Freitag, 30. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Drei


Der Versuch, Tolkiens fiktionale Mythologie zu entschlüsseln, ermöglicht dem Leser einen tieferen Einblick in die fiktive Mythologie und Geschichte der vier Zeitalter von Mittelerde. Sehr lohnend ist der Nachweis jener Quellen, denen Tolkien seine hauptsächlichen Inspirationen verdankt. Bei dieser Fahndung stößt man auf die mythologischen Fundamente der nordeuropäisch-germanischen Kultur, die dem deutschen Leser heute kaum noch bekannt sind. Dabei stehen poetische Werke wie die Edda, die Völsunga saga, die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, die isländische Sagaliteratur, das angelsächische Heldenepos Beowulf sowie die finnische Kalevala und das keltisch-walische Mabinogion im Vordergrund der Betrachtung. Die in diesen Dichtungen versammelten Götter- und Heldensagen, Spruchweisheiten und weltanschaulichen Konzepte, überliefern, von christlichem Einfluss nicht völlig unbeeinflusst, das autochthone, kulturelle Fundament des vorchristlichen Nord- und Mitteleuropas. Tolkiens besonderes Augenmerk galt dem nordeuropäischen Heldentopos, und dessen tragischen Verstrickungen, thematisiert in den Biographien seiner vier großen Heldengestalten, Beren, Túrin, Tuor und Aragorn, die er auf einer fiktiven Basis gestaltete.

Tolkiens mythologisches Experiment galt der Überwindung der Entfremdung des modernen Menschen. In seiner fiktionalen Mythologie präsentierte er die moralische, ethische und pädagogische Dimension der Mythologie in einem zeitgemäßen Gewand und Sprachkostüm für seine Zeitgenossen. Allein der inzwischen weltweite Erfolg seiner Werke, den mehrfach verfassten Nachrufen, der etablierten Literaturkritik trotzend, bestätigt den Erfolg seines Experiments.
Die oft fragmentarischen Erzählungen Tolkiens, die das mythistorische und narrative Fundament des Hobbit und des Herrn der Ringe bilden, sind die Sagen der Verschollenen Geschichten, postum von seinem Sohn in der Kompilation Das Silmarillion publiziert, und in der History of Middle-Earth umfangreich bearbeitet: die Sagen von Beren und Luthien, von Túrin Turambar und von Tuor und dem Fall von Gondolin. Die Bezeichnung »mythistorisch« wähle ich für Tolkiens Erzählungen in Anlehnung an den Terminus quasi-historical,96 den Raymond Firth für die Überlieferungen der polynesischen Kultur der Tikopia eingeführt hat. Firth beabsichtige auf diese Weise die dichterische Produktion der Tikopia vor der Diffamierung der westlichen Wissenschaft zu retten, nichts anderes als Fiktion zu sein, als ernst zu nehmenden, wissenschaftlichen Gegenstand. Literarische Texte außereuropäischer Kulturen, die Ethnologie hat dies mittlerweile ausführlich belegt, sind in dieser Hinsicht ambivalent: Was westliche Wissenschaft aus ihrer Tradition heraus meist als Fiktion (Mythos) und irreal abwertet, ist aus dem Blickwinkel der Kulturteilnehmer historisches Faktum und real. Für das narrative Werk Tolkiens lässt sich Verwandtes beobachten. Als Beitrag zur Phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts handelt sein Werk von fiktiven, vom Autor imaginierten Personen und Ereignissen, die dieser in mythischer Perspektive gestaltet. Auf der Ebene des literarischen Handlungsplans, linguistisch, historisch, ethnologisch und geographisch akribisch inszeniert, treten dem Leser Tolkiens Imaginationen als miteinander verbundene Familienchroniken (Hausüberlieferungen) entgegen, die sich in Raum und Zeit entfalten, und die als historische Wirklichkeit und Wahrheit auftreten. Darüber hinaus enthält Tolkiens Werk eine untergründig wirkende, metaphorische und symbolische Ebene, auf der seine Personen und deren Handeln als kulturelle und individuelle Archetypen komponiert sind, die Allgemein-Menschliches, Allzu-Menschliches, für den Leser stellvertretend erleben und erleiden. Unentwirrbar verknüpft Tolkien Historisches und Mythisches zu der Melange, die westliche Wissenschaft nicht entwirren kann. Geschichte und Mythologie, wenn diese nicht ohnehin Geschichte ist, sind auf die gleiche intime Weise miteinander verbunden, wie Naturwissenschaft, Technik und Magie. Es ist Tolkiens eigentliches Verdienst, Teile der altnordischen und altgermanischen Mythologie und Sagaliteratur einem Massenpublikum erneut erschlossen zu haben.
Nimmt man Tolkiens artifizielle, von ihm selbst geschaffenen Quellen als mythologische ernst, kann sich die Dekodierung des Fundaments des Hobbits und des Herrn der Ringe, der historisch-vergleichenden Methode von Georges Dumézil bedienen. Ungefragt setzt diese Vorgehensweise voraus, dass es sich bei den nur oberflächlich fiktionalen Texten Tolkiens, und deren archetypischem Untergrund, um mit wissenschaftlichen Mitteln erforschbare Daten handelt. Tolkien selbst hat an seine linguistischen Erfindungen, vor allem aber an die von ihm erfundenen Namen, wissenschaftliche Fragen gestellt. Seine Arbeitsweise gleicht einem Archäologen, der ein unbekanntes Artefakt im Boden findet, und sich fragt, um was es sich dabei wohl handelt. Fast schon anekdotisch ist seine Erfindung des Namens Hobbit, von dem sein Biograph Humphrey Carpenter berichtet. Tolkien habe, einer Inspiration folgend, bei der Korrektur von Prüfungsarbeiten auf ein leeres Blatt geschrieben: In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit. Für mich, schreibt er, erzeugt ein Name immer eine Geschichte. Schießlich dachte ich mir, ich sollte doch lieber erst einmal herausfinden, was denn Hobbits seien.97 Dies soll der Anfang der Geschichte vom Hobbit gewesen sein, ein Anfang, der nach Legende und Mythenbildung klingt.
An dieser von Tolkien selbst angewandten Methode, seine Erfindungen und Fantasien als realistische Daten zu betrachten, denen ein Sitz im Leben zukommt, muss sich die Analyse seiner Texte orientieren, will sie einen angemessenen Zugang zu ihnen finden. Sie beschreitet dabei den Boden einer noch locker begründeten Tradition, die sich an der von Tolkien gesetzten Diktion orientiert. Sie nimmt Tolkiens fiktionale Mythologie und sein Mythenschaffen als realistischen Versuch ernst, dem entfremdeten und in seiner Identität verunsicherten modernen Menschen eine sinnstiftende und sinnstabilisierende Orientierung zu geben. Nichts anderes beabsichtigten die mythenschaffenden Autoren vergangener Epochen und Kulturen, deren Götter- und Heldensagen heute das gewaltige Spektrum zwischen wissenschaftlicher Forschung, Literatur, Comic und Film einnehmen. Mythologie und Geschichte ergänzen und erweitern sich in dieser, die Grenzen von Raum und Zeit transzendierenden, identitätsstiftenden Tätigkeit in der psychischen und kulturellen Entwicklung der Menschheit.
Jedem literarisch interessierten Zeitgenossen bietet sich am Übergang des 20. zum 21. Jahrhundert der Eindruck dar, dass das Genre des Fantastischen zu einem der einflussreichsten Erzählweisen avanciert ist. Und diese Einschätzung trifft nicht allein auf die Literatur zu, sondern schließt den modernen Film sowie einen großen Teil der Comicliteratur und der Computerspiele mit ein. Autoren des fantastischen Romans wie Herbert G. Wells (Die Zeitmaschine und Krieg der Welten), George Orwell (Die Republik der Tiere; Neunzehnhundertvierundachtzig), William Golding (Herr der Fliegen; Die Erben) oder Kurt Vonnegut (Schlachthof 5; Katzenwiese), die die sich selbst autorisierende Gilde der Literaturkritik würdigt, gehören schon längst zum Standardrepertoire des Schulunterrichts. Diesen wenigen Autoren steht Tolkien (Der Hobbit; Der Herr der Ringe), immerhin Diskursivitätsbegründer, als einsam verirrter Sprachwissenschaftler gegenüber, der mit der steigenden Zahl seiner Nachahmer, und den in seinem Fahrwasser Neuerfinder, das gemeinsame Schicksal teilt, von der Kritik verrissen, lächerlich gemacht oder gar totgeschwiegen zu werden. Daneben gehört gerade Tolkien zu den meistgelesenen und vielübersetzten Autoren des 20. Jahrhunderts, der zunehmend Anspruch darauf erheben darf, sich in die Reihen der Klassiker der Phantastischen Literatur einzureihen. Die Zahl der modernen Science Fiction- und Fantasy-Literatur, ob es sich nun um Printmedien, Comic, Film oder Computerspiel handelt, erreicht mittlerweile inflationäre Maßstäbe, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Selbst eine beispielhafte Aufzählung würde sich als rahmensprengend erweisen, da die Fülle der vorhandenen Texte inzwischen umfangreiche Bibliographien füllt. Das stetig wachsende Publikum dieses Genres, ob nun Wort oder Bild bevorzugend, hängt mit einer tiefverwurzelten Sehnsucht nach archetypischen Bildern und Motiven zusammen, die einer vollends entzauberten Welt als geeigneter Gegenentwurf dienen sollen. Die ständig neue Auseinandersetzung mit den Bildern und Symbolen der Mythologien der Völker erscheint inzwischen unvermeidbar.98 Der britische Ethnologe Victor Turner fasst den Gewinn, den eine solche Reflektion bringt, pointiert zusammen:

Um unserem täglichen Leben Sinn zu geben, unser tägliches Brot zu verdienen, müssen wir uns in die Welt der Ungeheuer, Dämonen und Clowns, der Grausamkeit und der Poesie begeben.99

Im Dualismus gefangen ist das rational-analytische Denken inzwischen in die Einseitigkeit von intellektueller Begrifflichkeit, Verdinglichung und Zweckorientierung geraten; die Mechanisierung des Geistes, vor der Rudolf Steiner in seinen Vorträgen gewarnt hat, zeichnet sich heute als die nur noch schwer vermeidbare Wirklichkeit das modernen Menschen ab.100 Und dabei hat die anthroposophische Geisteswissenschaft schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisiert, dass die westlichen Wissenschaften, und damit das Bildungs- und Unterrichtswesen, maßgeblich auf der Grundlage einer materialistischen Naturbetrachtung und Naturwissenschaft aufgebaut wurden. Als Gegengewicht versteht sich in dieser Situation der pädagogische Impuls der Waldorfschulen, deren spiritueller, sozialer und kulturgeschichtlicher Hintergrund von Rudolf Steiner begründet wurde.101 In vielen seiner Vorträge erläuterte er, dass die einseitige Hinwendung zum Materialismus kontinuierlich zu einem gefährlichen Reduktionismus, zum alleinigen Forschen in der Sinnenwelt, der Welt der realen Tatsachen, führt. Sein Streben um ein Wissen, das ihm Macht über die Natur verleiht, hat den Menschen auf einen Erkenntnisweg geführt, der auf rein äußerliche und pragmatische Anwendungen und Techniken zielt. Die Entwicklung der abendländischen Wissenschaft hat das Streben des Menschen nach mystisch-spiritueller Erfahrung, nach dem sogenannten Übersinnlichen, vertrieben, ihn einseitig auf das sinnlich Wahrnehmbare fixiert. Auf diesem Weg wandte sich die Intelligenz des Menschen faustisch dem Bösen zu, sodass es immer unmöglicher geworden ist, durch bloße Intelligenz das Gute zu erkennen. Die Auseinandersetzung mit dem sowie eine Standortbestimmung des Bösen ist nur eine der wichtigsten Motivationen, die Tolkien im Herrn der Ringe und im Silmarillion verfolgt hat.
Unverkennbar in der Flut der Fantasy- und Science Fiction-Literatur, aber auch in zahlreichen Computerspielen, die ihre Inspiration eindeutig den Mythologien der Kulturen verdanken, zeigt sich ein unstillbarer Hunger nach Bildern und Symbolen, die die Sinndiskussion der rezenten westlichen Kulturen schon lange nicht mehr befriedigen kann. Die moderne kapitalistische Ethik, mit ihrer einseitig rationalistischen Weltauffassung, der der moderne Mensch unterworfen ist, hat mit ihren mannigfachen Film- und Videoproduktionen, mit Computerspielen und Comicstrips dafür gesorgt, dass diesem kaum noch eigene Bilder aus dem Unbewussten entgegenwachsen. Programmiertes Heldentum ist gefragt, damit berechenbare und vorausplanbare Identifikationen entstehen können, die, medial gesteuert, zu normiertem Erleben und Erfahren führen. Ein reduziertes Angebot an Geschichten und Bildern, die aus dem Unbewussten strömenden Symbole individuell mit Leben erfüllen, und dem Menschen eine angemessene Realitätsprüfung erlauben, steht eine wachsende Flut von medial konstruiertem Bildmaterial gegenüber, das jegliche Fantasie im Keim erstickt. In der Figur des seltsamen Mädchens Momo schuf Michael Ende eine Protagonistin, deren Handeln ganz von ihren inneren Bildern bestimmt war:

Am liebsten aber erzählte Gigi der kleinen Momo allein, wenn niemand sonst zuhörte. Meistens waren es Märchen, denn die wollte Momo am liebsten hören, und es waren fast immer solche, die von Momo und Gigi selbst handelten. Und sie waren auch nur für sie beide bestimmt und hörten sich ganz anders an als alles, was Gigi sonst erzählte.102

Die entwicklungspsychologische und therapeutische Bedeutung von Märchen, Sagen und Mythen liegt darin, dass sich lebendige und gleichzeitig entspannende Fantasien zu diesen Geschichten bilden, die eine Wendung nach innen ermöglichen. Der Leser schwingt sich zum Künstler und Träumer empor, und indem er in diesem Prozess seine eigenen Bilder erfindet und gestaltet, gelangt er zu sich selbst. Ein entscheidender Entwicklungsvorteil entsteht, wenn der Mensch wieder weiß, dass er selbst in der Fantasie etwas bewegen, nicht nur Eindrücke passiv aufnehmen kann. Wichtig ist, dass er erlebt, wie er seine innere Welt aktiv gestalten kann. Auf seine individuellen Bildentwürfe, die viel von seiner eigenen Person enthalten, und die den Schritt von der Fantasie in soziales Handeln in der äußeren Wirklichkeit entfalten, kommt es letztlich an. Mythen und Märchen, in der jeweils die eigene Lebenswelt vorkommt, ermöglichen es, mit der vorgefundenen Realität besser und angstfreier umzugehen. Fantasie, Traum und Imagination verbinden sich zu kunstvollen Gebilden, aus denen durch Weiterentwicklung auch heute noch Märchen entstehen. In ihnen spiegelt sich die Kultur des Volkes, in der sie entstanden sind, vor allem aber drücken sie deren psychische Konstitution aus. In seinem Werk hat Tolkien eine fiktionale Mythologie geschaffen und sie einem breiten Publikum vorgeführt, das auf seinen Spuren die Freude am wortgestalteten Bild, in dem ihm seine Archetypen handelnd begegnen, zurückgewonnen hat. Tolkiens Sinfonie sprachgewaltiger Bilder ins elektronische Medium gesetzt, erscheint als Blasphemie, wenn nicht gar als Sakrileg. In seinen Fiktionen komponiert Tolkien dramatische Inszenierungen von charakteristischen Problemen, die immer und überall Menschen beglücken, bedrängen oder bedrücken. Märchen und Mythen überschreiten die Grenze zum Unbewussten, indem sie allgemein Menschliches in der Sprache des Unbewussten formulieren, sich einer Bildersprache bedienen. So entstehen tiefe Einblicke in die psychische Innenwelt, die zu einem neuen Selbstentwurf des Menschen führen können, da Märchen und Mythos eine Antwort des Unbewussten auf seine Fragen und Probleme geben.103 Der Leser dieser Geschichten wird zu einer produktiven Wechselbeziehung zwischen innerer und äußerer Welt angeregt; lustvoll gestaltet er in seiner Fantasie seine eigene äußere Welt. Zunehmend wird diese Fähigkeit des Menschen aber durch die von Film und Television kolonisierten Bilder zerstört. Medienkritisch äußert sich Peter Sloterdijk, wenn er das Fernsehen als einen Erlöser bezeichnet, der das Publikum angähnt. Die Medien beschuldigt er, den Menschen persönlich über den Stand der Dinge zu informieren, um ihn aus seiner Verantwortung zu entlassen.104 Der Konsum entäußerter Bilder, die Überflutung der inneren Bilderwelt des Menschen durch die äußeren Bilder von Film und Fernsehen führt dazu, dass dieser sich nicht mehr im Rahmen einer Begegnungskultur in sein Schicksal finden kann. Das Phänomen der zunehmenden Entfremdung von einem Traditionsbewusstsein, von der Kultur bindender Überlieferungen, höhlt das Vertrauen des Menschen in die Zusammenhänge partnerschaftlicher Beziehungen, Familie und gemeinsamer Lebensgestaltung zwangsläufig aus. Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang nicht allein von Enterbung, sondern konsequenterweise von Entgeisterung.105 Wo aber Traditionen nicht länger tragen, entsteht ein verstärkter Drang sich selbst zu erfinden, das Bedürfnis nach Selbstinszenierung, und somit eine Abkehr von spirituellen Wertvorstellungen. Der moderne Mensch hat alle Traditionen und Konventionen weit hinter sich zurückgelassen, hat die leitende Orientierung, die ihm innerpsychische oder mythische Bilder einst ermöglichten, aufgegeben. Von seinen inneren Bildern kann er sich allerdings nicht befreien. Spätestens in seinen Träumen holen sie ihn wieder ein, erschreckend nah und authentisch. In einer Erzählung lässt Christa Wolf die Seherin Kassandra sagen:

Ich habe immer mehr an Bildern gehangen als an Worten. Es ist wohl merkwürdig und ein Widerspruch zu meinem Beruf, aber dem kann ich nicht mehr nachgehen. Das Letzte wird ein Bild, kein Wort. Vor den Bildern sterben die Wörter.106

In Bezug auf Tradition und Sicherheit, die in der kulturellen Vergangenheit wurzeln, tritt das Ich des modernen Menschen immer hüllenloser dem anderen Ich (als Du) gegenüber. Der Mensch hat in seiner Ich-Entwicklung einem Punkt erreicht, wo ihm nichts anderes mehr bleibt, als in Freiheit seine Individualität und Selbstverantwortung zu ergreifen, die ihm aber nur dann nicht zu einem als Pseudo-Individualismus getarnten Egoismus gerät, wenn es ihm gelingt, sie in Gemeinschaft zu verwirklichen. Die Sozialgestalt der Ich-Du-Begegnung ist zu dem Zentralproblem unserer Zeit geworden. Die drei psychischen Qualitäten – Denken, Fühlen, Wollen – fallen in der Vereinsamung der Entfremdung des Menschen vom sozialen Organismus zunehmend aus ihrer selbstverständlichen Harmonie heraus. Orientierungslosigkeit und Anonymität entstehen, verbunden mit einer tiefen Unruhe und dem Verlust an innerer psychischer Sicherheit. In dieser Situation ermöglicht die Rückbeziehung auf die Bilder der Mythologien, die Urbilder oder Muster menschlichen Seins narrativ inszenieren, die Chance, der menschlichen und göttlichen Begegnung eine neue Qualität abzugewinnen. Wenn die Mechanisierung des Geistes ihren Zenit erreicht hat, entfernt diese Entwicklung den Menschen immer weiter von seinen lebendigen, kreativen Bildern und Gedanken, und (ver)führt ihn zu einer zunehmend starren, systemimmanenten Logik. Diesem Prozess entgegenzuwirken, darin liegt die Legitimität der fiktionalen Mythologie Tolkiens.
Das mythische Bild positioniert sich als Bindeglied zwischen dem eigenen Handlungsentwurf, der in der Fantasie kreativ vorweggenommen werden kann, und dessen Konkretisierung im Lebensalltag. Der Mythos spiegelt beides: innen und außen, die erlebte Welt und die von dieser Welt Besitz ergreifende Seele. Mit anderen Worten: Das Erleben der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich führt den Menschen zum Mythos, in dem er die Existenz und bedrängende Realität äußerer Objekte integrierbar gestaltet. Im Grenzerlebnis innerer und äußerer Welten entfaltet sich das mythische Bild als Antwort des Menschen auf sein Sichfinden in einer ihn beirrenden Umgebung.107 Das Bild ist die originäre Schnittstelle der Fantasie als innere Wirklichkeit, das mit der Welt der äußeren Bedingungen und Voraussetzungen verschmilzt. Darin, dass die verbindliche Reichweite des Mythos weit über das subjektive Schicksal hinausgeht, liegt die Besonderheit der mythischen Darstellung, ebenso wie die der fiktionalen Mythologie Tolkiens.
Die Mythen alter Kulturen – gleichgültig ob als Götter- oder Heldenmythos, einerlei ob griechisch, keltisch, indisch oder germanisch oder gar fiktional – überliefern Erzählungen zweierlei Art: Als Göttersage inszenieren sie die Begegnung mit dem Göttlichen als eine Hinführung zu den Göttern,108 als Heldensage schildern sie eine über das menschliche Maß hinausweisende Ethik weltanschaulicher Tugenden und Werte, an deren rigoroser Einhaltung der Heros tragisch scheitert.109 Über die Hybris, und über die das Alltägliche transzendierende Handeln des Helden hinaus, seinem vergeblichen Bemühen, es den Göttern gleich zu tun, liegt in seinem Scheitern dennoch eine Größe, die den aufmerksamen Zuhörer oder Leser seiner Lebensgeschichte rührt, und ihn zuletzt zu ethischem Handeln motiviert, ihm Orientierung und Sinnstiftung garantiert.
Das eigentliche Thema des Mythos ist die Hinwendung zum Übersinnlichen, zur geistigen Dimension menschlicher Erfahrung, für die der Mythos nachvollziehbare Beschreibungen anbietet. Allerdings kann man heute weder die Kenntnis dieser Erzählungen noch die Erfahrung des Übersinnlichen voraussetzen.
Joseph Campbell unterscheidet in seinen Forschungen mehrere Funktionen des Mythos:110

  • Mythen rufen im Menschen ein Gefühl der Ehrfurcht hervor, das sich auf eine Gottheit, deren Pantheon oder einen Helden bezieht sowie auf die durch Götter inaugurierte Schöpfung und durch Helden eingeleiteten kulturellen und individuellen Entwicklungen, die auch das Sein des Menschen ermöglicht.
  • Mythen berichten von der kosmischen Ordnung, einer Individuationsordnung, die dem Werden der Welt zugrunde liegt.111

Außerdem führen sie das Individuum in die Wirklichkeit der eigenen Psyche ein. Auf diese Weise erhält der Mensch Bilder und Symbole, die als eine Art psychisches Feld oder Bauplan ein steuerndes Zentrum im menschlichen Unbewussten (Selbst) besitzen, und die so für die erforderlichen Stationen in der psychischen Entwicklung sorgen.112
Die Bezeichnung Mythos ist dem Griechischen entlehnt, wo mythos ursprünglich Rede, Wort oder Bericht bedeutete; das entsprechende Verb mytheomai bedeutet reden, sprechen, sagen, die zugehörige Wurzel mu- laut werden, tönen. Die Muse Kalliope wird seit Homers Zeiten angerufen, wenn epische oder hymnische Gesänge angestimmt werden, in denen mythisches Geschehen sprachlich gestaltet wird. Schon auf sehr frühen Abbildungen ist Kalliope nie mundlos.113 Mythen sind der Darstellung von kulturell bedeutsamen Sachverhalten durch die meist dichterische Form der Rede gewidmet, wobei die schonende Heraushebung des nicht alltäglichen Erlebens im Vordergrund steht, um Sinnzusammenhänge und Lebensordnungen zu begründen.114

Anmerkungen

96 Raymond Firth, History and traditions of Tikopia, The Polynesian Society, Wellington, 1961:11-12. Quasi-historisch nennt Firth die mündlichen Überlieferungen der Tikopia. In seiner soziologischen Analyse beschreibt er die Vielschichtigkeit der Zeitkategorien und die fließenden Grenzen zwischen den einzelnen Erzählgenres.
97 Carpenter, Biographie, 198.
98 Es wäre eine lächerliche und ungerechtfertigte Selbstüberhebung, wenn wir annehmen wollten, wir seien energischer oder intelligenter als das Altertum – unser Wissensstoff hat zugenommen, nicht aber die Intelligenz. Darum sind wir neuen Ideen gegenüber gerade so borniert und unfähig wie die Menschen in den dunkelsten Zeiten des Altertums. An Wissen sind wir reich geworden, nicht aber an Weisheit. Der Schwerpunkt unseres Interesses hat sich ganz nach der materiellen Wirklichkeit hin verschoben; das Altertum bevorzugte ein Denken, das sich mehr dem phantastischen Typus annäherte (C.G. Jung, Über die zwei Arten des Denkens, in: Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie, Gesammelte Werke, Band 5, Solothurn und Düsseldorf, 1995:40).
99 Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M., 1989:195.
100 Rudolf Steiner, Der innere Aspekt des sozialen Rätsels, GA 193, 5. Vortrag.
101 Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296.
102 Michael Ende, , Stuttgart, 1973:48-49.
103 Vgl. a. Erich Fromm Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache, in: GA IX, Sozialistischer Humanismus und humanistische Ethik, München, 1989.
104 Peter Sloterdijk, Selbstversuch - Gespräch mit Carlos Oliveira, München, 1997 [Selbstversuch].
105 Sloterdijk, Selbstversuch.
106 Christa Wolf, Kassandra. Eine Erzählung, Darmstadt, 1983:26.
107 Hermann Schmitz hat die menschliche Suche nach Antwort in einer ihn beirrenden Konfrontation mit seiner Lebenswelt (Umgebung) als Philosophie bezeichnet (System der Philosophie, Bd.1: Die Gegenwart, Bonn, 1964:14-15).
108 Die Begegnung mit dem Göttlichen, von der hier die Rede ist, bezeichnen Theologie und Religionswissenschaft als auf einer mystischen Erfahrung gegründeten Gottesbegegnung, die Gerhard Wehr in Gestalt spontaner Eingebung und innerer Begegnung auftretend charakterisiert. Im Sinne C.G. Jungs handelt es sich bei diesen Erfahrungen um archetypische Gegebenheiten, die allein schon deshalb den Rahmen individueller Subjektivität übersteigen. Transpersonales offenbart sich dabei immer in individuellen beziehungsweise kulturspezifischen Vorstellungs- und Erlebnismöglichkeiten.
109 Dieses Scheitern führt nicht in Verzweiflung und Resignation, sondern hat für Individuum und Gemeinschaft die zukunftsöffende Wirkung einer Krise, deren Herausforderung darin liegt, sich ihr zu stellen und sie zu bewältigen. Ergebnis dieser Krisen-Bewältigung ist immer ein Mehr an psychischer Entwicklung. Mythos und FantasyLiteratur bieten dem Rezipienten sinnstiftende Möglichkeiten und Handlungsalternativen.
110 Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M., 1953; vgl. auch Joseph Campbell, Die Masken Gottes, Bd.1-4, Basel, 1992.
111 J.R.R. Tolkien hat diese Individuationsordnung mit der Ainulindalë begonnen und in seinen weiteren Schriften konsequent fortgesetzt. In Das Silmarillion entfaltet Tolkiens Sohn Christopher die ganze Fülle der tolkienschen Götter- und Heldensagen für den Leser aus einem Guss. Für den Begriff der Individuationsordnung vgl. Guido Rappe, Archaische Leiberfahrung. Der Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen, Lynkeus, Studien zur Neuen Phänomenologie Bd.2, Berlin, 1995:311ff.
112 Das Grundmuster des Selbst als Bild-Feld, so meint auch die Astrologie, liegt im Radixhoroskop vor, einer Momentaufnahme des individuellen Geburtsaugenblicks, die das komplizierte Kräfteverhältnis archetypischer Konstellationen abbildet. In der analytischen Psychologie C.G. Jungs ist das Schicksal des Menschen im Selbst angelegt. Das Selbst ist dem Ich gegenüber das Ursprünglichere; es umfasst als Persönlichkeitszentrum das ganze Potential des Menschen und ist gleichzeitig dessen Nährboden. Das Selbst ist die Summe aller Möglichkeiten: Urtümlich-Instinktives, kulturell Gewordenes, Persönliches und Überpersönliches. Im Selbst scheint ein Entwurf niedergelegt zu sein, dem Gestalt zu geben menschliche Lebensaufgabe und Lebensziel darstellt. Das Selbst schafft sich nicht nur das Ich als Bewusstseinszentrum, sondern darüber hinaus auch ein Resonanzfeld, das sich in den Beziehungen zur Außenwelt manifestiert. Das Ich wird durch Zusammenstöße mit der Realität geradezu aus dem Selbst geboren: Das Ich ist, (...), ein Bewußtseinsfaktor par exellence. Es ist sogar eine empirische Erwerbung des individuellen Daseins. Es geht, wie es scheint, zunächst hervor aus dem Zusammenstoß des somatischen Faktors mit der Umwelt, und, wenn einmal als Subjekt vorhanden, entwickelt es sich aus weiteren Zusammenstößen mit der Umwelt sowohl wie mit der Innenwelt (C.G. Jung, GW 9/2, Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, Düsseldorf, 1995:13-14). Auch Erich Neumann ist zu der Auffassung gelangt, dass es ein Irrtum ist, die bewusste Sphäre des Ich als Herr im Hause aufzufassen: Die Ganzheit der Persönlichkeit und ihr dirigierendes Zentrum, das Selbst, existieren vor der Bildung und Entwicklung des Ich zum Bewußtseinszentrum, und die Gesetzmäßigkeit der Ich- und Bewußtseins-Entwicklung hängt vom Unbewußten und der Persönlichkeitsganzheit ab, die das Selbst repräsentiert (Das Kind, Fellbach, 1980:9).
113 Vgl. Gebser, Ursprung und Gegenwart, 111. Die Abbildung zeigt Kalliope auf der sogenannten François-Vase aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Jean Gebser hat diese Etymologie zum Anlass genommen, um eine vorausgehende magische Struktur von der mythischen zu unterscheiden: In der magischen Zeit gibt es noch keinen Mythos. Die innere Kraft des Mythos entäußert sich dort nicht durch den Atem des Singenden, sondern durch die noch sichtbare Ausstrahlung des Hauptes, ja des ganzen Körpers, durch welche er in das fluidale Geschehen der Dinge und der Natur wie übergangslos hineingewebt wird. Dort, wo der Mund erscheint, verblasst die Stärke der Aura, und der Mund tritt an ihre Stelle (ebd. 110-111). Auch im Zusammenhang mit der Darstellung der Mysterien um die altgermanischen Götter Mimir und Óðinn sowie dem Übergang der Zeitalter der Wanen (Titanen) und Asen (Oympier) eignet sich Gebsers Auffassung gut, einzelne Stationen der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit deutlich zu klassifizieren. Rudolf Steiner charakterisiert diese Phase der Menschheitsentwicklung treffend mit Begriffen wie Hellsichtigkeit und Ich-Bewusstsein (Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie, Dornach, 1994).
114 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd.3, 4.Teil: Das Göttliche und der Raum, Bonn, 1977:594.

Weiterlesen: Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Vier


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