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Donnerstag, 26. Oktober 2023

Earendil in der altgermanischen Kultur


[...] das Unvergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr,
und, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.

Richard Wagner

Auf einen dieser mysteriösen, ihn eigenartig berührenden Namen stieß Tolkien schon sehr früh, noch während seiner Tätigkeit als Hochschullehrer in Oxford (1913), im Zusammenhang seiner Studien altenglischer und altnordischer Sprachen an der Honour School of English Language and Literature. Verlyn Flieger fasst die Bedeutung dieses Moments für Tolkiens Werk in wenigen Worten zusammen, wenn sie auch darin irrt, dass Earendil the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction ist, eine Rolle, die auch Frodo Beutlin für sich in Anspruch nehmen kann:

No one familiar with Tolkien´s mythos could mistake the importance of the name Earendel or miss its pervasive presence deep in the fabric of his comology. [...] Earendel is, of course, the half-Elv half-Man savior figure from The Silmarillion who sailed his ship to Valinor in order to plead with the Valar for the rescue of Elves and Men. The resonance of the figure developed over time and underwent considerable change, yet he stands out as the closest thing to a Christfigure in all of Tolkien´s fiction.1

In ihrer Studie kommt Verlyn Flieger hinsichtlich der Herkunft des altenglischen Namens Éarendel und dessen Bedeutung für Tolkien zu einer eher pessimistischen Auffassung: But why the name itself was so important and what precisely it meant to Tolkien has never been made clear, perhaps even to him.2 Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist auch, diese Hypothese zu hinterfragen.

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Earendil: Synopsis einer Märchensaga


Es war im Grunde der Anfang von Tolkiens Mythologie.
Humphrey Carpenter

Wie Humphrey Carpenter treffend bemerkt, legte die Persönlichkeit Earendils zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Keim für eine fiktive Mythologie. Earendil ist Tolkiens Figur, der die Rolle übernahm, die Nordische Traumzeit in einer miniaturisierten Eschatologie zu beenden.1 Vorbereitet durch die mythische Funktion Earendils übernehmen die Menschen, die Edain, die Herrschaft über Tolkiens Kosmos Mittelerde. Die unter den Sternen Mittelerdes, in Cuiviénen, an den Wassern des Erwachens, noch vor dem Aufgang von Sonne und Mond, erwachten Eldar (Elben), konnten die primordiale Schönheit der Sternennächte ihrer ersten Tage in den Großen Landen aber nie ganz vergessen. Sie gossen diese Sehnsucht, poetisch formuliert, in einen ihrer schönsten Segensgrüße: Aiya Earendil Elenion ancalima,2 durch den, einem geheimen Kode ähnlich, Mitglieder sozial und politisch verbündeter Kulturen einander erkennen. Earendil begegnet den Leser*innen des Herrn der Ringe zum ersten Mal in Band Eins, Elftes Kapitel von Die Gefährten: Aragorn erzählt den Hobbits, die am Fuß der Wetterspitze lagern, und von Furcht vor den Schwarzen Reitern ergriffen sind, aus den Geschichten der Ältesten Tagen Mittelerdes, und zitiert aus der Genealogie Berens:

Mittwoch, 11. Januar 2023

Die Kinder Húrins -Tolkien News 1


Often many earls must suffer misery through the will of one
Beowulf, 3077-3078
The Spear of Destiny sticking right through me
Nick Cave
Weh nun, waltende Gottheit, Unheil geschieht
Hildebrandslied

Eine Saga der Älteren Tage von J.R.R. Tolkien

1977 legte Christopher Tolkien postum die Kompilation Das Silamarillion vor, in dem er die Geschichten der Älteren Tage des Ersten Zeitalters seines Vaters neu auflegte.1
Die Sage von Túrin Turambar nimmt ihren Beginn im Anschluss an die Schlacht der Ungezählten Tränen. Der Prolog der Lays of the Children of Húrin streift die Niederlage von Maedhros Heer, berichtet von der Gefangennahme Húrins, von seiner Verschleppung nach Angband, seiner Standhaftigkeit sowie der Verfluchung seiner Familie durch Morgoth. Der Prolog beginnt mit den folgenden Versen:

Sieh! der gold´ne Drache des dunklen Gottes,
der Schatten der Wälder in der Welt, die schwand
der Kummer der Menschen, und die Klage der Elben
entweichte wohl sachte Waldwege entlang
nun ist zu erzählen, vom tränenreichen Namen,
von Níniel, der trauervollen und vom traurigsten Namen,
von Thalions Sohn Túrin vom Schicksal besiegt
.2

Freitag, 30. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Vier


Tolkien ist Mythograph, und gleichzeitig Linguist, Historiker, Geograph, Ethnologe und Theologe. Sein Werk verfolgt die Komposition und Konzeptionalisierung einer ganzen Kosmologie und Weltanschauung. Seine Texte nähern sich anthropologischen Studien und Monographien: Sie laden zu genauer Lektüre in literaturkritischer Absicht ein. Seine Erzählungen und Essays knüpfen an die kognitive, diskursive Ethnologie an, nach der Kultur im eigentlichen Sinne Sprache ist, über Sprache entsteht und sich über diese in die Zeit hinein entfaltet. Die Besonderheit von Tolkiens Vorgehen besteht in seiner Arbeitsweise: im ersten Schritt entwirft er einen artifiziellen Kosmos, den er in einem zweiten Schritt entdeckt und im dritten zu erforschen beginnt. Während des Forschens und Schreibens dehnte sich diese Welt aus, geriet ihrem Schöpfer zu einem nicht endenden Prozess, der nicht abgeschlossen wurde. Diese Auffassung hängt sehr eng mit Tolkiens Bekenntnis zum Katholizismus, mit seiner Art zu glauben, zusammen. In einem Gespräch mit Tolkien vertrat C.W. Lewis die These, Mythen seien durch Silber geblasene Lügen. Ich wiederhole diese Auffassung gerne, denn sie trifft ins Zentrum von Tolkiens Schaffen, der in seiner Erwiderung den Mythos rehabilitiert:

[...] obwohl sie den Irrtum enthalten, zugleich einen Funken des wahren Lichts spiegeln, der ewigen Wahrheit, die bei Gott ist. Ja, nur indem er [der Mensch] Mythen schafft, indem er »nach-schöpferisch« wird und Geschichten erfindet, kann der Mensch sich dem Stand der Vollkommenheit nähern, den er vor dem Sündenfall gekannt hat. Unsere Mythen mögen irregeleitet sein, aber sie steuern, wenn auch noch so unsicher, auf den rechten Hafen zu, während der materialistische »Fortschritt« nur in den gähnenden Abgrund und zur Eisenkrone des Bösen führt.115

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Drei


Der Versuch, Tolkiens fiktionale Mythologie zu entschlüsseln, ermöglicht dem Leser einen tieferen Einblick in die fiktive Mythologie und Geschichte der vier Zeitalter von Mittelerde. Sehr lohnend ist der Nachweis jener Quellen, denen Tolkien seine hauptsächlichen Inspirationen verdankt. Bei dieser Fahndung stößt man auf die mythologischen Fundamente der nordeuropäisch-germanischen Kultur, die dem deutschen Leser heute kaum noch bekannt sind. Dabei stehen poetische Werke wie die Edda, die Völsunga saga, die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, die isländische Sagaliteratur, das angelsächische Heldenepos Beowulf sowie die finnische Kalevala und das keltisch-walische Mabinogion im Vordergrund der Betrachtung. Die in diesen Dichtungen versammelten Götter- und Heldensagen, Spruchweisheiten und weltanschaulichen Konzepte, überliefern, von christlichem Einfluss nicht völlig unbeeinflusst, das autochthone, kulturelle Fundament des vorchristlichen Nord- und Mitteleuropas. Tolkiens besonderes Augenmerk galt dem nordeuropäischen Heldentopos, und dessen tragischen Verstrickungen, thematisiert in den Biographien seiner vier großen Heldengestalten, Beren, Túrin, Tuor und Aragorn, die er auf einer fiktiven Basis gestaltete.

Donnerstag, 22. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Zwei


Die aufwendige Verfilmung von Der Herrn der Ringe, rückt das Werk von John Ronald Reuel Tolkiens erneut in das Bewusstsein und Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dass Tolkiens erzählerisches Werk aber weitaus mehr darstellt, als seine beiden erfolgreichen Romane, Der Hobbit und Der Herr der Ringe, bleibt, wie so oft, unberücksichtigt. Beide Bücher lassen zwar die Vielfalt tolkien`schens Erfindungsreichtums ahnen, doch sie befriedigen die Neugier und Wissensdurst des Lesers keineswegs. Geschickt bedient sich Tolkien der Kunst der vagen Andeutung, was Plot und Spannungsbogen seiner Erzählweise nutzt, dem Leser aber vieles vorenthält. Es lässt sich trefflich streiten, ob die Enthüllung des narrativen Hintergrunds den beiden Romanen schadet, oder ob es nicht lohnender für deren Verständnis ist, den ganzen Tolkien zu entdecken. Es gibt mindestens zwei Gründe, den Umfang und die Dichte der tolkien`schen Erzählungen auszuloten

  • Der Roman Der Herr der Ringe ist Bestandteil und Höhepunkt einer komplexen fiktiven Mythologie, die sich auf einem mythistorischen Hintergrund entfaltet, der 1918 mit den Erzählungen der Verschollenen Geschichten begann. Tolkien hat seinen Roman als einen integralen Bestandteil einer Mythologie verfasst, deren Umfang erst 1977 deutlich wurde, Jahrzehnte nach seiner ersten Veröffentlichung, und auch erst nachdem sein Sohn Christopher Das Silmarillion aus den Verschollenen Geschichten löste, kompilierte und postum publizierte.
  • Eine kommentierende Übersicht über das narrative Werk von J.R.R. Tolkien ist in Deutschland inzwischen überfällig, insbesondere da die umfangreiche wissenschaftliche Sekundärliteratur den deutschsprachigen Lesern Tolkien nicht leicht zugänglich ist.

Montag, 19. Dezember 2022

Im Inneren der Sprache


Die verschiedenen Bände der History of Middle-Earth, in denen sich die Mythologie der Quenta Silmarillion allmählich entwickelte, belegen, dass J.R.R. Tolkien die Gestalt des Earendil lebenslang beschäftigte. Die vielen verwirrenden Versionen und von einander abweichenden Details erläutern meine Studien über die Earendil-Saga. Das Verständnis einer mysteriösen, mit mannigfaltigen Spekulationen behafteten Persönlichkeit wie Earendil, seine Herkunft, in Mythos und wissenschaftlichem Diskurs, und insbesondere die Faszination und Wahrnehmung dieser mythischen Persönlichkeit durch Tolkien selbst; eine imaginative Begegnung fast mystischen Charakters, die in der Tiefen der Sprache wurzelt, in der Earendil in Erscheinung tritt.

Samstag, 17. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Eins


Und so wie das Sprechen ein Erfinden in Bezug auf Objekte und Ideen ist,
so ist der Mythos ein Erfinden in Bezug auf die Wahrheit
.1

I didn´t say in the same way, said Jeremy.
There are secondary planes or degrees
2.

»Rings um euch liegt die weite Welt:
Ihr mögt euch einzäunen, aber euer Zaun wird
sie nicht fernhalten.«
3

Christopher Tolkien und Humphrey Carpenter bezeichnen Tolkiens Texte wiederholt als Mythologie. Aber auch Tolkien selbst verwandte diese Bezeichnung für sein Werk, als er davon sprach, eine Mythologie für England schaffen zu wollen.4
Meines Erachtens trifft dieser Terminus das, was die moderne Literaturwissenschaft als phantastische Literatur bezeichnet nicht ganz, obwohl Tolkien sicherlich als Diskursivitätsbegründer gelten kann: als die „Mutter“ aller rezenten epischen High-Fantasy.5 Wenn Tolkiens Bemühen in der Schaffung einer Mythologie lag, dann schwebte ihm sicherlich eine Heldenmythologie, eine Heldenepik, wie der altenglische Beowulf vor.
In seinen alliterierenden Versdichtungen näherte er sich dem altenglisch-eddischen Heldenlied. Treffender ist es aber, den größten Teil der Texte Tolkiens als literarische Erzählungen zu bezeichnen, vergleichbar denjenigen der nordischen Sagaliteratur.6 Für seine narrativen Texte konzipierte Tolkien in seinen künstlichen Sprachen Quenya [Q] und Sindarin [S] einen eigenständigen Terminus, der diesen Sachverhalt beleuchtet: Q nyár-, erzählen, berichten.7 Auch die Earendil-Erzählung, deren Thema sich in die altnordische Mythologie verzweigt, steht, so wie Tolkien sie erzählt, der Saga näher als der Mythologie, der Tolkien den Impuls zu diesem Thema verdankt.8 Die philosophische Ebene, die der narrativen Ebene unterliegt, behandelt die großen mythologischen Themen: Tod, Wiedergeburt und das Schicksal der Kulturen Mittelerdes. Eng damit verknüpft sind Betrachtungen über Sterblichkeit und Ewiges Leben, ein Thema, das Tolkien als Große Flucht formuliert, die einst über den Geraden Weg (The Straight Road) führte, den die Angst der Menschen vor dem Tod schließlich krümmte. Dass Kritiker für Tolkiens Werk schon früh den Vorwurf des Eskapismus bemühten, darauf werde ich noch näher eingehen. Eine genauere Differenzierung macht allerdings deutlich, dass das Gegenteil wahr ist. Im seinem Essay Über Märchen bekennt sich Tolkien offensiv zum Märchen als eskapistischer Literatur und als Fluchtweg. In der Flucht, die für ihn weder verwerflich noch anstößig ist, sieht er die eigentliche Funktion des Märchens: