Freitag, 30. Dezember 2022

Das Konzept der Silmaril


Die Silmaril [1] gab es in Tolkiens Legends of the Elder Days von Beginn an. Die Bedeutung, die sie für ihn allmählich annahmen, unterlag einer Entwicklung, die schließlich in der Earendil-Saga kulminierte; aber dies auch erst nach einem Jahrzehnte dauernden Ringen um narrative Dichte und philosophischen Hintergrund. [2] Erst als Tolkien die Stellung und Bedeutung der Silmaril in seiner Mythologie (Legendarium) für sich selbst überzeugend klären konnte, war die Zeit reif, die Earendil-Saga abzuschließen. Mit Ausnahme der Kompilation Das Silmarillion konnte Tolkien selbst den philosophisch-theologischen Hintergrund dieser Saga erst in The Annals of Aman oder The Later Quenta Silmarillion ausführen, und auch erst dann, als es ihm gelungen war, die Arbeiten am Konzept der Silmaril befriedigend abzuschließen. [3]

Earendils Taten und seine Persönlichkeit, insbesondere seine Heldentat für die Kulturen Beleriands und Mittelerdes, sind ohne die Bedeutung und Wirkung der Silmaril für Eldar und Edain nicht denkbar. Die Existenz, die besonderen Eigenschaften und das Begehren nach den Silmaril, motiviert die Ereignisse des Ersten Zeitalters und beinflusst Denken, Fühlen und Handeln aller Protagonisten der Älteren Tage, zum Guten wie zum Bösen. Die Stellung dieser drei Kleinodien ist so außergewöhnlich, dass die Geschichte des Ersten Zeitalters auch die Geschichte oder das Zeitalter der Silmaril genannt werden kann. Letztlich kreisen alle Ereignisse der fiktiven Geschichte Mittelerdes, bis hin zur Epoche des Herrn der Ringe, um diese Kunstwerke. Selbst die Ringe der Macht sind nach dem Vorbild der Silmaril entstanden.
Der Schöpfer der Silmaril [4] und auch der Palantíri [5] ist Fëanor, [6] der große Alchimist und Hermetiker der Noldor, der auch die Tengwar [7] Rúmils so weiterentwickelte, dass man später in Mittelerde von der fëanorischen Schrift sprach. Fëanor ist eine der zahlreichen Alter ego Gestalten Tolkiens. Er verkörpert dessen kreatives Ideal, ebenso wie der Maler Niggle (Tüftler). Anders als die Hobbits, Eriol oder Ælfwine, die Vermittler zwischen den verschiedenen narrativen Ebenen in Tolkiens Werk, eröffnet ihm Fëanor aber keine unmittelbaren Handlungsspielräume in seinen Erzählungen. Tolkien sympathisiert mit der Haltung und dem künstlerischen Standpunkt Fëanors, dem großartigen Künstler und Handwerker, der im Neunten Kapitel des Silmarillion in Tränen ausbricht, als die Valar von ihm verlangen, ihnen die Silmaril auszuhändigen, um mit ihnen die Zwei Bäume, und deren Licht zu retten:

Doch nun sprach Feanor, bitterlich weindend: „Der Geringe wie der Hohe kann manches Werk nur einmal vollbringen, und an diesem Werk hängt sein Herz. Ich kann vielleicht meine Steine hergeben, doch nie mehr werde ich ihresgleichen schaffen; und wenn ich sie zerbrechen muß, so zerbreche ich mein Herz, und ich werde erschlagen, als erster von allen Eldar in Aman.“ [8]

Fëanors Reaktion auf den Verlust der Silmaril zeigt deutlich, um welche Kostbarkeit es sich bei diesen Steinen gehandelt haben muss. Seine Ethnie, die Noldor (Noldoli), schildert Tolkien als geschickte und einfallsreiche Kunsthandwerker, die von dem Valar Aule [9] unterrichtet, im Geheimen arbeitend, unermessliche Schätze an Schönheit und Reichtum schufen: Metall, Steine, Marmor und Muscheln bearbeiteten sie, und reicherten diese Materialien mit Strahlenglanz und Sternenlicht, mit kristallenen Tropfen schimmernden Wassers, mit Blütenblättern aller Tönungen und Düften, und mit den herabgefalllen Strahlen der Zwei Bäume Valinors an: Schätze aus schönen und strahlenden Dingen.
Die Konzeption der Silmaril beginnt Tolkien im Buch der Verschollenen Geschichten schon um 1916. Das fünfte Kapitel, Die Ankunft der Elben und die Gründung von Kôr, berichtet von der handwerklichen Geschicklichkeit der Noldor, und davon, wie ihnen ihre Edelsteine zunehmend schöner und prächtiger geraten. Schließlich gelangen Fëanor, als Höhepunkt seiner Kunstfertigkeit, die Silmaril. Dazu nahm er den Schimmer von Perlen und die abgetönten Farben der Opale, und schloss in diese Körper das magische Licht der Zwei Bäume Valinors: Telperions glühenden, strahlenden Glanz und Laurelins Lichts. Christopher Tolkien paraphrasierend markiert Christina Scull den Ausgangspunkt der Silmaril-Konzeption Tolkiens, und nennt dabei die Anhäufung qualitativer Eigenschaften - mächtig, bedeutend, schicksalhaft, heilig - die den Silmaril zugeschrieben werden:

So the Silmarils at their first appearance were no more than the most beautiful of many gems made by the Noldoli. This part of the tale exists only in pencil draft and was not revised. In successive versions of his legendarium Tolkien gradually made the Silmarils more powerful, more significant, more fateful, even holy, and eventually he referred to the whole legendarium as the „Silmarillion“. [10]

Wie ein urzeitlicher Demiurg schuf Fëanor die drei Silmaril während des Aufenthalts der Noldor in Kôr. In der frühesten Version dieser Schöpfungstat, im Buch der Verschollenen Geschichten, schildert Tolkien dieses herausragende Ereignis in der Geschichte des Ersten Zeitalters folgendermaßen:

Da machte sich Feanor von den Noldoli auf, begab sich zu den Solosimpsi [die „Flötenspieler des Küstenlandes“, später die Teleri, der dritte Stamm der Eldar; HWJ], erbat sich eine große Perle und bekam außerdem einen Krug voll des strahlendsten Phosphorlichtes, an dunklen Plätzen dem Schaum abgeschöpft, und damit kehrte er heim; und er nahm alle anderen Gemmen, verstärkte ihren Glanz durch das Licht weißer Lampen und silberner Kerzen, und er nahm den Schimmer von Perlen und die blassen, abgetönten Farben der Opale, tauchte sie in den glühenden, strahlenden Glanz des Taus von Silpion [auch: Telperion; der ältere der Zwei Bäume Valinors; HWJ], und nur einen winzigen Tropfen des Lichts vom Laurelin [der jüngere der Zwei Bäume Valinors; HWJ] ließ er hineinfallen; und all dieses magische Licht fing er in einem so vollkommenen gläsernen Körper ein, wie nur er ihn herstellen konnte und selbst Aule es nicht vermochte; und mit der kunstsinnigen Geschicklichkeit seiner Hände schuf Feanor einen Edelstein - und dieser leuchtete in der tiefsten Dunkelheit … [11] aus sich selbst; und er stellte ihn ins Dunkel und saß sehr lange Zeit davor und bestaunte seine Schönheit. Darauf schuf er zwei weitere, bevor ihm der Stoff ausging; und er holte die anderen Noldoli herbei, sein Werk anzuschauen, und sie waren aufs äußerste verwundert; und diese Edelsteine nannte er Silmarilli oder, wie wir heute in der Sprache der Noldoli sagen, Silubrilthin. [12]

Die Silamril waren in Tolkiens Erzählungen aber nicht sofort das, was sie in der letzten Version der Earendil-Saga in Das Silmarillion repräsentieren: Zu Beginn waren sie einfache Gemmen, Schmuckstücken gleich, der hohen Kunstfertigkeit der Noldor eine Zier. Sie waren nicht sofort die magischen Gegenstände, die Wohlstand, Glück und Fruchtbarkeit bewirkten, und um deren Besitz alle Kriege Beleriands geführt wurden. Gegenstände, die das Schicksal ganzer Kulturen beeinflussten und besiegeln sollten, waren sie in Tolkiens Vorstellung erst viel später.
Tolkien hatte immer ein untrügliches Gespür für einen guten Plot, für ein geeignetes narratives Element oder für einen wirkungsvollen, überraschenden Effekt, der seine Erzählungen voranbringen konnte, für sogenannte Grüne Sonnen, wie er solche Motive in Über Märchen nannte. Und als die Idee zu den Silmaril erst einmal da war, begann er in seiner charakteristisch neugierigen Art danach zu fragen, was es mit diesen Steinen denn für eine Bewandtnis haben könnte. Und mit der gestellten Frage begann die Entwicklung der Silmaril.
Noch in der gleichen Phase der Entwicklung der Quenta Silmarillion lädt Tolkien die Silmaril mit gesteigerter Bedeutung auf, die er zuerst noch vage fragend in einer Anmerkung formuliert. In einem von ihm selbst verfassten Kommentar zum siebten Kapitel des Buchs der Verschollenen Geschichten, in Die Flucht der Noldili, bemerkt er schon in unmittelbarem Anschluss an die oben zitierte Geburt der Silmaril:

Das Element des Verlangen nach den Silmaril verstärken. Verlangt eine Menge Umarbeitung: die Gier nach Edelsteinen - besonders nach den heiligen Silmaril - muß stärker betont werden. [13]

Der Fortgang der Erzählungen über die Taten der Noldor nach ihrer Rückkehr nach Mittelerde (Beleriand) ließ Tolkien unglücklicherweise fragmentarisch. Aber schon einige Jahre später (um 1930), in der Quenta Noldorinwa, greift Tolkien das Thema der Silmaril erneut auf. Jetzt verleiht er ihnen die numinose Aura magischer Paraphernalien zu einem nicht näher erwähnten rituellen Zweck:

[...] to make a thing more fair than any of the Eldar yet had made. [...] A living fire burned within them that was blended from the light of the Two Trees; of their own radiance they shone even in the dark; no mortal flesh impure could touch them, but was withered and was scorched. [14]

In dem alliterienden Gedicht The Lay of the Children Húrin (1918) spielen die Silmaril noch keine Rolle. Ihre wachsende Bedeutung begann sich erst seit dem unvollendeten Gedicht zu entfalten, dass Tolkien einige Jahre später verfasste, The Flight of the Noldoli (1925). In diesem Gedicht spielt der Eid der Fëanori, der Fëanor-Söhne, den sie kurz vor ihrem Aufbruch aus Valinor schworen, eine Schicksale entscheidende Rolle, nachdem Fëanor seine aufrüttelnde Rede hielt, die die Silmaril, ganz wie das Rheingold, mit einem Fluch belegte. [15] Auch in dem Gedicht The Lay of Leithian, an dem Tolkien zwischen 1925 und 1931 arbeitete, bezieht er sich häufig auf die Silmaril. Er nennt sie dort the gems of fate und the holy jewels three. [16]
Das Early Silmarillion (oder: The Sketch of Mythology; um 1926 entstanden) belegt ebenfalls die zunehmende Bedeutung der Silmaril in Tolkiens Geschichten der Älteren Tage. Dort spricht er plötzlich von der außergewöhnlichen Reinheit und Heiligkeit dieser Kleinodien:

„wherein a living fire combined in the light of the Two Trees was set, they shone of their own light, impure hands were burned by them“. [17]

Von Melkors Schmerzen, den Fëanor Morgoth, den schwarzen Feind der Welt nennt, der diese Steine gestohlen hatte, berichtet bereits das Early Silmarillion:

„he forges an iron crown and sets therein the Silmarils, though his hands are burned black by them, and he is never again free from the pain of the burning“. [18]

Selbst der mächtigste der Valar kann die Macht der Silmaril nicht kontrollieren, oder schafft es, sie aufzugeben. Sie entfalten für ihren Besitzer dasselbe hohe Abhängigkeitspotential, wie es Tom Shippey für die Ringe der Macht vorgeschlagen hat. Wer sich an die Ereignisse im Silmarillion erinnert, sich vor Augen führt, was der Anspruch, die Simaril zu beisitzen den Völkern Beleriands antat, der wird sich an Gandalfs Worte im Zweiten Kapitel des Herrn der Ringe erinnern:

„Dies ist der Meister-Ring, der Eine, der alle beherrscht. Dies ist der eine Ring, den er vor langer Zeit sehr zur Schwächung seiner Macht verloren hat. Er begehrt ihn unbedingt - aber er darf ihn nicht bekommen“. [19]

Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut; darin liegt die Bedeutung der Warnung Gandalfs vor der Benutzung und dem Besitz des Einen Rings. Fëanors Hybris, den Valar und seiner eigenen Ethnie gegenüber, ist nichts anderes als der Anspruch, den Sauron auf den Ring und Melkor auf die Silmaril erhebt. Denn Fëanor, eine kurze Zeit Melkors Schüler, als dieser in Valinor gefangengehalten wurde, profitierte von dessen Kenntnissen, und wurde so mit der dunklen Seite der Macht infiziert: Ergebnis ist sein verhängnisvoller Eid. Tom Shippey hat den Besitz dieser Objekte, dem ganze Völker und Reiche zum Opfer fielen, suchtbildend genannt:

Das Wort heißt »addictive«. Gandalfs These ließe sich insgesamt dahingehend zusammenfassen, dass der Gebrauch des Rings »suchtbildend« wirkt. Einmaliger Gebrauch ist für sich genommen nicht unbedingt schädlich, stärkt aber das Verlangen nach der Wiederholung. In früheren Stadien kann die Sucht noch abgeschüttelt werden (wie bei Bilbo und Sam), doch sobald sie einmal Fuß gefasst hat , ist sie mit Willenskraft allein nicht mehr zu überwinden. Wo sich andererseits die Sucht gar nicht erst gebildet hat, wirkt sie nicht stärker als jede andere Versuchung. [20]

Und wie der Macht des Rings Isildur, Gollum, Bilbo, Saruman, Boromir, Denthor und angesichts der Schicksalsklüfte selbst Frodo verfielen, erging es dem Vala Melkor, Fëanor und seinen Söhnen und zuletzt Thingol, dem König in Doriath, mit den Silmaril. Dahinter erscheint das Motiv des Rings der Nibelungen aus der germanischen Mythologie, dessen Faszination und Machtversprechen selbst Óðinn und die Æsir nicht widerstehen konnten.
Im Early Silmarillion hat sich Tolkien dann endgültig entschieden, was mit den Silmaril geschehen sollte: sie enden in der Luft, in der Erde und im Wasser. In der Tinúviel-Erzählung war ihm dies noch nicht klar, zumindest kommt Christopher Tolkien in seinem Kommentar zu dieser Ansicht. Tolkien scheint in dieser Phase der Entwicklung der Quenta Silmarillion selbst nicht genau gewusst zu haben, wie er seine Konzeption weiter entwickeltn würde, denn Christopher Tolkien zieht den Schluss:

My father at this time gave no answer to the question; but the question is itself a testimony to the relatively minor importance of the jewels of Fëanor, if also, perhaps, a sign of his aweness that they would not always remain so, that in them lay a central meaning of the mythology, yet to be discovered. [21]

Im Verlauf der Entstehung der Earendil-Saga von der Version im Buch der Verschollenen Geschichten bis zu der Version in der postumen Kompilation Das Silmarillion lassen sich zwei unterschiedliche Konzepte erkennen: In den Verschollen Geschichten wird Earendil zu einem Stern. Sein Glanz und seine Strahlkraft verdankt er aber noch nicht dem Besitz eines Silmarils, sondern dem Diamantenstaub, der nach seinem Aufenthalt in Kôr an seiner Kleidung und an seinen Schuhen haftete und from the greatness of his grief. Die Eldar hatten damals bereits von den Vögeln von dem Leid ihrer Verwandten in Beleriand gehört, und befanden sich auf dem Großen Marsch in den letzten Krieg um Beleriand. Earendil hatte Valinor ohne die Hilfe des Silmarils (und Elwings) gefunden. Der Earendil dieser Version ist noch der berühmteste der Seefahrer; einen Auftrag Ulmos gibt es noch nicht.
Für die weitere Entwicklung des Konzepts der Silmarilli bemerkt Christopher Tolkien an anderer Stelle ausdrücklich:

We thus have a remarkable stage of transition, in which the Silmarils have at last achieved a primary importance, but where the fate of each has not arrived at the final form; and the conclusion, seen to be inevitable once reached, that it was the Silmaril regained by Beren and Lúthien that become the Evening Star, has not been achieved. [22]

Seit den 1930er Jahren entwickelte Tolkien seine Earendil-Saga konsequent weiter, ohne zu Lebzeiten einem Abschluss zu finden. In den nun entstehenden Variationen der Erzählung trifft Earendil mit Elwing zusammen, und gemeinsam fahren sie nach Valinor. Mit Hilfe des Silmarils finden sie Valinor und tragen ihre Botschaft vor; diesmal handelt Earendil im Auftrag Ulmos, ist in dessen Namen ein Botschafter der Ethnien Beleriands. In der Quenta Noldorinwa (QN 1; seit den 1930ern) versucht Ulmo nämlich die Valar zu bewegen, in Beleriand einzugreifen. Earendil segelt nach Valinor und bringt seine Botschaft den

Gods and Elves of the West, that should move their hearts to pity on the world and the sorrows of Mankind. [23]

Als er in Valinor eintraf waren die Elben auf Ulmos Drängen hin bereits aufgebrochen. In einen Kommentar am Ende einer Seite dieser Phase der Konzeption der Gestalt Earendils äußert Tolkien einen neuen, folgenschweren Gedanken: Make Eärendel move the Gods. [24] Auch in der überarbeiteten Version der Quenta Noldorinwa (QN 2) interveniert Ulmo, aber dieses Mal verschließt sich Manwë Ulmos Drängen. [25] Erst nach mehreren gescheiteren Versuchen gelingt es Earendil dann, unter Ulmos Einfluss stehend, die Valar zu bewegen, den Eldar und Edain zu helfen, insbesondere den Noldor ihre Hybris zu verzeihen. Der feierliche Empfang Earendils durch Fionwë, in dem dieser Earendils Bedeutung symbolisch andeutet, steht ganz in diesem Zeichen:

„Hail Eärendel, star most radiant, messenger most fair! Hail thou bearer of light before the Sun and Moon, the looked-for that comest unawares, the longed-for that comest beyond hope! Hail thou splendour of the children of the world, thou slayer of the dark! Star of the sunset hail! Hail herald of the morn!“ [26]

In den frühen 1930er Jahren schrieb Tolkien eine neue Version der Erzählung von den Silmaril, die Quenta Noldorinwa, mit der er eine überarbeitete Variante des Early Silmarillion schuf. In dieser neuen Erzählung steigerte Tolkien die Bedeutung der Silmaril für das Schicksal der Ethnien im Ersten Zeitalter weiter. In diesem Text erscheinen nun die Silmarill erstmals als das, was sie in den weiteren Versionen sind. Im Wortlaut schreibt Tolkien:

In those far days Fëanor began on a time a long and marvellous labour, and all his power and subtle magic he called upon, for he purposed to make a thing more fair than any of the Eldar yet had made, that should last beyond the end of all. [27]

Während Tolkien in der ersten Version der QN (1) die Rolle von Earendil und Elwing beibehielt, änderte er sie in der Überarbeitung (QN 2) wieder. Auf diese Weise entsteht die endgültige Fassung dieses Motivs: Earendil erreicht nach dem Massaker im Sirion-Delta mit Hilfe des Silmarils Valinor und bittet um Hilfe für die beiden Geschlechter der Eldar und Edain. In den Annals of Beleriand (1930) offenbart Tolkien eine weitere Eigenschaft desjenigen Silmarils, den einst Beren zurückgewann, und den Elwing von ihren Bruder Dior erbte:

[...] Silmaril brought blessing upon them (den Flüchtlingen; HWJ), and they were healed, and they multiplied. [28]

Ein von Tolkien entworfenes Titelblatt aus dieser Zeit, das wohl für die Annals of Beleriand gedacht war, verfestigt die jetzt etablierte Bedeutung der Silmaril vollends: The Silmarillion heißt nun der Titel der Erzählungen, die um die Silmaril gruppiert sind. [29] Mitte der 1930er Jahre hatte Tolkien eine neue Prosa-Version seiner Mythologie der Quenta Silmarillion begonnen. Er unterbrach sie aber in den 1950ern als er mit der Auftragsarbeit des Herrn der Ringe begann. Aber auch in dieser Zeit bildeten die Silmaril für ihn noch das Hauptmotiv der Quenta wie ein Titelblatt zeigt:

The Silmarillion. The History of the Three Jewels, the Silmarils of Fëanor in which is told in brief the history of the Elves from their coming until the Change of the World. [30]

In die Quenta Silmarillion fügte Tolkien allerdings eine weitere Änderung ein. Während bisher die Silmaril nicht von unreinem und sterblichen Fleisch berührt werden konnten, sind sie nun gefährlich für die ganze Menschheit (no mortal flesh, nor flesh unclean, could touch them, but as scorched and withered). Auf diese Weise hebt er den besonderen Umstand hervor, dass Beren den Silmaril, aber nur einen aus Morgoths Krone herausbrechen konnte und verleiht seiner Tat eine Bedeutung die menschliches Maß überschreitet. In einer Überarbeitung der Lay of Leithian heißt es nämlich:

Behold! the Hope of Elvenland,
the fire of Fëanor, Light of Morn
before the sun and moon were born,
thus out of bondage came at last,
from iron to mortal hand it passed.
There Beren stood. The jewel he held,
and its pure radiance slowly welled
through flesch and bone, and turned to fire
with hue of living blood. Desire
the smote his heart their doom to dare,
and from the deeps of Hell to bear
all three immortal gems, and save
the elven-light from Morgoth´s grave
. [31]

In den Jahrbüchern von Aman, die aus der gleichen Zeit stammen, beschreibt Tolkien die Herstellung der Silmaril jetzt auf eine metaphysische Weise, die die Konzeption der numinosen Kunstwerke der Verschollenen Geschichten (VG 1) weit überschreitet. Unter dem Eintrag für das Jahr 1450 ist zu lesen:

In this year the Silmarils were full-wrought, the wonder of Arda. As three great jewels they were in form. But not until the End, when Fëanor shall return who perished when the Sun was young and sitteth now in the Halls of Awaiting and comes no more amongst his kins; not until the Sun passeth and the Moon falls shall it be known of what substance they were made. Like the crystal of diamonds it appeared and yet was more strong than adamant, so that no violence within the walls of this world could mar it or break it. Yet the crystal was to the Silmarils but as is the body to the children of Ilúvatar; the house of its inner life. [32]

Tolkien hatte sich entschieden: die Sonne und der Mond, die nach der Zerstörung der Bäume von Yavanna aus den Resten der zerstörten Bäume geschaffen wurden, können das besondere Licht der Zwei Bäume Valinors nicht ersetzen; dieses lebt von nun an nur noch in den Silmaril, sodass deren Wert ins Unermessliche steigt. In seiner 1950er Überarbeitung des Erzählzyklus, in der ersten Phase der Later Quenta Silmarillion (LQS) geht Tolkien einen Schritt darüber hinaus indem er das qualitative Spektrum der Silmaril weiter verstärkt. In dem Kapitel Of the Silmarils and the Darkening of Valinor (LQS) besteht die wichtigste Neuerung darin, dass Fëanor die Silmaril bewusst schuf, um in ihnen das Licht der Zwei Bäume aufzubewahren:

And in that time there was done the deed most renowned of all the works of the Elvenfolk. For Fëanor, being now come to his full might, was filled with a new thought, or maybe some shadow of foreknowledge came to him of the doom that should be; and he pondered how the Light of the Trees, the glory of the Blessed Realm, might be preseved imperishable. Then he began a long and marvellous labour; and he summoned all his lore, and his power, and all his subtle craft, for he purposed now to make things more fair than any of the Eldar had yet made, whose beauty should last beyond the End. [33]

In der Later Quenta Silmarillion übernehmen die Silmaril jetzt eine ganz bemerkenswerte Funktion: Sie beherbergen die flame imperishable, ein Motiv, dass Tolkien in der Ainulindalë im Zusammenhang mit der Schöpfung des Kosmos verwendet. Und diese Flamme, dieses Licht, das auch in den Zwei Bäumen leuchtet, integriert Fëanor willentlich und bewusst in die Silmaril, damit es nie mehr verloren gehen kann. Eine wahrhaft vorausschauende und zukunftsweisende Tat zugleich, wäre da nicht auch der unheilvolle Einfluss Melkors, ohne den Fëanor seine Aufgabe nicht hätte vollbringen können. Eine der zentralen Überzeugungen der Erzähltexte Tolkiens: Das Gute ist ohne das Böse nicht denkbar. Die unvergängliche Flamme, das Geheime Feuer, repräsentiert den urzeitlichen Schöpfungsfunken, die kreative Energie des Kosmos, den gestaltenden Geist Ilúvatars:

[...] und Ilúvatar wird ihren Gedanken das geheime Feuer geben, und er wird sein Wohlgefallen haben. [...] Also sage ich: Ea! Es Sei! Und ich will die Unverlöschliche Flamme in die Leere hinaussenden, und sie wird im Herzen der Welt brennen, und die Welt soll sein; [34]

Wenn sich Gandalf auf der Brücke von Khazad-dûm dem Balrog entgegenstellt, ihm für uneingeweihte Leser*innen mysteriös klingend zuruft, er sei ein Diener des Geheimen Feuers von Arnor dann tut er dies in dem Bewusstsein, ein Gesandter der Valar zu sein, die Anteil an der schöpferischen Energie Ilúvatars haben.

»You cannot pass,« he said. The orcs stood still, and a dead silence fell. »I am a servant of the Secret Fire, wielder of the flame of Arnor. You cannot pass. The dark fire will not avail you, flame of Udûn. Go back to the shadow! You cannot pass«. [35]

Durch die bloße Nennung der Titel, Diener des Geheimen Feuers und Gebieter der Flamme von Arnor, offenbart Gandalf in höchster Gefahr seine wahre Identität und hofft, diese reiche aus, den Balrog, das Dunkle Feuer, die Flamme von Udûn, aufzuhalten. Der Schlüssel, diese Szene zu dekodieren, bildet der Name Arnor, den Gandalf nennt, und ihm einem anderen Ort, Udûn, gegenüberstellt. [36] In der Version C der Ainulindalë korrigiert Tolkien den Namen Arnor durch die neue Bezeichnung Säle von Aman. Arnor und Aman bezeichnen hier die weiten Säle der Welt, in denen das schöpferische Feuer (der Evolution) wirkt, und in denen Ilúvatar die Wohnungen für die Eldar und Edain schuf:

But the other Ainur looked upon this habitation in the Halls of Aman, which the Elves called Arda, the Earth. [37]

Die Terminologie für diesen Ort entwickelte sich in der tolkienschen Kosmogonie: Anar - Aman - Eä. Nun kann Anar in diesem Zusammenhang aber nicht einfach als ein Name der Sonne aufgefasst werden (Q. anar, Sonne). Das Quenya-Morphem NAR- bedeutet Flamme, Feuer (Q. nár(e), flammend, feurig; vgl. Fë=anor; A=nar=is, die Große Flamme). Das Morphem NAR- ist aber ein Derivat der Wurzel *NA-, sein, werden mit vorangestelltes Präfix A-, a=na, existieren, sein. Q. anar, Sonne, ist demnach eine abgeleitete Bedeutung, die mit dem Phänomen des Strahlen und Leuchtens zusammenhängt. Die Säle von Anar beziehen sich auf die weiten Hallen der Welt, denen die „unvergängliche Flamme“, die kreative Schöpfungsenergie Ilúvatars, Form und Gestalt gab (das Feuer als Evolutiv-Energie im Sinne einer creatio ex nihilo). [38] Als geheimes Feuer wird die unvergängliche Flamme auch in der Later Quenta Silmarillion bezeichnet. [39] Die Selbstenthüllung Gandalfs auf der Brücke von Khazad-dûm bezieht sich also unmittelbar auf die Schöpfungsenergie selbst, die flame imperishable, die unvergängliche Flamme. [40] Auf die christliche Theologie bezogen, erinnert das Konzept des unvergänglichen Feuers an die Feuerzungen des Heiligen Geists. Dieser steht in der Theologie Mittelerdes nicht alleine, denn Ilúvatar (Gott-Vater, der Schöpfer) und The Old Hope in der Athrabeth (als Christus, Gott-Sohn) ergänzen die christliche Trinität. [41] Durch Fëanors Tat haben die Silmaril Teil an der urzeitlich-ewigen flame imperishable, am urzeitlichen Schöpfungsfunken, der durch die Vala Varda auch in den Zwei Bäumen Valinors wirkt:

Varda had been entrusted with some primeval light by Eru,and used this in the creation of the trees. [42]

Chriatina Scull folgert deshalb berechtigt, dass die Idee der Silmaril

alone preserve the pure light of the Two Trees, and that the Sun and the Moon were made after the Trees had been posioned, had become one of the most essential threads in the mythology. [43]

Die Erzählung von Beren und Lúthien wurde von Tolkien an die veränderte Bedeutung der Silmaril zunehmend angepasst: So beginnt er mit Berens Heldentat, die im Verlauf immer mehr vom Schicksal bestimmt ist, denn nur Beren kann diese Tat vollbringen, nur er kann einen der Silmaril berühren, denn es ist ihm vom Schicksal bestimmt. Berens Großtat in dieser Szene präfiguriert die spätere Großtat Earendils. Earendil heiratet nicht nur Berens Enkelin Elwing und kommt so in den Besitz des Silmaril. Alle Unterstützung die Beren benötigte ist als Prophezeiung vorhanden und auf die letztendliche Rettung der Eldar und Edain durch Earendil bezogen. Dies trifft auch auf die Heldentaten von Huor und Húrin zu. Selbst die Taten Túrins dienen nur dem einzigen Zweck, Gondolin zu sichern, damit Earendil dort sicher geboren und die ersten Lebensjahre verbringen kann.

Die Silmaril-Mythologie berichtet von einer weiteren Prophezeiung, die von Mandos stammt, und den letzten Versen der Völuspa entlehnt ist. Nach der letzten Schlacht gegen Morgoth heißt es

the Silmarils shall be recovered from the sea and earth and air, and Maidros shall break them and Belaurin with their fire rekindle the Two Trees, and the great light shall come out over the world, and Gods and Elves and Men shall grow young again, and all their dead awake. [44]

Von einem rekindling of the Two Trees erzählt bereits die Version der Verschollenen Geschichten, deren Notizen andeuten, dass den Silmaril dabei eine gewisse Bedeutung zukommt: sie sind ganz wesentlich bei der Heilung von Arda, nach dem endgültigen Sieg über Melkor, der die Athrabeth der mysteriösen Old Hope zuweist. Vom Schicksal der Silmaril berichtet auch die Die Geschichte von Tinúviel. Dort erzählt Tolkien, dass Morgoth die Silmaril in seine eiserne Krone eingesetzt hat, und dass nur Beren und Lúthien einen der Silmaril befreien können. Der Charakter des Silmarils, den Beren aus Morgoths Krone bricht, ähnelt in seinen Eigenschaften schon den Edelsteinen, in die Fëanor einst in Tirion die unvergängliche Flamme einschloss:

Wisset denn, daß der Silmaril mit einem weißen und geheimen Feuer loderte, das aus seinem Inneren kam und das einen grausamen und heiligen Zauber besaß - denn die Gemme stammte aus Valinor und den Segensreichen und war mit den Zauberkräften der Götter und Gnomen gemacht, ehe das Unheil dorthin kam; und der Stein erduldete nicht die Berührung von unreinem Fleisch oder von einer unseligen Hand. [45]

Die magische Qualität dieses Silmarils, die eine feurige ist, lernt Morgoth erst in der letzten Version des Erzählzyklus, in Das Silmarillion, kennen. Im sechsten Kapitels des Buchs der Verschollenen Geschichten konnte Morgoth die Silmaril noch ohne Gefahr verbrannt zu werden berühren:

[...] und bemächtigte sich der prächtigsten Steine, sogar der Silmaril, die verschlossen waren in einem Kästchen von Elfenbein. Diese großen Reichtümer an Gemmen raubte er nun, und nachdem er und seine Gefährten sich aufgeladen hatten, soviel sie tragen konnten, trachteten sie zu entfliehen. [46]

Und auch als Melkor sich später mit der Geisterfrau Múru, die in der undurchdringlichen Finsternis tief im Inneren Ambars haust, und die dann das verströmende Licht der Zwei Bäume Valinors aufsaugt, verbündet, um die Bäume zu zerstören, ist noch nicht von der versengenden Hitze der Silamril die Rede. Melkor verspricht dieser Kreatur, die hier die Gestalt einer garstigen Spinne, Wirilóme, die Weberin der Düsternis, angenommen hat, die die Noldor Ungoliont nennen, die geraubten Schätze der Noldor für ihre Hilfe, denn auch ihr gelüstet nach dem strahlenden Licht der Edelsteine. Die narrativen Motive dieser Szene unterscheiden sich von der ersten des Silmaril-Zyklus (in den Verschollenen Geschichten) bis zur endgültigen Version (in Das Silmarillion) erheblich, und dies nicht allein hinsichtlich der Eigenschaften der Silmaril. In den Verschollenen Geschichten rauben Melkor und seine finsteren Helfer die Edelsteine der Noldor zusammen mit den Silmaril Fëanors, mit denen sie nach verübter Tat fliehen. Erst anschließend verbündet sich Melkor mit Wirilóme (Ungoliont), woraufhin beide gemeinsam die Zwei Bäume Valinors zerstören. In Das Silmarillion kehrt Christopher Tolkien, in Übereinstimmung mit den verschiedenen Quenta Silmarillion-Version in den Bänden der History of Middle-Earth, den Handlungsablauf um, und ändert zugleich die Qualität der Silmaril. Morgoth und Ungolianth zerstören hier zuerst die Zwei Bäume und erst danach raubt Morgoth die Silmaril. Noch auf ihrer Flucht erzwingt Ungolianth, deren Gier nach dem Licht Valinors maßlos ist, die Edelsteine von Morgoth. Die Silmarilli liegen nun in einem kristallenen Kästchen, während das Behältnis vorher aus Elfenbein gefertigt war. Dennoch spürt Morgoth schmerzhaft die Hitze der Silmaril in seiner Hand:

„Was verlangst du mehr?“ sagte Morgoth. „Begehrst du die ganze Welt in deinen Bauch? Ich habe nicht gelobt, sie dir zu geben. Ich bin ihr Herr.“ „So viel nicht“, sagte Ungolianth. „Doch du hast einen großen Schatz aus Formenos, und das alles will ich haben. Fürwahr, mit beiden Händen sollst du es mir geben.“ Da überließ ihr Morgoth notgedrungen die Gemmen, die er bei sich trug, und grollend gab er ihr eine nach der anderen; und sie verschlang sie, und ihre Schönheit verschwand aus der Welt. Größer und dunkler noch wurde Ungolianth, doch ihre Gier war ungestillt. „Mit einer Hand gibst du“, sagte sie, „allein mit der Linken. Öffne deine Rechte!“ Fest in seiner Rechten hielt Morgoth die Silmaril, und obgleich sie in einem kristallenen Kästchen steckten, fingen sie an, ihn zu versengen, und seine Hand war verkrampft vor Schmerz, doch er wollte sie nicht öffnen. [47]

Die Absicht, die Tolkien in dem oben zitierten Kommentar äußerte, die Bedeutung dieser Kleinodien zu verstärken, realisiert er erst später mit dem Motiv der magischen Hitze der Steine in Das Silmarillion. Morgoth, der nach Mittelerde geflohen ist, und sich in seine alte Festung Angband zurückgezogen hat, schmiedete eine Krone aus Eisen, und setzte darin die Silmarilli ein, nie von den Schmerzen erlöst, die sie ihm bereiteten:

[...] in Angband aber schmiedete Morgoth eine große Krone aus Eisen und nannte sich der König der Welt: Zum Zeichen solcher Würde setzte er die Silmaril in seine Krone. Seine Hände waren schwarzgesengt von der Berührung der geweihten Steine, und schwarz blieben sie für immer; noch war er jemals frei von dem Schmerz des Brandes und von der Wut über den Schmerz. Die Krone nahm er nie von seinem Haupte, obwohl ihre Last ihm zur unerträglichen Qual wurde. [48]

In Die Geschichte von Tinúviel, wahrscheinlich 1917 entstanden, bricht Beren einen der Silmaril aus Morgoths eisener Krone und nimmt ihn in die Hand, denn es ist ihm schicksalhaft bestimmt, dies zu tun:

als er die Hand darum schloß, pulsierten die Strahlen durch sein lebendiges Fleisch, und seine Hand leuchtete wie eine Lampe; doch duldete der Stein seinen Griff und tat ihm nicht weh. [49]

Nach Berens großartiger Heldentat erfährt der Leser nichts weiter über Verbleib und Schicksal der anderen beiden Silmaril; sie bleiben in Morgoths eisener Krone, da Beren bei dem Versuch scheitere, sie herauszubrechen, denn dies war nicht sein Schicksal. Erst nachdem Fionwë seinen Krieg gegen Melkor gewann, wurden auch die restlichen Silmarilli befreit, von Maidros und Maglor, Fëanors letzten Söhnen, gestohlen. Die beiden konnten die beiden Silmarilli aber nicht behalten: der eine verschwand im Wasser, der andere in der Erde. Nur der Silmaril, den Beren befreit hatte, und den Earendil von Elwing bekam, blieb den Edain erhalten: Er gelangte mit Earendil an den Himmel, eine Idee, die erstmals im Early Silmarillion auftritt: die Grundlage für die an anderer Stelle von mir analysierte Katasterisation dieses tolkienschen Helden. Ursprünglich waren die Silmarilli als Symbole der Reinheit und Unverderbtheit Ardas gemacht. Zuerst Melkors und Ungoliantes Frevel, sowie der darauf folgende Eid der Fëanori, verdarben die Kleinodien. Durch diese Tat erhielt Melkor von Fëanor, der ihn verfluchte, seinen neuen Namen, unter dem er in Beleriand gefürchtet wurde:

Da stand Feanor auf, und die Faust vor Manwe erhebend, verfluchte er Melkor und hieß in Morgoth, den Schwarzen Feind der Welt; und für immer hernach kannten ihn die Eldar nur unter diesem Namen. [50]

Mit dieser doppelten Tat Fëanors, dem Fluch und dem Eid, begann erneut der Einfluss des Bösen und die Zerstörung (Beschmutzung) Ardas. Erst durch den Frevel von Melkor und Fëanor erhielten die Silmarilli ihre ungeheuere Bedeutung für die fiktive Geschichte Mittelerdes. Nach ihrem Raub durch Melkor schworen Fëanor und seine Söhne ihren folgenschweren Eid, jeden zu bekämpfen, der sich zwischen sie und die Silmaril stellen würde:

Ein Meister der Rede war Feanor, und seine Zunge hatte Gewalt über die Herzen: in jener Nacht hielt er den Noldor eine Rede, die sie nie vergaßen. Heiß und hart waren seine Worte, voller Zorn und Stolz; und die Noldor, als sie ihm zuhörten, wurden zum Wahnsinn getrieben. Seine Wut und sein Haß richteten sich am meisten gegen Morgoth, und doch war fast alles, was er sagte, aus Morgoths Lügen selbst erwachsen; aber er war außer sich vor Schmerz um den erschlagenen Vater und vor Zorn über den Raub der Silmaril. [...] Dann schwor Feanor einen furchtbaren Eid. Seine sieben Söhne sprangen ihm zur Seite und legten den selben Eid ab, und blutrot leuchteten ihre gezogenen Schwerter im Schein der Fackeln. Sie schworen einen Eid, wie keiner ihn brechen darf und keiner ihn schwören sollte, im Namen Ilúvatars selbst, und sie riefen das Ewige Dunkel auf sich herab, wenn sie ihn nicht hielten; und Manwe zum Zeugen rufend, Varda und den heiligen Berg Taniquetil, gelobten sie, mit Haß und Rache bis ans Ende der Welt zu verfolgen jeden Vala, Dämon, Elben oder ungeborenen Menschen, oder jede Kreatur, ob groß oder klein, gut oder böse, welche die Zeit hervorbringen mochte bis ans Ende der Tage, wer immer einen Silmaril aus ihrem Besitz nehme, behalte oder verwahre. [51]

Den Eid, den die Fëanori schworen, war unauflösbar, denn er war unter Anrufung der Valar und Ilúvatars erfolgt. Somit hatte er absolut bindenden Charakter. Dieser Eid spaltete die Eldar, stiftete Unfrieden und Leid unter ihnen und führte zu zahlreichen Kriegen und Morden. Über die Versuche der Fëanori, die Silmaril zurückzugewinnen, berichtet die Geschichte Beleriands bis zu seinem Untergang. Sie führten zu drei Verwandtenmorden (Sippenmorden) unter den Eldar, den verabscheuungswürdigsten Taten in der Geschichte Beleriands. Fëanors kreatives Potential, seine Schöpfungen, aber auch seine und seiner sieben Söhne Reaktion auf den Verlust der Silmarilli, prägte nachhaltig das Schicksal aller Völker Mittelerdes im Ersten, Zweiten und bis ins Dritte Zeitalter. Der Fluch der Fëanori gegen Morgoth, den Schwarzen Feind der Welt, wird zum Ausgangspunkt endloser Kämpfe und bitterer Kriege in Beleriand und später in Mittelerde, zuletzt dem Ringkrieg, dem Thema des Herrn der Ringe. Die gesamte Mythologie Mittelerdes dreht sich um diese drei Juwelen und um ihren rechtmäßigen beziehungsweise unrechtmäßigen Besitz. Die um diese Kleinodien geführten Kriege richten Beleriand, den Nordwestteil Mittelerdes, der im Meer versinkt und die dort lebenden Ethnien zugrunde. Aus allen diesen Gründen ist die Geschichte der Ältesten Tage des Ersten Zeitalters nicht allein die Geschichte Beleriands mit seinen Reichen der Eldar und Edain: sie ist von Beginn an die Geschichte der Silmarilli, dem zentralen narrativen Motiv der Quenta Silmarillion.

Anmerkungen

1 Die deutschen Übersetzungen der entsprechenden Texte bevorzugen im Singular und Plural den Begriff Silmaril, obwohl Tolkien selbst gelegentlich die lateinischen Plural Silmarilli verwendet (so bzw. SIL.deutsch, 185-186 oder HME, X.94). In den englischen Originalen findet sich i.d.R. der Plural Silmarils; in den Texten der History of Middle-Earth verfährt Christopher Tolkien ähnlich, obwohl der Plural gelegentlich Silmarilli ist, und nicht zu beurteilen ist, ob es sich dabei um eine Glättung des Begriffs handelt, und welche Form J.R.R. Tolkien selbst bevorzugt hat. In der Übersetzung von Randel Helms Tolkien and the Silmarils (1981) verwendet Sabine Keller den Plural Silmarille, der der deutschen Pluralbildung entspricht. Aus rein klanglichen Gründen verwende ich den Singular Silmaril (Randel Helms, Tolkien und die Silmarille, Reihe Fantasia, Band 3, Passau, 1986:4).
2 Ich folge in meiner Argumentation teilweise den Vorarbeiten von Christina Scull, die hinsichtlich der Silmaril von der evolution of some of the main threads in Tolkien´s great tapestry in detail sprach (The Development of Tolkien´s Legendarium: Some Threads in the Tapestry of MiddleEarth, in: Tolkien´s Legendarium. Essays on the History of Middle-Earth, edited by Verlyn Flieger and Carl F. Hostetter, London, 2000:18 [Tapestry of Middle-Earth]).
3 Tolkien, Annals of Aman, HME, X.94-95; Tolkien, Later Quenta 1, HME, X.186-187.
4 Silmaril: Q. silma, weiß leuchtend; Q. silme, Sternenschein;. SIL-, variant of THIL-, shine silver; Q. isil, moon; Q. silime, light of Silpion (Sil=pion ist einer der Namen des älteren der beiden Bäume Valinors; HWJ); THIL-, variant of SIL-, Ithil, poetic name of the Moon; Q. Isil, the sheen, thilio, to glister (Bethil und Galathilion sind die frühesten Namen der Zwei Bäume Valinors; HWJ; Tolkien, Etymologies, HME, V.385 und 392).
5 Palantir: Q. palla, weit, ausgedehnt; Q. palandíriel, weit geblickt habend;. PAL-, wide (open); palan-, far, distant, wide; palantir, a far-seeing stone (Tolkien, Etymologies, HME, V.380): der weithin Sehende, der von weitem sieht. Fëanor schuf sieben Palantíri, von denen vier noch im Herrn der Ringe eingesetzt wurden: von Saruman, Denethor II., Sauron und Círdan. Die Palantíri waren vollkommen glatte Kugeln aus einem schwarzen, sehr schweren und unzerbrechlichen Kristall, die Bilder in Blickrichtung des Betrachters zeigen, der damit durch Gegenstände hindurch und über weite Entfernungen schauen konnte. Mit den Palantíri war es möglich, miteinander zu kommunizieren und Bilder und Gedanken auszutauschen..
6 Fëanor: Feuergeist; Sindarin-Form des Namens Feanáro; Q. feauctea, Geist, Seele, Funke; Q. faina, leuchten, strahlen; Q. faire, Strahlen, Leuchten;. PHAY-, radiate, send out rays of light (Tolkien, Etymologies, HME, V.381); Q. nár(e), Flamme; Q. anar, Sonne;. NAR1-, flame, fire; (Tolkien, Etymologies, HME, V.374). Finwë, Fëanors Vater, nannte seinen ältesten Sohn zuerst Finwion, und als seine Talente sichtbar wurden, Curufinwë (geschickter Finwe). Fëanáro, FeuerGeist, nannte vorausschauend Míriel Serinde ihren Sohn bevor sie, von der Schwangerschaft mit ihm zu Tode erschöpft, aus der Welt schied und nach Lórien ging.
7 Tengwa, Pl. Tengwar: Q. tengwe, Zeichen, Buchstabe; Schriftzeichen für ein gesprochenes Wort; Q. tengwesta, Zeichensystem, später Grammatik;. TEK-, make a mark, write or draw (signs or letters) (Tolkien, Etymologies, HME, V.391). Die Tengwar waren das älteste Schriftsystem, dass in Valinor von Rúmil entwickelt wurde. Rúmil war ein gelehrter Noldor, der in Tirion lebte, und der auch die Ainulindalë geschrieben haben soll. Im Buch der Verschollenen Geschichten ist Rúmil der weise und sprachbegabte Türhüter der Hütte des Vergessenen Spiels (Mar Vanwa Tyaliéva). Fëanor gestaltete Rúmils Schrift, die Sarat genannt wurde aber soweit um, erfand sie fast neu, und es war diese Schrift, die sich später in Mittelerde verbreitete und die Elbenschrift genannt wurde.
8 J.R.R. Tolkien, Das Silmarillion, herausgegeben von Christopher Tolkien, Stuttgart, 1999:101-102 [SIL deutsch]. But Fëanor spoke then, and creid bitterly: „For the less even as for the greater there is some deed that he may accomplish but once only; and in that deed his heart shall rest. It may be that I can unlock my jewels, but them, I shall break my heart, and I shall be slain; first of all the Eldar in Aman" (Tolkien, SIL.engl., 83).
9 Aule: einer der Valar; Herr der Technik, des Handwerks, insbesondere der Schmiedekunst. Seiner Liebe zum schöpferischen Gestalten entstammen die Zwerge. Darüber hinaus waren Aules größtes Werk die beiden urzeitlichen Lampen Illuin [nördlich] und Ormal [südlich], die die Valar zuerst errichteten, um Mittelerde zu beleuchten. Auch Saruman und Sauron waren einst Schüler Aules, ließen sich aber von Melkor verführen, um die dunklen Seiten von Technologie und Wissenschaft zu nutzen. Aule ist Tolkiens Hephaistos- bzw. Prometheus-Gestalt.
10 Scull, Tapestry of Middle-Earth, 10.
11 Der Kommentar von Christopher Tolkien lautet an dieser Stelle: Unleserlich; vielleicht „zauberisch“ (Tolkien, VG 1.189).
12 Vgl. Tolkien, VG 1.185-186.
13 Vgl. Tolkien, VG 1.241, Anm. 2.
14 Vgl. Tolkien, HME, IV.88.
15 Vgl. Tolkien, HME, III.134.
16 Vgl. Tolkien, HME, III.299 und 303.
17 Vgl. Tolkien, HME, IV.14.
18 Vgl. Tolkien, HME, IV.17.
19 Tolkien, HdR, Die Gefährten, Carroux.71; engl. Ausgabe: the great weakening of his power (Tolkien, LOTR.66).
20 Vgl. Shippey, Autor des Jahrhunderts, 166.
21 Vgl. Tolkien, VG engl., II.259.
22 Vgl. Tolkien, HME, IV.72.
23 Vgl. Tolkien, HME, IV.149.
24 Vgl. Tolkien, HME, IV.150-151.
25 Vgl. Tolkien, HME, IV.151.
26 Vgl. Tolkien, HME, IV.154. Und mit dieser Formulierung - Eärendel, star most radiant – bindet Tolkien seine Earendil-Figur nun konsequent an die bereits zitierte Cynewulf-Stelle, mit der einst alles begann.
27 Weiter heißt es, wie schon anderswo zitiert: Three jewels he made, and named them Silmarils. A living fire burned within them that was blended of the light of the Two Trees; of their own radiance they shone even in the dark; no mortal flesh impure could touch them, but was withered and scorched (Tolkien, HME, IV.88).
28 Vgl. Tolkien, HME, V.142.
29 Vgl. Tolkien, HME, V.109.
30 Vgl. Tolkien, HME, V.202.
31 Vgl. Tolkien, HME, III.362.
32 Tolkien, HME, X.94-95; Eintrag für das Jahr 1450; § 93: The Silmarilli of Fëanor were made.
33 Vgl. Tolkien, HME, X.186-187.
34 Tolkien, SIL.deutsch, 14 und 19. Vgl. auch HME, X.9 und 13: ... and Ilúvatar shall give to their thoughts the secret fire, being well pleased bzw. ... I will send forth the Flame Imperishable into the Void.
35 Vgl. Tolkien, FR.433. Vgl. auch HdR 1.399, Carroux.
36 Udûn ist der Sindarin-Name für Utumno (Q), die tiefverborgene Festung Melkors, hoch im Norden von Mittelerde.
37 Vgl. Tolkien, HME, X.12; vgl. auch HME, X.31.
38 Vgl. Tolkien, Ainulindalë, HME, X.13-14.
39 Tolkien, HME, X.144: Therefore Ilúvatar gave to their vision Being, and set it amidst the Void, and the Secret Fire was sent to burn at the heart of the world, den Sälen von Anar - Aman - Eä.
40 Ausführlich zu diesem Konzept äußert auch: J.R.R. Tolkien, Athrabeth Finrod ah Andreth, HME, X.301ff., insbesondere X.355 [Athrabeth].
41 Für The Old Hope vgl. Tolkien, Athrabeth, HME, X: Nach einer langen Debatte (Q. athrabeth) über Tod, Unsterblichkeit, das Schicksal der Seele und die Zukunft Ardas, die der Hochkönig der Noldor, Finrod, mit der Seherin der Edain, Andreth, führt, spricht diese in mysteriösen Worten von The Old Hope: ´Asleep or awake, they say nothing clearly´, answered Andreth. `How or when shall the healing come? To what manner of being shall those who see that time be re-made? And what of us who before it go out into the darkness unhealed? To such questions only those of the "Old Hope" (so they call themselves) have any guess of an answer.´ [...] ´They say´, answered Andreth: ´they say that the One will himself enter into Arda, and heal Men and all the Marring from the beginning to the end (Tolkien, Athrabeth, 321).
42 Vgl. Tolkien, Myth Transformed, HME, X.369-390.
43 Vgl. Scull, Tapestry of Middle-Earth, 15.
44 Vgl. Tolkien, HME, IV.40-41.
45 Vgl. Tolkien, VG 2.54.
46 Vgl. Tolkien, VG 1.207.
47 Vgl. Tolkien, SIL.deutsch, 104.
48 Vgl. Tolkien, SIL.deutsch, 106.
49 Vgl. Tolkien, SIL.deutsch, 243.
50 Vgl. Tolkien, SIL.deutsch, 102.
51 Vgl. Tolkien, SIL.deutsch, 106 und 108.

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