tüftler].
7 J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe, Band 2: Die Zwei Türme, aus dem Englischen übersetzt von Margaret Carroux, Stuttgart, 1972:172 [HdR, ZZ, Carroux]. Für die englische Ausgabe siehe: J.R.R. Tolkien, The Two Towers, The Lord of The Rings, Part 2, London, 1994:182 [TT].
Mythos oder Märchensaga?
In Imaginationen von der anderen Seite1 habe ich eine Einführung in Tolkiens erzählerisches Werk verfasst und dort auch seine narrative Methode erörtert. Die vorliegende Studie geht nun der Frage nach, um welche Gattung es sich bei Tolkiens Earendil-Erzählung handelt. Ist es richtig, die Earendil-Erzählung als einen Mythos zu bezeichnen, wie Tolkien meint, oder wäre eine andere Bezeichnung nicht doch zutreffender.
Die Imaginationen setzen sich ausführlich mit Tolkiens schriftstellerischer Methode auseinander, werfen aber auch einen Seitenblick auf einige der Mittel und Theorien, die sein Werk charakterisieren. Tolkiens Auffassung, sein Werk sei Mythologie, wurde in dieser Studie anfangs vorbehaltlos ernstgenommen. Im Verlauf der Argumentation zeigte sich dann aber zunehmend deutlich, dass Tolkiens Mythologie artifiziell ist, eben Fiktion, auf jeden Fall pseudo- als einen Präfix benötigt. In seinem Essay Über Märchen erläutert Tolkien, dass er sein Werk genau so verstanden wissen will.
Die moderne Literaturwissenschaft, so argumentiere ich in Imaginationen, subsumiert Tolkiens Werk unter das Genre der Phantastischen Literatur. Das besondere Merkmal dieser Gattung besteht aber gerade darin, einen Gegenbegriff zu den Erfahrungen der alltäglichen Realität zu bilden.2 Gero von Wilperts Definition dieses Genres bewegt sich in diesem Spannungsfeld:
Phantastische Literatur ist im weitesten Sinne Sammelbegriff für alle Literatur außerhalb relig.-myth. Kontexts, der die realist. Ebene überschreitet zugunsten des Irrealen, Surrealen, Wunderbaren, Übernatürlichen, Zauberhaften, Unheimlichen, Bizarren, Grotesken, Okkulten, Traumhaften, Unbewussten, Halluzinatorischen, Visionären, Gespenstisch-Geisterhaften oder deren versch. Kombinationen.3
Oberflächlich betrachtet findet der Leser in Tolkiens bekanntesten Romanen und Erzählungen alle diese Elemente wieder. Dass Tolkiens Werk aber auch andere Dimensionen enthält, die seinen Romanen quasi als wissenschaftlicher Hintergrund dienen und theologische, ethnologische und philosophische Themen diskutiert, ist weniger geläufig. Gero von Wilperts Kriterium der märchenhaften Fluchtwelt vor der als unerträglich empfundenen Alltagswelt,4 wurde wiederholt für Tolkiens gesamtes Œuvre als unzutreffend zurückgewiesen.5 Tolkiens Welt Mittelerde ist zwar auf den ersten Blick die gedankliche Konstruktion einer imaginären, räumlich und zeitlich entfernten Welt, der Autor zielt dabei aber keinen Augenblick auf einen zu verwirklichenden Idealzustand von Menschheit, Staat und Gesellschaft hin. Insofern gehören Tolkiens Erzählungen nicht der sozialen oder politischen Utopie an, auch wenn entsprechende Idealisierungen gelegentlich diesen Eindruck wecken.6 Tolkiens Texte sind zwar phantastisch, in Über Märchen fordert der Autor selbst diese Qualität für sein Wer ein; sie besitzen aber auch Züge, die in die reale Lebenswelt des Lesers eingreifen, besonders hinsichtlich weltanschaulicher Fragen, versteckter Sozial- und Gesellschaftskritik, insbesondere aber wegen des universellen, menschlichen Themas, der Polarität von gut und böse, die er in seinem Werk in der Spannung von Licht und Dunkelheit ausdrückt.
Tolkiens Erzählungen über Helden wie Beren, Tuor oder Túrin liefern Antworten auf Fragen, welche die menschliche Suche nach Sinn in einer ihn beirrenden Umgebung von frühester Zeit an beunruhigt und beschäftigt: Schicksalsschläge, Unglück, Grausamkeit, der Sinn des Lebens selbst, Tod, der Wandel allen vermeintlich Gegebenen, die Liebe und das Glück, Verantwortung, Treue, Loyalität, aber auch Habgier, Neid, Eifersucht und Angst. Tolkien bietet seinen Lesern Antworten auf Fragen an, die Philosophen und Theologen seit jeher formulierten, indem er ihn auffordert, sich in die fiktionale Realität von Märchen, Saga und Mythos zu vertiefen.
Phantastische Literatur ist ein Terminus der modernen Literaturwissenschaft, der sich in einige wichtige Erzählgattungen gliedern lässt:
- Das Märchen (Kunde; mhd. maere): ein Prosaerzählung von fantastisch-wunderbaren Begebenheiten, die vom Eingreifen übernatürlicher Gewalten ins Alltagsleben handeln. Zu den Protagonisten des Märchens gehören verwunschene Menschen, Riesen, Zwerge, Drachen, Feen, Hexen und Zauberer, die aus dem Geist des Märchen heraus glaubwürdig werden, indem eine gedanklich mitvollzogene Unglaubwürdigkeit das Geschehen wahrscheinlich macht. In Über Märchen sprach Tolkien in diesem Zusammenhang davon, eine Sekundärwelt zu schaffen, in der eine grüne Sonne glaubhaft ist, und einen Sekundärglauben erzwingt.7 Inhaltlich kreisen Märchen um Abenteuer und die Prüfung des Helden durch gute und böse Mächte, Belohnung der Guten, Bestrafung der Bösen und so weiter.8
- Die Saga / Sage (Bericht, Erzählung; an. saga; Pl. sögur):9 Als eine Reihe von Prosaerzählungen ist die Sagaliteratur keine festumrissene Gattung, sondern umfasst Texte wie Kurzgeschichte, Erzählung, Biographie, Chronik und Roman. Anscheinend wahre Begebenheiten wiedergebend, stilistisch höchst naturalistisch komponiert, bestehen die narrativen Inhalte der frühgeschichtlichen nordischen Sagas (an. Fornaldarsögur) und Isländersagas (Íslendingasögur) dennoch weitgehend aus fiktiven Stoffen der skandinavischen Frühgeschichte oder der Zeit der Besiedlung Islands (um 900-1050). Volkstümliche und märchenhafte Elemente sind in der Sagaliteratur nicht selten. Die spätmittelalterlichen Rittersagas (an. Riddarasögur) wurden wegen ihrer fantastisch-märchenhaften Inhalte schon in ihrer Entstehungszeit als Lügensagas (an. lygisögur) bezeichnet.
Den definitorischen Merkmale zufolge dem Märchen näherstehend ist die Sage eine kurze Erzählung objektiv unwahrer, oft ins Übersinnlich-Wunderbare greifender, phantastischer Ereignisse, die jedoch als Wahrheitsbericht gemeint sind (worin sie der altisländischen Saga gleichen), dabei allerdings deutlich die magisch-mythischen, numinosen Erscheinungen im Gegensatz zum Märchen von der realen Welt trennen und den Glauben der Zuhörer ernsthaft voraussetzen.10 Wenn die Sage auch einen höheren Realitätsanspruch für sich beansprucht, so ist die Grenze zum Märchen doch sehr viel dünner, als die zwischen Saga und Märchen. Wie das Märchen, so ist auch die Sage ein bedeutendes kulturhistorisches Dokument für das Überzeugungssystem einer Kultur. - Der Mythos (Wort, Erzählung; griech. mytheomai, reden, sprechen, sagen): Der Mythos nimmt eine Sonderstellung ein, die mit seinem festen Platz in Ritual und Kulthandlung aller Kulturen zusammenhängt. Außerdem ist Mythos ursprünglich immer Versdichtung, seine Überlieferung poetisch, nicht prosaisch. In den religiösen Überzeugungen erfüllt er die Funktion, angenommene Ereignisse der Urzeit, Götter- und Heldenmythen, symbolisch verdichtet darzustellen, um die Herkunft und Entstehung kulturell relevanter Institutionen zu erklären und zu legitimieren. Der Mythos verwendet in dieser Darstellung aber phantastische Ausmalungen, die reiner Phantasiefreude entspringen. Spätere Literaturen beziehen sich auf überlieferte Mythen, erzählen sie im zeitgenössischen Sprachkostüm neu oder komponieren neue Mythen, in Anlehnung an überlieferte Stoffe, aus dem Bedürfnis heraus, der rationalen Entzauberung der Welt Einhalt zu gebieten.11 Insofern ist es auch legitim von Tolkiens Werk als von einer Mythologie zu sprechen, allerdings einer fiktiven, die er seiner Heimat England gewidmet.
Solche Definitionen bestimmen die Merkmale traditioneller Überlieferungsträger wie Märchen, Saga und Mythos, die sich auch für die Phantastische Literatur in Anspruch nehmen ließen. Phantastische Literatur und diese traditionellen Überlieferungen sind in gewisser Weise ein literarisch nah verwandtes Genre, mit der Einschränkung kulturell unterschiedlicher Bezeichnung und Bewertung. Narrative Elemente, inhaltliche Gewichtungen und die Absichten des Autors, gleichzeitig zu unterhalten und zu belehren, treffen auf alle diese Textsorten zu. Märchen, Saga und Mythos sind Gattungen mit gegeneinander offenen Grenzen; der Mythos ist aufgrund seiner engen Beziehung zum Ritual, das ihn rahmt und das seine Funktion bestimmt, die bei weitem eigenständigste dieser drei Gattungen. Hinsichtlich des narrativen Werks Tolkiens von Mythologie zu sprechen, erscheint aus ethnologischer Perspektive daher problematisch: Der Mythos hat seinen Sitz im Ritual, artikuliert verbal (oratorisch), was das Ritual dramatisch ausdrückt (ostentativ). Tolkiens Werk lebt bezüglich seiner Themen und Motive ganz aus der altgermanischen, den früheuropäischen Mythologien, dies wurde bereits erörtert; inhaltlich imitiert seine schriftstellerische Methode Mythologie. Dennoch ist sein Werk Literatur, Dichtung, wie die meistens uns heute bekannten Mythen Dichtung sind. Was auf den ersten Blick als Mythologie auftritt, stellt sich bei näherer Betrachtung als die ungemein kreative Leistung eines Mannes dar, den seine profunde Kenntnis der altgermanischen Kulturen, vor allem deren Sprachen, dazu befähigte, eine artifizielle Mythologie zu entwerfen.
Um Tolkiens Werk eindeutiger zu klassifizieren, dass in dem Spannungsfeld zwischen Phantasie und Fiktion oszilliert und mit dem Anspruch auftritt, Mythen neu zu schreiben und Mythenabbrevationen zu re-vitalisieren, bietet sich der Terminus Märchensaga an, den Kurt Schier für bestimmte altisländische Texte eingeführt, und den nach ihm Jürg Glauser analytisch bearbeitet hat:12]
Mit „Märchensagas“ wird hier – in Ermangelung eines treffendern Ausdrucks – eine sehr umfangreiche Gruppe von Geschichten bezeichnet, die gegen Ende des 13. Jhs. mit isländischen Neuschöpfungen in der Art der übersetzten Riddarasögur ihren Anfang nahm, sich dann unter dem Einfluss der Abenteuersagas (Fornaldarsögur) und unter reicher Verwendung internationaler Erzählstoffe mehr und mehr von den Vorbildern löste und bis an die Schwelle unseres Jahrhunderts in Island am Leben blieb. [...]; immer mehr wird die Handlung in eine märchenhafte Phantasiewelt verlegt, in der geographische Namen im Grunde nur noch phantastische Chiffren ohne realen Bezug sind.13
Die Festlegung auf den genredefinierenden Begriff der Märchensaga dient mir dazu, Tolkiens Anspruch, eine Mythologie (für England) zu schaffen, zu relativieren und seine Erzählungen auf einen realistischen Begriff zu bringen. Dies ist vor allem deshalb wichtig, um den Begriff Mythos als kulturelle religiöse Ausdrucksweise, die darüber hinaus poetisch und an ein Ritual gebunden ist, als solchen zu bewahren, und ihn nicht mit einer Textsorte zu verwässern, die der Form nach wie Mythologie auftritt, ihrer Funktion nach aber Literatur ist. Wesentliches unterscheidendes Kriterium ist dabei, dass der Mythos kulturspezifisch immer Faktum, und niemals Fiktion ist, und das parallel auftretende Paar Belehrung / Unterhaltung in den anderen beiden Gattungen auftritt, der Mythologie dagegen fehlt: Mythologie ist Belehrung und wissenschaftliche Erklärung der Welt in ihrem So-Sein. Unterhaltung wird sie erst in ihrer Übersetzung für den alltäglichen Gebrauch.
Märchensagas sind den Volksmärchen nahestehende, fantasievolle Erzählungen. Die Notwendigkeit den Begriff der Märchensaga zu prägen, ergab sich aus der unglücklichen Situation, dass diese Gattung bis dahin als Lügensagas (an. lygisögur) bezeichnet wurde. Im Mittelalter diente diese Bezeichnung offenbar zur Kennzeichnung eines mangelnden Historizitätsanspruchs dieser Geschichten,14 insbesondere im Unterschied zu anderen Saga-Sorten, wie Konungasögur oder Íslendingasögur,15 die bis ins 20. Jahrhundert hinein als historische Überlieferungen oder Chroniken angesehen wurden. Tolkiens Freund, C.W. Lewis, bezeichnete ihm gegenüber einmal Mythen als durch Silber geblasene Lügen.16
Tolkien dagegen verteidigte den Mythos gegen solche Abwertung, und sprach in seinem Gedicht Mythopoeia von dem gebrochenen Licht, das sich spaltet, aus dem einen Weiß in viele Farben,17 denn, so seine Auffassung: obwohl Mythen irren, enthalten sie einen Funken des wahren Lichts.18 Die Metapher des Lichts bildet den zentralen Gedanken in Tolkiens Quenta Silmarillion, wo der Noldor Feanor die drei Silmaril schafft, die das Licht der Bäume Valinors enthalten:
Finally, and most important, the poem (Mythopoeia; H.W.J.) contains the vivid image of light splintered from the original White „to many hues“ as it is refracted through the prism of the sub-creative human mind. This last shift from the prose passage is the most crucial, for it alters the medium of creation from word to light.19
Tolkiens Haltung in Bezug auf den Terminus Lügensaga, wäre er für sein Werk verwendet worden, ist eindeutig; für ihn sind Lüge und Märchen oder Mythos nicht nur ein Widerspruch, im Gegenteil, für ihn partizipieren solche Erzählungen in ihrem innersten Kern an der universellen Wahrheit, die er durch die Metapher des Lichts charakterisiert. Die Bezeichnung einer Märchensaga als Lügensaga ist allerdings unscharf und abwertend. Sie könnte auch für andere Textsorten der Phantastik gelten,20 den gerade genannten Gattungen Konungssögur und Íslendingasögur. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der widersprüchlichen Verbindung der Lexeme Lüge und Saga in einem Begriff, da schon in altnordischer Zeit der Terminus Saga21 auch im eigentlich historischen Sinne gebraucht wurde:22
Saga bezeichnet aber schon seit dem 12.Jh. vor allem eine längere schriftl. Erzählung und kann sich sowohl auf originale literar. oder histor. Werke wie auch auf Übersetzungen beziehen.23
Das kennzeichnende Merkmal einer Saga besteht in der Überlieferung kulturell relevanten Wissens, das der Gemeinschaft, in der eine Saga entsteht und tradiert wird, personale und ethnische Identität garantiert. Über den historischen Wahrheitsgehalt einer solchen Erzählung, oral oder literal überliefert, hat die Wissenschaft bis heute heftig gestritten. In Abhängigkeit vom herrschenden Zeitgeist wechselten Meinungen und Theorien, ob nun überhaupt, und wenn ja, welche der einzelnen Saga-Gattungen nun Anspruch auf die Qualifizierung historisch habe. Aus einer retrospektiven, wissenschaftlichen Perspektive ist diese Frage nicht zu beantworten, verwendet sie doch Kriterien, die wenn nicht ethnozentristisch, dann zumindest naiv sind. Die Bewertung, was denn historisch und was erfunden ist, kann nur die Gemeinschaft, die eine Saga produziert, selbst beantworten. Die vorhandenen, authentischen Quellen geben der Beantwortung dieser Frage nur geringen Spielraum, allerdings reicht dieser aus, festzustellen, wie das mittelalterliche Island den historischen Wert einer Saga einschätzte. In seinem Aufsatz Isländische Geschichtsschreibung hat Sigurður Nordal zwei altisländische Texte exemplarisch miteinander verglichen: Ari Thorgillssons Íslendingabók und die Víglundarsaga. Er kommt dabei zu dem Resultat, dass beide Texte sich unter dem Begriff Geschichtsschreibung zusammenfassen lassen.24 Es gibt aber einen weiteren Beleg für die Historizität großer Teile der altisländischen Sagaliteratur. Im Sommer des Jahres 1119 fand in dem Ort Reykjahólar in Westisland eine Hochzeit statt, deren Verlauf in einem Abschnitt der Þorgilssaga ok Hafliða tradiert ist:
Da herrschte nun Hochstimmung und großer Trubel, und man vergnügte sich aufs beste, auch gab es zur Unterhaltung Tänze, Ringkämpfe und Sagavortrag [...] Es wird nun etwas berichtet, gegen das nun viele angehen und so tun, als ob es ihnen nicht bekannt wäre, denn vielen bleibt das Wahre verborgen, und sie halten das für wahr, was erdichtet ist, aber das für Lüge, was wahr ist: Hrolf von Skálmarnes erzählte die Geschichte von Hröngvidr dem Wikinger und von Olaf Truppenkönig und vom Aufbrechen des Hügels des Berserkers Thraïn und von Hromund Gripssohn, mit vielen Strophen darin. Aber mit dieser Geschichte unterhielt man König Sverrir, und er hielt solche Lügengeschichten für die unterhaltsamsten. Trotzdem können Leute ihre Herkunft auf Hromund Gripssohn zurückführen. Diese Geschichte hatte Hrolf selbst verfasst. Der Priester Ingimund erzählte die Geschichte von Orm Barreyjarskalde mit vielen Strophen und einem guten flokkr am Ende der Geschichte, die Ingimund gedichtet hatte. Dennoch halten viele gelehrte Männer diese Geschichte für wahr.25
Angesichts dieser Quelle wird die heftig geführte Diskussion über den historischen Gehalt der Sagas, insbesondere der Konungasögur, Fornaldarsögur oder Íslendingasögur unverständlich. Selbst hinsichtlich der Märchensagas, deren charakteristischstes Merkmal Kurt Schier doch in ihrer märchenhaften Phantasiewelt sieht, lässt sich nicht eindeutig entscheiden, was Faktum oder was Fiktion ist. Wenn lebende Menschen ihre Herkunft auf Protagonisten einer Saga zurückführen können, und gelehrte Männer solche Geschichten für wahr halten, scheint eine emische Bewertung angebracht. Das Aufbrechen des Grabhügels des Berserkers Thraïn, ein charakteristisches narratives Element der Fornaldar- und Märchensagas, im Kontext einer für wahr gehaltenen Erzählung, rehabilitiert den geschichtlichen Gehalt auch dieser beiden Gattungen. Erich Rothacker sprach schon früh von einem historischen Bewußtsein, wenn Ereignisse und Personen der Vergangenheit tradiert und erinnert werden, wenn nachkommenden Generationen über sie erzählt wird.26 Hermann Trimborn ist darüber hinaus der Auffassung, dass Geschichtlichkeit eine unentrinnbare menschliche Wesensart sei.27 Was als historisch klassifiziert wird, entscheidet jede Kultur primär selbst und nicht ein fremdes wissenschaftliches Weltbild. Rüdiger Schott, der sich kritisch mit der Behauptung schriftlose Völker seien geschichtslose Völker auseinandersetzt, folgt in diesem Zusammenhang Erich Rothacker und definiert dessen Terminus Geschichtsbewusstsein als die Erinnerung an Ereignisse, die Menschen erlebt oder bewirkt haben und die als wirklich geschehen überliefert werden.28 Schon Cicero hat in diesem Zusammenhang von der Geschichte als dem Leben des Gedächtnisses (historia vita memoriae) gesprochen: Von Geschichte kann ohne das Vermögen der Erinnerung nicht gesprochen werden, bemerkt Horst Folkerts in seiner Studie über den Geschichtsbegriff bei Walter Benjamin. Im Wortlaut es heißt es dort:
[...] daß ein Vergangenes nicht einfach mit dem Zeitablauf verschwunden ist, sondern in einer realen oder idealen Weise anwesend ist, das ist offenbar die Hauptbedingung dafür, von Geschichte sprechen zu können. Erinnerung ist das Organon der Geschichte.29
Spielerisch und unbekümmert benutzt Tolkien in seiner fiktiven Mythologie alle diese Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten wissenschaftlicher Besserwisserei: Die Überlieferungen Mittelerdes konzipiert er als Geschichte im Sinne Ciceros und Rüdiger Schotts. Unanfechtbar sind seine Mythen durch Silber geblasene Lügen, deren gebrochenes Licht sich spaltet aus dem einen Weiß in viele Farben.
Die Ereignisse, die Tolkien in der Earendil-Erzählung schildert, haben nie stattgefunden; insofern sind sie fiktiv. Realistisch, und deshalb von historischer Bedeutung, sind die ihr unterliegenden philosophischen und theologischen Überzeugungen, die durchaus auf historischen Sachverhalten der abendländischen Kultur beruhen. Die Theoreme, die Tolkiens Earendil-Erzählung durchziehen, motivieren und transportieren, sind historisch Faktum, realistisch gewonnene Erfahrung und geronnenes, tradierbares Wissen. Lediglich die Form der Überlieferung unterscheidet das historische Dokument von der phantastischen Erzählung tolkienscher Coleur. Geschickt spielt Tolkien mit der Spannung, die darin liegt, dass seine fiktive Mythologie inhaltlich auftritt als sei sie Mythologie, formal jedoch Mittel des Romans, der Novelle und der Erzählung verwendet, die seine Überlieferung als individuelle und subjektive Erfahrung und Erkenntnis entlarvt. Trotzdem enthalten die Texte Tolkiens eine Mannigfaltigkeit echter mythischer Themen und Motive, die er sach- und fachgerecht in seiner Fiktion realistisch verwendet und ganz im Sinne der ihm vorausgegangenen Mythenschöpfer, wenn auch in einem anderen kulturellen Kontext, tradiert. Es bedarf der gründlichen Analyse in Bezug auf Tolkiens Werk die Grenze zwischen Faktum und Fiktion eindeutig zu ziehen, und es muss Sigurður Nordal recht gegeben werden, wenn er schreibt,
dass es noch eine andere Wahrheit gibt als nur die Wahrheit der Fakten. Eine Erzählung kann erfunden sein und kann dennoch eine Stütze für ihren Bericht in sich selber haben, in der Übereinstimmung mit der Erfahrung, was geschehen könnte, und dem Verständnis dafür.30
Die Frage, ob nicht auch der Terminus Legende auf die Earendil-Erzählung zutrifft, stellt sich eigentlich nur indirekt. Eine Legende ist eine streng biographisch angelegte Lebens- und Leidensgeschichte. Ein solcher Text ist die Earendil-Erzählung sicherlich nicht. Der Protagonist dieser Geschichte trägt zwar deutlich religiöse Züge, ähnlich der Heiligen in den Legenden. Earendil ist aber kein Heiliger im Sinne einer konfessionell gebundenen Gemeinschaft. Um die Fragestellung nicht allzu sehr zu verwässern, sollte der Terminus Legende nur für die Heiligen einer Kirche oder konfessionellen Gemeinschaft verwendet werden. Zwar verwendet der moderne Sprachgebrauch den Terminus Legende auch mit Bezug auf historische Persönlichkeiten, aber nur dann, wenn an Lüge, Fälschung, Erdichtung, Märchen gedacht wird, ähnlich dem pejorativen Begriff der Lügensaga. Kurt Schiers Intention, den altnordischen Terminus lygisögur für das entsprechende altisländische Genre zu ersetzen, erscheint vor diesem Hintergrund verständlich:
Im Bereich der Dichtung kann das Wort »Legende« Geschichten mit parabolischem, wunderbaren oder märchenhaften Inhalt von realistischeren Kurzgeschichten, Lehrfabeln und Parabeln abgrenzen, die andererseits nicht die Seinsweise wirklicher Märchendichtung erreichen.31
Hellmut Rosenfelds Terminus wirkliche Märchendichtung trifft am ehesten den Charakter der tolkienschen Erzählungen, mit einer Einschränkung allerdings: Tolkiens Anspruch, wie oben gezeigt, ist ein ursprünglich wissenschaftlicher und auch seine Arbeitsweise ist so angelegt, wie die weiteren Ausführungen bezüglich der Entstehung und Entwicklung der Earendil-Erzählung deutlich zeigen werden. Der Begriff Legende ist deshalb nicht günstig, obwohl er in diesem Kontext durchaus üblich zu sein scheint. Zwar könnte die Earendil-Erzählung im weitesten Sinne auch eine religiöse Erzählung genannt werden, die gleichberechtigt neben Gattungsbezeichnungen wie Sage, Märchen, Mythos oder Novelle32 steht, von einem heiligen Earendil Mittelerdes, wenn man so will, kann wohl nicht die Rede sein, eher von einem Helden altgermanischer Tradition. Der für Tolkiens Erzählungen und Romane hier bevorzugte Terminus ist der der Märchensaga, wie ihn Kurt Schier versteht. Die Earendil-Erzählung ist keine Mythe im klassischen Sinn; sie ist eine Märchensaga, die unterhalten, aber auch ernsthaft Wissen vermitteln will; zumindest will sie den Leser anregen, sich mit den der Erzählung unterlegten philosophischen und theologischen Themen auseinanderzusetzen. Insofern ist die Earendil-Saga, anders als Der Hobbit oder Der Herr der Ringe, keine leicht konsumierbare Lektüre. Jürg Glauser hat in seiner Analyse der Gattung Märchensaga herausgefunden, dass diese in einem hohen Grad Erzählschablonen als zentrale Bausteine verwendet. Er versteht darunter narrative Elemente, die weitgehend schematisch geformt, und deren Plots fast ebenso stark schematisch gestaltet sind. Solche inhaltlich und sprachlich in hohem Maße fixierte Motivketten bilden das grundlegendste narrative Mittel des Erzählers einer Märchensaga. Dabei fand Jürg Glauser einen Satz von Erzählschablonen, der in altisländischen Märchensagas immer wieder anders kombiniert präsent sind: Heldenjugend, Festanlässe, Beratungsszenen, Botenfahrten, Empfänge, Reisen und Schlachten.33 Auf der Grundlage der im ersten Kapitel erstellten Synopsis der Earendil-Saga und im Sinne der von Jürg Glauser gefundenen Kritierien für das Genre Märchensaga macht es keine prinzipiellen Schwierigkeiten mehr, diesen Terminus für die Saga des Erarendel zu übernehmen. Die auf die Earendil-Saga bezogene Beweisführung muss dann nur noch die Glauserschen Erzählschablonen auf der Erzählebene der Earendil-Saga strukturell organisieren, was aber über den hier gesetzten Rahmen hinausgehen würde.
Tolkiens Leidenschaft für Märchen, Mythen Legenden und Fabeln seit seiner Kindheit wurde bereits in Imaginationen hervorgehoben. In seiner eigenen Vorstellung und dichterischen Konzeption diente sein schriftstellerisches Werk dem Versuch, eine Mythologie für England zu schaffen, da es ihn schmerzte, so sein Biograph, dass die einst vorhandene, indigene altenglische Tradition im 10. und 11. Jahrhundert von den eindringenden Normannen bis auf wenige Fragmente zerstört wurde. Kaum etwas, so Tolkiens Auffassung, ist bis in seine Zeit vollständig tradiert worden. Diesen Mangel zu beheben, war für ihn eine wichtige Motivation, seine fiktive Mythologie von Mittelerde zu entwerfen. Tolkien war aber auch dafür bekannt, dass er Namen und Ereignisse aus der Mythologie, wie beispielsweise aus Edda, der Kalevala oder dem Beowulf oder anderen altnordischen und altenglischen Saga-Literaturen entlehnte, die er hinsichtlich Bedeutung und Handlung als fragmentarisch und ungenügend empfand, um solche Erzählungen, Jahrhunderte später, und in einem neuen Bewusstsein, neu aufzugreifen und weiter zu entwickeln, zu vervollständigen oder abzuschließen. Der Name Earendil ist nur einer unter vielen.
Im Rahmen seiner Textproduktion tut dies jeder mythenschaffende Autor, auch der mittelalterliche, oral dichtende Barde oder Skalde. So verwendete der Dichter des Beowulf anscheinend eine Version der isländischen Grettis saga (Kap.66), um den aquatischen Wohnort von Grendel und seiner Mutter seinen Zuhörern nachvollziehbar zu machen, und zeitgemäß zu gestalten.
There are many similarities here, (argumentiert Howell D. Chickering in seiner Analyse der Quellen des Beowulf-Poeten), to Beowulf´s battle with the Grendel tribe. The conclusion to be drawn is not that the later Grettis saga derives from the Beowulf, or Beowulf from some earlier version of the Grettis story, but that they both go back independently to a common original.34
Tolkiens nutzt in seinem literarischen Schaffen, bei der Konstruktion der Mythologie Mittelerdes, genau diese Technik: Er orientiert sich an der mythischen Form, die er bewahrt (Textpflege), greift aber verändernd in die semantische Ebene ein, um den Mythos einem modernen Publikum nahe zu bringen (Sinnpflege). Er verlässt sich dabei auf seine Imaginationsfähigkeit, aber auch auf die befreundeten und kenntnisreichen Kritiker aus dem Kreis der Inklings, wenn er Mythenabbrevationen weiter entwickelte, wie sie vielleicht erzählt worden sind oder hätten erzählt werden können.
Gemessen an den Erzählschablonen, die Jürg Glauser für die altisländische Märchensaga nennt, ist die Earendil-Saga zwar keine charakteristische Märchensaga, sie teilt aber mit ihr einige gemeinsame Merkmale. Die Entscheidung für die geeignete Grundlage eines Vergleichs der Earendil-Saga mit den isländischen Märchensagas erscheint willkürlich, da es keine von Tolkien selbst verfasste, vollständige Fassung der Earendil-Saga gibt. Wie an anderer Stelle ausführlich erörtert, geht das Earendil-Thema auf den Beginn des tolkienschen Werks zurück und ist bereits im Buch der Verschollenen Geschichten konzipiert. Die zeitlich späteste Version der Ereignisse des Ersten Zeitalters, The Later Quenta Silmarillion, die Christoper Tolkien in den Bänden 10 und 11 der History of Middle-Earth publizierte,35 ist bezüglich der letzten Tage Beleriands im zweiten Teil zu fragmentarisch, und die Earendil-Saga nur marginal berührt. Die postume Kompilation Das Silmarillion (1977), die ebenfalls auf Christopher Tolkien zurückgeht, konnte von dessen Vater nicht mehr authorisiert werden. Die Earendil-Version von 1977 bietet zwar den erzählerisch einheitlichsten Text, ist koherent und flüssig lesbar, ist allerdings eine geglättete Synopsis und entspricht den Vorstellungen des Sohnes von den Absichten des Vaters. Aus diesen Gründen bleiben die früheren Fassungen dieses Stoffes die geeigneten Texte, insbesondere The Quenta (herein is) Qenta Noldorinwa36 und Quenta Silmarillion.37 Beide Fassungen gehen auf die Ur-Version zurück, auf The Sketch of Mythology oder The Early Silmarillion,38 und sind kontinuierlich überarbeitete und verbesserte Fassungen dieses Urtextes. Die Quenta Silmarillion wiederum ist eine verbesserte und erweiterte Version der Qenta Noldorinwa. Obwohl die Beziehung zwischen beiden Fassungen außerordentlich eng ist, bemerkt Christopher Tolkien:
It seems highly improbable that my father could have achieved this form without any intermediate texts developing it form the Qenta Noldorinwa. [...] But there is now, remarkably, no trace of any such material, until the tale of Beren and Lùthien is reached: from this point on preliminary drafts exist.
Im Gegensatz zu den altisländischen Märchensagas sind Tolkiens Earendil-Texte fragmentarisch geblieben – von ihm lebenslang weiterentwickelt. Nur die Kompilation Das Silmarillion stellt eine Erzählung mit einheitlicher Textoberfläche und narrativer Struktur dar, stammt aber nicht von Tolkien selbst.
In allen drei Versionen erzählt Tolkien die Earendil-Saga, unterschiedlich ausführlich, in einigen Aspekten auch widersprüchlich, thematisiert aber in allen Versionen die mit Earendil zusammenhängenden Fragen für seine fiktionale Mythologie Mittelerdes. Der bedauerlicherweise fragmentarische Zustand der Earendil-Saga hat zur Folge, dass die charakteristischen Erzählschablonen, die Jürg Glauser in den isländischen Märchensagas gefunden hat, in den verschiedenen Fassungen der Earendil-Saga nur unvollständig existieren, dennoch aber auffindbar sind. Es würde aber auch keinen Sinn machen, nur nachzuweisen, dass sich Tolkien dieser Schablonen bediente, die Glauser in seiner Studie aufführt. Interessanter wäre es, zu belegen, dass Tolkiens Erzählschablonen und deren strukturelle Organisation in der Earendil-Saga weder inhaltlich noch formal in Widerstreit mit denen der isländischen Märchensagas stehen.
Anmerkungen
1 Herbert W. Jardner, Imaginationen von der anderen Seite. J.R.R. Tolkiens mythographische Methode, unpubliziertes Manuskript, Weblog Das Tolkien-Projekt, 2005.
2 Reimer Jehmlich, Phantastik – Science Fiction – Utopie, in: Christian W. Thomsen und Jens Malte Fischer (Hg.), Phantastik in Literatur und Kunst, Darmstadt, 1980:23.
3 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart, 1989:679 [Sachwörterbuch]. In seinem Grundsatz-Essay Über Märchen verteidigt Tolkien gerade diesen Terminus phantastisch und grenzt ihn vom Traum, der Psychose und den Wahrnehmungsstörungen ab (ÜM, 179-180). Das Phantastische ist für ihn eine rationale Tätigkeit des menschlichen Geistes, weder irrational noch unkontrolliert, geradezu die Basis des Geschichtenerfindens der Zweitschöpfers, die Hand in Hand geht mit den Fähigkeiten der Imagination, Intuition und Inspiration.
4 Wilpert, Sachwörterbuch, 679.
5 Ausführlich beschäftigte ich mich mit diesem Argument an anderer Stelle meiner Earendil-Studien.
6 Wilpert, Sachwörterbuch, 986. Vgl. a. Wolfgang Biesterfeld, Die literarische Utopie, Stuttgart, 1982:1-29.
7 Tolkien, Märchen, 180.
8 Vgl. von Wilpert, Sachwörterbuch, 547
9 Aber auch: -saga, sögn, in der Bedeutung: Voraussage, Prophezeiung (Baetke, WAP.588); ebenfalls an. saga, WAP.513.
10 Vgl. von Wilpert, Sachwörterbuch, 804-805.
11 Vgl. von Wilpert, Sachwörterbuch, 600-601.
12 Kurt Schier, Sagaliteratur, Tübingen, Stuttgart, 1970 [Sagaliteratur]; Jürg Glauser, Isländische Märchensagas, Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island, Frankfurt a.M., 1983 [Märchensagas]. Für die deutsche Übersetzung einiger isländischer Märchensaga siehe Jürg Glauser und Gert Kreutzer (Hg.), Isländische Märchensagas, Bd.1: Ritter- und Heldenerzählungen aus Islands Spätmittelalter, München, 1998.
13 Schier, Sagaliteratur, 105. Riddarasögur (Rittersagas) sind vorwiegend Bearbeitungen kontinentaleuropäischer, höfischer Dichtungen beziehungsweise isländische Neuschöpfungen in diesem Stil. Fornaldarsögur (frühgeschichtliche Sagas; falsch: Vorzeitsagas) sind Erzählungen, die in einer Zeit vor der Besiedlung Islands spielen, in einer weit zurückliegenden alten Zeit (ai. fornrit), und deren Hauptschauplätze die Länder Nordeuropas sind.
14 Rudolf Simek und Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, Stuttgart, 1987:234 [LAN].
15 Königssagas (an. Konungasögur); Isländersagas (an. Íslendingasögur).
16 Carpenter, Biographie, 170.
17 Carpenter, Biographie, 218-219.
18 Carpenter, Biographie, 170.
19 Verlyn Flieger, Splintered Light. Logos and Language in Tolkien´s World, The Kent State University Press, 2002:43 [Splintered Light].
20 Simek und Pálsson, LAN.302.
21 Saga, Aussage, Mitteilung, Bericht (an. segja, erzählen).
22 Schier, Sagaliteratur, 1.
23 Simek und Pálsson, LAN.301-303.
24 Sigurður Nordal, Isländische Geschichtsschreibung in: Walter Baetke (Hg.), Die Isländersaga, Darmstadt, 1974:123 [Geschichtsschreibung].
25 Sturlungasaga, I.34-35 (Übersetzung Nordal, Geschichtsschreibung, 106). Die Þorgilssaga ok Hafliða ist Teil der Sturlungasaga, die im frühen 13. Jahrhundert entstand. Ein flokkr (Schar, Haufen) ist die einfachste Form des skaldischen Preislieds, der seinen Inhalt durch die bloße Aneinanderreihung von Strophen zum Ausdruck bringt.
26 Erich Rothacker, Das historische Bewußtsein, Zeitschrift für Deutschkunde 45, 1931:468.
27 Hermann Trimborn, Die Entwicklung der wissenschaftlichen Fragestellung in der Völkerkunde seit Friederich Ratzel und Adolf Bastian, Erdkunde. Archiv für wissenschaftliche Geographie, Bd.13, 1959:374.
28 Rüdiger Schott, Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker, Archiv für Begriffsgeschichte Bd.12(1), 1968:170.
29 Horst Folkerts, Die gerettete Geschichte. Ein Hinweis auf Walter Benjamins Begriff der Erinnerung, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M., 1991:364.
30 Nordal, Geschichtsschreibung, 108.
31 Hellmut Rosenfeld, Legende, Stuttgart, 1982:2 [Legende].
32 Rosenfeld, Legende, 2.
33 Glauser, Märchensagas, 103ff.
34 Chickering Jr., Beowulf, 334-335 nennt andere, konkurriende Quellen der Entlehnung dieses narrativen Motivs.
35 History of Middle-Earth 10: Part One: The First Phase (von 1958), HME, X.141-199; Part One: The Second Phase, HME, X.199-300 sowie History of Middle-Earth 11: Part Two, HME (von 1958), XI.173-247.
36 Verfasst 1930; HME, IV.76-218.
37 Verfasst 1937; HME, V.199-338.
38 Verfasst 1926; HME, IV.11-75.
Soweit die einführende Vorbemerkung zur Gattung der Earendil-Saga, die ich in vier weiteren Studien ausführlich analysieren werde. In diesen Untersuchungen geht es mir insbesondere um den Nachweis der Zusammenhänge des tolkienschen Werks, seiner (fiktiven) Mythologie für England, mit den europäischen, antiken literarischen Quellen der nordischen, frühgeschichtlichen Kulturen der Briten, der Nordgermanen, der Kelten sowie der Finnen. In diesen vier Arbeiten beschäftige ich mich mit einzelnen, charakterisierenden Aspekten der Earendil-Saga, wie sie sich aus den unterschiedlichen Versionen des Silmarillions isolieren lassen:
- Einführung: Earendil - Synopsis einer Märchensaga
- Earendil, Teil 1: Earendil in der altgermanischen Kultur
- Earendil, Teil 2: Die semantische Ambivalenz von altnordisch aurr
- Earendil, Teil 3: Altgermanische Kastastrisationen
- Earendil, Teil 4: Vom Urbild des Seefahrers zum Botenstern
- Earendil, Teil 5: Earendils letzte Fahrt
Copyright 2023. All Rights Reserved
Die Tolkien-News-Texte sind urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalt dürfen nicht kopiert und nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen