Montag, 2. Januar 2023

Kruppes Träume


Und wenn dieser Mann dich in deinen Träumen sieht,
[...] dann wird der Windhauch seines Vorbeiziehens
deine steifen Glieder bewegen als würdest du laufen
[...]1

Die Nacht war finster während ich wanderte,
mein Geist nicht gebunden an Erde oder Stein
[...]2

In einem Interview sagte Steven Erikson im Mai 2000 über seinen Protagonisten Kruppe,3 dass er mit dessen Charakter sein dirty work, subversive-wise abgeliefert habe. Funny how the most easily written work I`ve ever done turned out to be the most challenging for readers4. Auf die Frage, ob er Kruppe von Beginn an als Hauptprotagonist konzipiert hat, oder er erst im Verlauf des Schreibens dazu wurde, antwortet Erikson in einem anderen Interview:

Kruppe couldn't be anything but central, at least in his own mind. He`s great fun to write, because his game is with language. The opening scene where he encounters his vices and virtues did indeed come out of nowhere, but it certainly set the stage in my mind for how he was going to be from then on. [. . .] Kruppe became a kind of narrator / orator in a Greek play, always ready to comment on the goings on with a sly wink.5

Steven Erikson führt seinen Protagonisten Kruppe im Zweiten Buch von Die Gärten des Mondes ein, im Fünften Kapitel, als sich die Handlung nach Darujhistan verlagert, wo Kartharsis und Krisis des Romans stattfinden. Im Verlauf dieser Ereignisse, und zuerst völlig unerwartet, entwickelt sich Kruppe zu einem wichtigsten Protagonisten der Erzählung. Plötzlich steht er im Fokus der Ereignisse, die er massgeblich und doppelt, aus dem Untergrund heraus, beeinflusst: im Traum und anschließend in der Realität. Kruppe träumt Ereignisse voraus, weiß vorher, was geschehen wird und geschehen muss; und schließlich auch geschieht. So ist er den anderen immer einen Schritt voraus. Kruppe versteht besser, weiß es besser und kann die Prozesse besser steuern, manipulieren. Im Zweiten Buch des Romans steigt der Autor unvorbereitet mit Kruppes erstem Traum in die Erzählung ein und stellt Kruppe gleich mit seiner besonderen Fähigkeit vor. Der Mann Kruppe und seine Fähigkeiten, die Erikson subversiv-weise nennt, ist Gegenstand dieses Essays. Er verbindet die beiden gegensätzlichen Eigenschaften in seiner Person: Kruppe ist weise, das heißt, klug und erfahren in den Angelegenheiten des Lebens, gleichzeitig auch subversiv, also umstürzlerisch, eine Eigenschaft, die auf den Umsturz oder die Änderung der vorherrschenden, staatlichen Ordnung abzielt, die vornehmlich im Verborgenen betrieben wird.mKruppe ist ein Trickster und wie nicht anders zu erwarten, räumt Erikson in dem zitierten Interview ein, dass Kruppe sich in sein narratives Konzept gedrängt hat, ein Protagonist, der erst während des Schreibens allmählich Profil gewann. Sein Spiel sei Sprache, so Erikson und Kruppe ist sein (allwissender) Erzähler, jemand, der den Verlauf der Handlung kommentierend begleitet. Wie es Kruppe gelingt, diese Rolle zu spielen, schildert Steven Erikson in Die Gärten des Mondes, dem ersten Band der zehnbändigen Serie der Das Spiel der Götter.6

In dem wotmania-Interview (2003) reklamiert Steven Erikson für seinen Protagonisten Kruppe die Rolle eines Erzählers (narrator) beziehungsweise Redners (orator) wie er im antiken griechischen Drama üblich ist. Der Autor charakterisiert ihn als jemanden, der den Verlauf der Handlung kommentiert, mit einem durchtriebenen Augenzwinkern (sly wink) allerdings, wie es sich für einen Trickster gehört. In der Maske Kruppes betritt der Autor in der Rolle des auktorialen, allwissenden Erzählers, der über alle wichtigen Informationen der erzählten Welt verfügt, selbst die Bühne seines Romans. Gegenstand meines Essay sind Rolle und Funktion des Magiers und Diebs Kruppe, der die narrative Position des Autors im Erzähltext repräsentiert. In The Road to Middle-Earth weist Tom Shippey berechtigt darauf hin, dass fantastische Erzähltexte hard to read sind, da sich deren sekundäre Welten selten eins zu eins mit der Lebenswirklichkeit der Leser*innen synchronisieren lassen. Im erzählerischen Werk John R.R. Tolkiens senken die Protagonisten Ælfwine, Alboin oder Eriol die Rezeptionsschwelle zwischen dem Autor-Erzähler und seinen Leser*innen. Und auch Robert Jordan mischt sich in seinem Zyklus The Wheel of Time im Gewand des Gauklers Thom Merrilin unter seine Figuren. Dieses literarische Mittel, der Autor als Protagonist, ist nicht neu, und verbreiteter als auf den ersten Blick erkennbar. Besonders Tolkien, an dem ohnehin kein Fantasy-Autor vorbeikommt, hat sich diese Erzähler-Repräsentanz im eigenen Werk durchgehend gesichert. In Bezug auf Kruppe ist eine seiner Alter-Ego-Figuren besonders aufschlussreich; Eriol, dessen Name Einer, der einsam träumt bedeutet. Aus seinen Träumen nicht mehr zu erwachen, nicht mehr in die alltägliche Wirklichkeit zurückzufinden, davon erzählen die keltischen und germanischen Elfen-Märchen. Tolkiens Erzählung The Cottage of Lost Play, die seine Verschollenen Geschichten einleitet, hat dieses Motiv im Ólorë Mallë, dem Pfad der Träume, ausformuliert. Dort erfährt Eriol von Menschen, die diesen Pfad beschritten und nicht mehr zurückkehren konnten oder wollten, die die Sehnsucht immer weiter hinauszog, bis sie nicht mehr zurückfanden in ihre eigene Welt. Dieses Schicksal ereilt schließlich auch Eriol. Kruppe besitzt ähnlich intuitive Fähigkeiten wie Eriol, er kann zukünftige Ereignisse träumen. Das macht ihn zu jemand Besonderem in Eriksons Erzähltext. In Die Gärten des Mondes sieht Kruppe in fünf visionären Träumen kommende Ereignisse voraus, nämlich

  • die Konfrontation mit seinen Motiven und Werten, die ihm als innere Stimmen eine zentrale Rolle bei der Organisation des Widerstands gegen die imperiale Invasion seiner Heimatstadt Darujhistan und seine Verantwortung für den Träger von Oponns Münze empfehlen (Kruppes erster Traum);
  • die erste Begegnung mit K`rul und dessen Prophezeiung vom Erwachen des Jaghut-Tyrannen Raest in seinem magisch gesicherten Hügelgrab in den Gadrobi-Hügeln (Kruppes zweiter Traum)
  • seine Rolle bei der Reinkarnation der Magierin Flickenseel, bei der K`rul ihn auch vor der Ankunft der Erwecker des Jaghut-Tyrannen warnt (Kruppes dritter Traum);
  • die zweite Begegnung mit K`rul, der ihm in visionärer Schau das Schwert Dragnipur, das Bündnis des Schwertträgers mit dem Magier-Zirkel von Darujhistan und seine eigene Reise in die Gadrobi-Hügel zum Grab des Jaghut-Tyrannen, offenbart (Kruppes vierter Traum);
  • seine Mitwirkung bei dem Versuch, die Rückkehr des Jaghut-Tyrannen und dessen Eindringen in Darujhistan zu verhindern (Kruppes fünfter Traum).

Steven Eriksons Roman Die Gärten des Mondes ist eine fast 800 Seiten umfassende, äußerst komplexe Fantasyerzählung. Die Rückseite der deutschen Ausgabe vom 2000 fasst den Plot des Romans in wenigen Zeilen zusammen:

Das malazanische Imperium ist ein Moloch, der sich mit Hilfe seiner Magier und Soldaten unerbittlich ausbreitet. Als Darujhistan fallen soll, die letzte freie Stadt auf dem Kontinent Genabackis, sieht sich die malazanische Vorhut jedoch einem mysteriösen Hindernis gegenüber: Die riesige, fliegende Festung Mondbrut schwebt über der Stadt. Jetzt erweist sich, dass die Götter selbst in das Spiel um die Macht eingreifen, doch sie erwarten dafür eine Gegenleistung.

In dieser Welt tritt der Mann Kruppe erst auf, als die Eroberung Darujhistans kurz bevorsteht. Aber nicht die fliegende Festung, wie oben zu lesen ist, ist das mysteriöse Hindernis, sondern der Mann Kruppe mit zwei Identitäten, der als Meisterspion der Aal im Verborgenen wirkt. Nun ist Kruppe niemand, der offen in die politischen und militärischen Aktivitäten involviert ist, wie der Fürst von Mondbrut oder die Imperatrix Laseen. Kruppe agiert im Untergrund, gerissen, intrigant und unauffällig. Erst langsam wächst er in eine Rolle hinein, die einen erheblichen Einfluss auf die Ereignisse hat, die in Die Gärten des Mondes erzählt werden.

Der Mann Kruppe

Obwohl Kruppe erst relativ spät die Bühne des Romans betritt, entwickelt er sich schnell zu einer der wichtigsten Reflektorfiguren in Eriksons Roman, die tief in die Ereignisse in Darujhistan verstrickt ist. Kruppe, so erfahren die Leser*innen, ist ein Mann von angeblich falscher Bescheidenheit, in der er sich gerne sonnt. Ganz Trickster, wie der griechische Hermes, lebt er als Magier, Dieb und Meisterspion in Darujhistan, ist Stammgast im Phoenix, dem Gasthaus der Stadt, wo mit Informationen gehandelt wird, und wo die Fäden der Opposition zusammenlaufen. Inkognito, als der Spion Der Aal, unterhält Kruppe ein Netzwerk, mit dem er die Pläne der Imperatrix Laseen sabotiert, die Darujhistan, die letzte freie Stadt in Genabackis, erobern will. In seinen Intrigen lässt er die Maske des glückseeligen Idioten niemals fallen, nicht mal für einen kurzen Augenblick, sodass man ihn gewöhnlich unterschätzt und er deshalb ungestört im Verborgenen agieren kann. In dem Ritual der Seelenwanderung, in dem Flickenseel zurückgeholt wird, bezeichnet sich Kruppe gegenüber dem Ältern Gott K`rul als jemanden, der sich niemals offen gegen jemanden stellt, und er ist der Ansicht, dass Macht etwas ist, das man um jeden Preis vermeiden sollte. Auf diese Art ist Kruppe weise und kein Narr, eine Feststellung, die er immer wieder gerne trifft, und die ihm sehr wichtig ist.
Kruppe, der wie ein Kleinkind von sich nur in der dritten Person redet, ist ein kleiner, übergewichtiger Mann mit kurzem, krausem Haar und einer unstillbaren Vorliebe für Backwaren, der sich weigert ein Pferd zu besteigen, und stattdessen lieber ein Maultier reitet. Er selbst charakterisiert sich so:

Fett und faul ist er, und nachlässig, das schon, ja, und er neigt in der Tat zu Exzessen und stellt sich auch im Umgang mit einer Suppenschüssel recht tollpatschig an. Aber ein Narr – nein. Es gibt Zeiten, da muss der weise Mann eine Entscheidung treffen. Und ist es nicht weise, zu dem Schluss zu kommen, dass das Leben der anderen unwichtiger ist als das eigene? Doch, natürlich, das ist sehr weise. Ja, Kruppe ist schon weise.7

Kruppe ist ein talentierter Dieb, der anderen, wie seinem Freund Crokus Junghand, Lehrer und Förderer sein kann. Als Spion gelingt es ihm lange, selbst für die Leser*innen, unerkannt zu agieren und alle, selbst enge Freunde, in seiner Umgebung über seine Machenschaften zu täuschen. Und als Magier ist Kruppe im Besitz einer mysteriösen Macht, mit der er nicht nur fähig ist, das Fatid, das Deck der Drachenkarten, zu legen, zu befragen und zu interpretieren, sondern auch Gewirre8 zu öffnen, um deren magische Potenz zu nutzen. Kruppe selbst schätzt diese Fähigkeiten gering, und greift selten auf sie zurück. Er verfügt über andere Mittel des Wissenserwerbs und der Einmischung in die sozialen Angelegenheiten seiner Mitmenschen sowie der politischen Ereignisse der Stadt Darujhistan:

Bei einigen äußerte sich ihr Talent, indem sie Knöchelchen warfen, Hitzefrakturen in Schulterblattknochen deuteten oder das Fatid der Drachenkarten beschworen. Kruppe benötigte so etwas nicht. Das Klagelied prophetischen Wissens dröhnte geradezu in seinem Schädel, hallte durch seine Knochen.9

Wie mächtig Kruppes Magie ist, die zum Element Feuer gehört, davon zeugt ein beinah beiläufig erzähltes Ereignis, als er dem Assassinen Rallick Nom das Leben rettet, indem er sich von hinten an die Attentäter anschleicht, die Rallick bedrängen

[...] - der alte Kruppe, auf dessen Fingerspitzen Feuer tanzte – ein magischer Spruch von schrecklicher Brutalität. In einem einzigen Atemzug hat er den Spruch ausgestoßen, ja, das hat Kruppe getan, und sofort lagen sechs Aschehäufchen zu Rallicks Füßen.10

Kruppes Träume

Kruppe träumt seine prophetischen Träume im 907ten Jahr des 3.Jahrtausends, in der Jahreszeit Fanderay, im Jahr der Fünf Häuser, 2000 Jahre nach der Gründung Darujhistans, gezählt nach der Zeitrechnung Darujhistans, die von der Zeit des Imperiums von Malaz abweicht. Nach malazanischer Zählung ist dies das 1163te Jahr von Brands Schlaf und nach der Zählung der T`Lan Imass das Jahr der Großen Zusammenkunft, Tellanns Erscheinen.11

Der erste Traum12

Im fünften Kapitel betritt Kruppe in einem Traum die Bühne des Romans. In dem zitierten Interview bezeichnet S. Erikson diesen Traum als opening scene where he [Kruppe] encounters his vices and virtues. Kruppe erlebt seinen ersten Auftritt mit einem äußerst realistisch anmutenden Traum, sodass schnell vergessen werden kann, dass man sich als Leser*in in Kruppes Traum befindet. In seinem Traum wandert Kruppe durch eine öde Landschaft westlich von Darujhistan. In einem Gasthaus trifft er auf eine Gruppe Bettler, mit denen er eine Diskussion bestreitet, die der Inhalt seines Traum ist und ihn dazu motiviert, sich politisch zu positionieren. Ausschlaggebend für diese Entscheidung ist Oponns Münze,13 deren Klang und Bewegung Kruppe schon früher vernommen hat. Der Erzähler deutet die Möglichkeit an, dass Kruppe in einem seiner visionären Träume anwesend war, als Flickenseel Oponns Karte zog, und er so den manipulierenden Einfluss des Gottes wahrnehmen konnte.
Erstmals taucht Oponns Münze im Roman auf, als Flickenseel das Fatid, ihr Deck Drachenkarten, befragt. Auf der Karte Oponn sieht Flickenseel zum ersten Mal die silberne Scheibe routieren: wo die rechte Hand des Lords nach oben griff, um die linke der Lady zu berühren, lag zwischen ihren Händen eine winzige silberne Scheibe.14 In einer visionären Schau sieht Flickenseel wie sich die Münze zwischen den Händen der Zwillinge dreht, hört das Geräusch, das sie dabei macht, als schwachen Klang in ihrem Kopf und hat das Gefühl, dass dies das Zeichen ist, dass Oponn in den kommenden Ereignissen auf ihrer Seite steht. Obwohl sie skeptisch bleibt, kann sie sich der Versuchung nicht entziehen: Sie hatte niemals zuvor Oponn als Verbündeten gehabt. Auf das Glück zu vertrauen war schiere Idiotie.15 Flickenseel interpretiert die sich drehende Münze zwischen den Händen der Zwillinge als Beweis dafür, dass sich der Gott Oponn in die Angelegenheit der Menschen eingemischt hat und das Haus der Dunkelheit und Schatten, das das Schwert Dragnipur repräsentiert, in der Schwebe hält, irgendwo zwischen Tag und Nacht. Im Verlauf der weiteren Handlung wird diese Münze das Zeichen dafür, dass Oponn am Spiel der Götter teilnimmt und seinen Einfluss zunächst über den Hauptmann Ganoes Strabo Paran, später über Crokus Junghand als Werkzeug ausübt.
In dem völlig realistisch empfundenen, immer gleichen Traum verlässt ein kleiner dicker Mann, Kruppes Traum-Ich, Darujhistan und bricht in die Gadrobi-Hügel auf, eine Gebirgskette kaum besiedelter kleiner Hügel, die sich östlich der Stadt Darujhistan aus der Ebene erhebt. Es ist noch Tag in dem Traum, auch wenn die kupferne, von Rauch verschleierte Sonne bereits unterzugehen scheint. Der kleine Mann schreibt sich selbst Mitgefühl mit der Not und dem Elend in seiner Welt zu, und behauptet von sich, oft soziale und gesellschaftliche Belange über seine eigenen zu stellen, auch wenn Kruppe im Wachzustand diese Tugend als Narretei bezeichnet hat. Der Mann bewegt sich sicher in einer Traumwelt, die er schon oft betreten hat. Er folgt einer schmutzig gewundenen Straße, ohne seltsamerweise zu wissen, wohin ihn sein Weg führt. Vorbei an einer ärmlichen Barackensiedlung, vorbei an leprakranken Männern in zerlumpter Kleidung und an Frauen, die damit beschäftigt sind, Katzen in eine schlammige Quelle zu tauchen. Kruppe ist sich im Traum aber bewusst,

dass sein Geist sich auf der Flucht befand. Er floh aus einer zum Untergang verurteilten Stadt hinter ihm, floh vor dem dunklen, brütenden Fleck am Himmel über ihr [d.i. die Voraussicht kommender, destruktiver Ereignisse]; doch vor allem floh er vor all dem, was er wusste, und was er war.16

Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass er träumt, dass sein Geist wandert. Er spürt seine Füße schmerzen und weiß, dass seine Flucht im Schlaf stattfindet. Nach langer mühsamer Wanderung durch diese Traumwelt, unterbrochen nur von Kruppes monologisiernden Selbstgesprächen, erreicht er eine Kreuzung, einen Scheideweg, und dahinter ein Gebäude, durch dessen Fenster Kerzenlicht nach draußen dringt. Unmittelbar an der Kreuzung steht ein kahler Baum mit ausladenden Ästen. Von einem der gewaltigen Äste hing etwas Längliches herab, dass in Sackleinen eingewickelt war und ächzend im Wind schaukelte, dem Kruppe aber nur einen flüchtigen Blick zuwarf. Im Innern des Gasthauses, das einmal bessere Zeiten gesehen haben musste, saß ein halbes Dutzend Bettler um eine Talgkerze versammelt auf dem Fußboden. Einer der Anwesenden fordert Kruppe auf einzutreten, sich auf eine Strohmatte zu setzen und sie zu unterhalten. Mit den Worten, Wir werden deine Zuhörer sein, Unglücklicher, empfangen sie ihn. Kruppe nimmt die Einladung der Bettler wie selbstverständlich an, teilt mit ihnen sein Essen, und stellt sich ihnen vor, nicht ohne zu vergessen, selbstbewusst darauf hinzuweisen, dass dies sein Traum ist:

Kruppe, der Mann, der jetzt vor euch sitzt, ist Fremden wie Feinden wohl bekannt. Ein Bürger des glitzernden Darujhistans, des mystischen Juwels von Genabackis, der saftigen Traube, die reif genug ist, um gepflückt zu werden. [...] Und dies ist sein Traum17.

Nachdem Kruppe klar gestellt hat, dass es sich um seinen Traum handelt, und die Bettler ihm dies bestätigten, beginnt eine Diskussion darüber, was Kruppe veranlasst haben mag, diesen merkwürdigen Ort aufzusuchen. Im Verlauf der Diskussion erkennt Kruppe in den Bettlern Seiten seines eigenen Selbst, Aspekte einer multiplen Persönlichkeit, die im Traum mit Kruppe in Beziehung treten und mit denen er sich austauscht, als wären sie reale Personen. Kruppe vermutet gleich, dass sie ihn auffordern werden, seine Flucht zu beenden und nach Darujhistan zurückzukehren, was sie ihm dann auch vorschlagen, an seine moralische Integrität appellierend. Um seine Absicht, Darujhistan dennoch verlassen zu können, zu verteidigen, argumentiert Kruppe, dass sein Schädel eine zu wertvolle Kammer sei, um Trugbilder [er meint die Partialpersönlichkeiten, mit denen er gerade eben kommuniziert] darin herrschen zu lassen. Täuschungen erklärt er ihnen, werden im Verstand geboren und dort genährt, während die Tugenden dort darben und verkümmern müssen.
Letztlich kann Kruppe sich der Einsicht nicht verschließen, dass die Bettler, mit denen er in dem Gasthaus zusammensitzt, multiple Aspekte seiner Persönlichkeit sind, die auf seine Anweisungen, sich zu entfalten warten, da er ihr Meister ist. Sie verstehen sich als seine Tugenden, seine kategorischen Imperative. In einem letzten Versuch, sich seiner eigenen moralischen Diktion zu entziehen und seiner Erwartung an sich zu widersprechen, vergleicht er die Bettler mit dem Anblick des Schimmels auf diesem Käse und wirft ihnen vor, dass es einem Bettler, einer Tugend, nicht zustehe, die Wahl des Käses zu bestimmen. Die Stimme der Moral wird aber zunehmend lauter in ihm und er erkennt gleichzeitig an, dass er sich vor seinen inneren Werten nicht verstecken kann. Die Münze Oponns dreht sich weiter, und er sieht ein, dass er sich ihrem Klingen nicht entziehen kann. Obwohl Kruppe an der Richtigkeit seiner Entscheidung zweifelt, gibt es für ihn nur die prometheische Wahl: Er muss die Götter in ihrem eigenen Spiel herausfordern und das bedeutet, dass er nach Darujhistan zurückkehren muss, um Crokus Junghand, dem die Münze zufallen wird, zu beschützen. Wieder bestärken ihn die Tugend-Bettler in ihm, fordern ihn auf, er selbst, der prometheische Rebell zu bleiben, indem sie ihm seine Zweifel spiegeln. Seine Selbstsicherheit zurückgewinnend, die auch seine Arroganz aufblitzen lässt, verspottet Kruppe die Götter als [seine] vollkommensten Opfer, in ihrem maßlosen Selbstvertrauen, ewig blind vor Hochmut, ewig überzeugt von ihrer Unfehlbarkeit. Erst jetzt offenbart sich ihm die wahre Funktion seiner Teilpersönlichkeiten: Sie sind seine Gaben, die sich nach und nach entfalten, ihre Stimme finden werden, damit Kruppes ethischer Standpunkt nicht verkümmert.
Kruppes erster Traum endet damit, dass er, ironisch seine Flucht verharmlosend, sie zu einem Ausflug herunterspielt, um ein wenig frische Nachtluft zu schnuppern, die jenseits der Stadtmauern reiner ist. Er sei im Schlaf gewandelt, bagatellisiert er, nun müsse er seinen Platz im Zentrum der Ereignisse einnehmen: In dieser Nacht fällt die Münze, so lautet sein lakonisches Resümee. Die Bettler, die Kruppe verlässt, nachdem er seine Entscheidung getroffen und verkündet hat, sehen mit einem Mal kräftiger und gesünder aus. Kruppe verlässt seinen Traum innerlich gestärkt und mit seiner Entscheidung zufrieden. Die letzte Seite von Kruppes Persönlichkeit, die ihm als Herausforderer der Götter nicht angemessen erscheint, lässt er in dem Baum auf der Kreuzung zurück, die Demut:

[...] das letzte der vielen Gesichter in diesem Traum, die Kruppe ansehen und doch seine eigenen sind. Zumindest wirst du das behaupten. Du bist Demut, aber wie jeder weiß, hat Demut keinen Platz in Kruppes Leben, merk dir das. Also wirst du wohl hier bleiben müssen.18

Der zweite Traum19

Im Siebten Kapitel der Gärten des Mondes träumt Kruppe seinen zweiten Traum und begegnet dem Älteren Gott K`rul, der ihn wissen lässt, dass die Imperatrix einen magisch gefesselten Jaghut-Tyrannen aus der mythischen Vergangenheit des Kontinents befreien will. Dieser, so der Gott, sei in der Lage, die ganze Welt zu versklaven. Die Jaghut sind eine ausgestorbene, mythische Kultur, die in den historischen Überlieferungen von Genabackis als eine der vier Gründerrassen gelten. Diesen Tyrannen plant die Imperatrix auf Darujhistan loszulassen, in der Hoffnung, dass ihr Gegenspieler, der Fürst von Mondbrut, der das Schwert Dagnipur trägt, und der die Stadt beschützt, sich in dieser Konfrontation so verausgaben wird, dass ihr die Stadt anschließend kampflos gehört.
In seinem Traum, der ihn wieder eine lange, staubige Straße entlang führt, begegnet Kruppe einem Fremden, der an einem Feuer sitzt, die Hände in den Flammen, ohne dass ihm die Hitze etwas anhaben kann. Da Kruppe schrecklich friert, fühlt er sich von dem Feuer in der Ferne angezogen, das in einem Kreis von Bäumen brennt. An dem Feuer sitzt eine weitere, in einem Kapuzenumhang gehüllte Gestalt, das Gesicht im Schatten verborgen. Sie macht Kruppe darauf aufmerksam, dass Fremde in seinen Träumen umherwandern, Fremde wie ich. Und er fragt weiter: Hast du mich heraufbeschworen? Kruppe verneint diese Frage, bezeichnet sich stattdessen selbst als ein Gefangener seiner Träume, als jemand, der in diesem Moment in seinem Zimmer unter warmen Decken schläft.
Den Fremden am Feuer enttäuscht Kruppes Antwort. Er beklagt sich bei Kruppes Traum-Ich darüber, keine Anhänger mehr zu besitzen und von niemandem mehr verehrt zu werden. Sind es diese Worte oder Kruppes Intuition, jedenfalls erkennt Kruppe in dem Fremden den Älteren Gott K`rul, der erwacht ist und nun in seinen Träumen wandelt. Er sei erwacht, erklärt dieser Kruppe, weil in seinem verwaisten Tempel in Darujhistan Blut vergossen worden sei. Er sei erwacht, um auf jemanden zu warten, der erweckt werden soll, fährt er fort. Kruppe will wissen, was der Ältere Gott ihm bringt, und dieser offenbart ihm die Zukunft:

Ein altes Feuer, das dir Wärme schenken will, wenn du sie brauchen solltest.“, sagt er. „Aber ich verpflichte dich zu nichts. Suche den T`lan Imass, der die Frau führen wird. Sie sind die Erwecker.20

Kruppe erkennt, dass K`rul von den rezenten Göttern, den Kind-Göttern, wie K`rul sie nennt, wie eine Figur in deren Spiel benutzt wird. Belustigt stellt der Ältere Gott fest, dass dies ein Fehler sei, denn er werde nicht sterben, auch wenn er verliere. An Kruppe gewandt rät er ihm, weiter zu spielen, denn jeder Gott fällt durch die Hand der Sterblichen, und nur ein Sterblicher könne der Unsterblichkeit ein Ende bereiten. Oponns Münze ist in den Besitz eines Jungen übergegangen, der nichts davon weiß, wird Kruppe zu Beginn seines zweiten Traums bewusst. Sie hat aufgehört, sich zu drehen, und Oponn hat sein Werkzeug gewählt. Dieses Ereignis wird Kruppe vor der Begegnung mit K`rul bewusst und festigt seine Entscheidung, die er mit Hilfe seiner Teilpersönlichkeiten in seinem ersten Traum getroffen hat. K`rul weist ihn auch darauf hin, dass Kruppe die Aufgabe zufällt, in dem Spiel der Götter eine zentrale Position einzunehmen und die einzelnen Spielzüge zu überwachen und zu kontrollieren:

„In den Händen eines Kindes“, murmelte er. „In dieser Nacht ist Kruppe wirklich allein auf der Welt. Ganz allein.“21

Kruppes Traum endet mit einer Erkenntnis, die ihm K`ruls Prophezeiung offenbart. Ihm ist bewusst geworden, was außer ihm noch niemand weiß, dass sich Oponns Münze in der Hand eines Kindes befindet. Auch dieser Traum endet mit Kruppes Entscheidung, dass er, um den Jungen zu beschützen, ganz allein gegen die Kind-Götter antreten muss. Das entscheidende Ereignis dieses Traum besteht darin, und nicht nur für die Leser*innen, dass der Ältere Gott durch Kruppes Traum wie ein Portal die Welt betreten hat und Kruppe gar nicht so allein ist, wie er momentan befürchtet. Nach seiner Prophezeiung lässt K`rul einen nachdenklichen Kruppe an einem magisch brennenden Feuer zurück, dass sich nicht verzehrt und keine Asche hinterlässt.
Der Autor spielt mit dieser Prophezeiung auf Ereignisse an, die erst sehr viel später in der Romanhandlung verstanden werden können, und lässt seine Leser*innen mit ihren Fragen zurück: Ein plötzlich erwachter Älterer Gott, der auf einen Erwecker wartet, der ein anderes altes Wesen aufwecken will. Kind-Götter, die den Älteren Gott für ihre noch unbekannten Zwecke benutzen und einen geheimnisvollen T`Lan Imass, den eine Frau führt. Die Leser*innen von Steven Eriksons Fantasy sind gut beraten, sich alle diese Details gut zu merken.

Der dritte Traum22

Im Elften Kapitel von die Gärten des Mondes träumt Kruppe seinen dritten Traum, in dem er Zeuge der Reinkarnation der Magierin Flickenseel wird, die sich ihm bereits an K`ruls Feuer offenbarte. Diese wurde auf ihrem Weg nach Darujhistan von dem Hohemagier Bellurdan, im Auftrag der Imperatrix, aufgehalten, damt sie die Erweckung des Tyrannen nicht verhindert. Flickenseel lehnt sich gegen den Befehl der Imperatrix auf. In einem magischen Duell sterben die beiden Magier, doch es gelingt Flickenseel, kurz bevor sie verbrennt, ihre Seele mit Hilfe ihrer magischen Kenntnisse in einen anderen Körper zu teleportieren. Die Gewirre, die Steven Erikson in seinem Romanzyklus als bedeutendes Artefakt entwickelt hat, ermöglichen es Flickenseel, in diesem fremden Körper in einer magischen Raumzeit überleben. Das Ritual der Seelenwanderung, das in Kruppes drittem Traum zelebriert wird, löst Flickenseels Seele wieder aus dieser Raumzeit und führt dazu, dass sie in einer neuen Existenz wiedergeboren wird. Aus Dankbarkeit, dass Kruppe seinen Traum für dieses Ritual geöffnet hat, warnt K`rul ihn erneut vor der Invasion Darujhistans und der Befreiung des Tyrannen.
Der magische Feuerkampf der Magierin Flickenseel mit dem Hohemagier Bellurdan und ihre Reinkarnation in Kruppes drittem Traum bilden einen der dramatischen Höhepunkte der Gärten des Mondes. Nicht lange nach Kruppes Traum gerät der Hauptmann Paran in eine von Rhivi-Nomanden begleitete Herde Bhederin. Die Rhivi sind einer der rezenten Kulturen in Genabackis. Mit den Rhivi-Hirten zieht das kleine Kind Silberfuchs, in dessen prophetischen Aussagen Paran glaubt, seine Freundin Flickenseel wiederzuerkennen.
In seinem dritten Traum reist Kruppe dreihunderttausend Jahre zurück, in die Epoche, als die Kultur der T`lan Imass noch jung war, und sie die Jaghut noch nicht ganz vernichtet hatten. In diesem Traum begegnet er K`rul wieder, dem Gott aus längst vergangener Zeit, der Prophezeiungen über die Gegenwart der Personen macht, die sich in Kruppes drittem Traum um das Feuer versammelt haben. Er hockt in einer tundraähnlichen Ödnis an einem einsamen Feuer, und die Luft roch nach verfaulendem Eis.23 K`rul ist der Ältere Gott, den die Menschen dieser Kulturen und Epoche verehrten. In Kruppes zweitem Traum erschien er ihm in der Gegenwart, in seinem dritten Traum holt er ihn zu sich in seine Vergangenheit, da das Ritual, dass in diesem Traum zelebriert werden soll, die ältere Magie des Tellann-Gewirrs der T`Lan Imass benötigt.
Im Traum befindet sich Kruppe in dieser kahlen, öden Landschaft, ohne irgendeine Spur von einer menschlichen Behausung. Wie in seinem zweiten Traum sitzt er an dem von K`rul magisch geschürten Feuer, das nie verlöschen kann, und dass die Energie für das bevorstehende Ritual beisteuert. Während er am Feuer wartet, wird ihm die Absurdität seiner Situation bewusst und er bemerkt: „Verstörend, in der Tat [...] Sind dies etwa instinktive Visionen, die sich aus irgendeinem Grund in diesem Traum enfalten? Kruppe weiß es nicht, und wenn er die Wahl hätte, würde er auf der Stelle in sein warmes Bett zurückkehren.24 In dieser eiszeitlichen Landschaft trifft Kruppe auf Pran Chole von Canning Tols Klan von den Kron T`Lan, einen T`lan Imass und Gestaltwandler, der sich Kruppe als der Weiße Fuchs vorstellt. Kruppe will von ihm wissen, warum der T`Lan Imass gekommen ist. Der weiß es aber selbst nicht, vermutet aber, Kruppe habe ihn gerufen und fühlt sich geehrt, sich in Kruppes Traum manifestieren zu können. Die nächste Person, die an Kruppes magisches Feuer tritt, ist eine hochschwangere Rhivi. Mit den beiden Gästen an Kruppes Feuer sind zwei Kulturen des Kontinents Genabakis repräsentiert, eine bereits vergangene, die andere gegenwärtig. Die T`lan Imass gehören wie die Jaghut zu den vier Gründerrassen und sind unsterblich, während die Rhivi als nomadisierende Hirtenkultur auf den Ebenen von Zentral-Genabackis leben. Gemeinsam wollen sie die in der primären Welt der Gegenwart Genabackis gestorbene Zauberin Flickenseel wiederbeleben, was ihnen in einem Ritual der Seelenwanderung schließlich auch gelingt. Die schwangere Rhivi-Frau, auf die Kruppe und Pran Chole, der T´lan Imass, bereits warten, spricht beide mit den Worten an:

T`lan, sagt sie, das Tellann-Gewirr der Imass unserer Zeit hat in einem Zusammenfluss magischer Kräfte ein Kind geboren. Seine Seele wandert verloren umher. Sein Fleisch ist Gegenstand des Abscheus. Es muss eine Seelenwanderung stattfinden.25

Wieder mischt sich ein Gott in die Welt der Sterblichen ein und erscheint in Kruppes Traum. Wieder ist es K`rul, der Gott der älteren Zeit, der behauptet, vom vergossenen Blut auf seinem geweihten Stein geweckt worden zu sein. Er habe Flickenseel nach ihrem magischen Feuerkampf durch das Tellann-Gewirr begleitet. Nun will er ihr helfen, wieder in eine leiblich-körperliche Existenz zurückzukehren. Dazu, fährt er fort, sei ein Ritual der Seelenwanderung zu vollziehen, für das dieser Gott Kruppes Traum als Durchgang für Flickenseel benutzen will. Kruppes Traum dient diesen fantastischen Gestalten, die sich, von Kruppe uneingeladen, in seinem Traum um ein Feuer versammelt haben, als Übergang zwischen den Sphären oder Welten, die durch die einzelnen Gewirre verbunden sind. Kruppe träumt dieses Portal26 und indem er es träumt, öffnet es sich und es geschehen Dinge, die auf Kruppes Träume als Mediator angewiesen. Er [K`rul] entschuldigt sich bei dir, dass er die Welt in deinen Träumen benutzt.27 Traumportale können nur die älteren Götter als Übergänge benutzen, den jüngeren Göttern ist dieser Weg verschlossen. Kruppe, eröffnet die Rhivi-Frau den Leser*innen, besitzt eine besondere Fähigkeit, die ihn als Werkzeug der älteren Götter geeignet macht: Es muss [ihm] irgendwie gelungen sein, [seine] Seele gegen sie [die jüngeren Götter] immun zu machen.28 Diese Bemerkung ist interessant, erklärt sie doch, was Kruppe befähigt, gegen Götter anzutreten und ihnen auf prometheische Weise die Stirn zu bieten.
Kruppe holt Flickenseel, deren Seele nach ihrem Feuerkampf mit dem Hohemagier Bellurdan in den toten Körper von Nachtforst, der toten Gefährtin des Thelomen, geflüchtet ist, in den Kreis des Feuers, wo die alte Magie des Rituals der Seelenwanderung unter einem vollen Mond zelebriert wird. Nach ihrem Tod verweilte Flickenseel zwischen den Welten, in einem Körper gefangen, der nicht ihr eigener ist, stablisiert von ihrem Gewirr, das in ein noch älteres Gewirr eingebettet ist. Während K`rul sie auf diesem Weg begleitet, ist es an Kruppe, sie in seinem Traum willkommen zu heißen. Zurück am Feuer, begrüßt die Rhivi-Frau Flickenseel, die sie an ihrem Gewirr erkennt, mit den Worten: Dein Name ist Flickenseel, deine Zauberei ist Thyr. Das Gewirr fließt nun in dir, es belebt dich, es beschützt dich [...]. Es ist an der Zeit, dich zurück in die Welt zu bringen.29 Das Portal, das sich in Kruppes Traum geöffnet hat, führt in ein chaotisch mannigfaltiges Kontinuum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft undifferenziert vorhanden sind: der T`lan Imass repräsentiert die Vergangenheit, Flickenseel selbst die Gegenwart und die Rhivi die Zukunft. Durch die besonderen Umstände ihrer Geburt, ihre merkwürdigen Eltern, wird das neugeborene Kind Flickenseel an allen drei Zeiten Anteil haben. Der T`lan Imass, Pran Chole, begrüßt Flickenseel, die mit Kruppe an das Feuer getreten ist, dann auch entsprechend:

In dir ist Vergangenheit, sagte Pran. Meine Welt. Du kennst die Gegenwart, und die Rhivi bietet dir die Zukunft. An diesem Ort vermischt sich alles. Das Fleisch, das du trägst, ist in einen Zauber des Bewahrens gehüllt, und im Augenblick deines Todes hast du dein Gewirr innerhalb des Einflusses von Tellann geöffnet. Jetzt wandelst du in den Träumen eines Sterblichen. Kruppe ist das Gefäß der Veränderung.30

In einem Vollmondritual, unter der Aufsicht von K`rul, vollziehen die Rhivi-Frau und der T`lan Imass ein Ritual der Seelenwanderung, die Wiedergeburt von Flickenseel, um sie aus Kruppes Träumen in die gegenwärtige Realität zu entlassen. Die Schwangerschaft der Rhivi-Frau ist eine für Flickenseels Geburt magisch vorbereitete. Der T`lan Imass unterstützt den Geburts-Seelenübertragungsprozess mit seinen magischen Kräften, sodass beide bei der Wiedergeburt von Flickenseel als Gestaltwandlerin zusammenarbeiten. In einer Zauberei, die zum Mond gehört, übertragen sie die Seele von Flickenseel, die in dem verwüsteten Körper von Nachtfrost verweilte, in das noch ungeborene Pseudo-Kind der Rhivi-Frau, das nach den Worten von K`rul kein wirkliches Kind ist. Die Rhivi-Frau, erklärt K`rul, ist für dieses Ritual auf eine Weise vorbereitet worden, die kein Mann je kennen lernen wird:

Das Kind,das hier geboren wird, wird anders sein als alle anderen Kinder. Sein Leben ist ein Geheimns, Kruppe.
Kruppe grunzte: „Wenn man ihre Eltern bedenkt, dann wird sie in der Tat außergewöhnlich sein.“
[...] Das Kind hat mir [dem T`lan Imass] in einer Weise Macht entzogen, die ich nicht kontrollieren konnte.31

Flickenseel hat ihre feurige Auseinandersetzung mit Bellurdan nur deshalb überlebt, weil sie sich im letzten Moment in ein Portal-Gewirr gerettet hat, das älter und mächtiger ist, als die rezenten Gewirre, mit deren Hilfe sich die Zauberer bewegen. Die Existenz von Flickenseels Seele in dem Tellann-Gewirr der T`lan Imass verursachte die Öffnung dieses besonderen Portals in Kruppes Traum, wo die drei Personen, die die drei Zeitqualitäten repräsentieren, unter der Supervison des alten Gottes K`rul, das Ritual der Seelenwanderung zelebrieren. Nur K`rul ist dazu in der Lage, Flickenseels Seele duch die Welten zu geleiten, da er der Gott der Pfade ist, die die Gewirre sind und immer schon waren.
In Kruppes drittem Traum wird nicht nur die Wiedergeburt Flickenseels als Gestaltwandlerin vollzogen, die später den Namen Silberfuchs tragen wird. Auf seinem Weg nach Darujhistan trifft Hauptmann Paran auf eine Gruppe Rhivi-Nomaden, bei denen ein Kind lebt, in dem er glaubt, Flickenseel wiederzuerkennen. Was von Flickenseels ehemaliger Persönlichkeit nach diesem Ritual übrigbleibt, woran sie sich aus ihrem früheren Leben erinnern wird, weiß nicht einmal K`rul zu sagen. Das Rhivi-Kind, das einst Flickenseel war, erkennt Paran jedenfalls nicht. Sie wird mit einer anderen Identität geboren. Dies zeigt sich an einzelnen Details der Geburt: Die Rhivi-Frau bringt ein Kind mit einem silbernen Pelz zur Welt, Merkmal des Gestaltwandelns, das sich unmittelbar nach der Geburt häutet. Gleichzeitig verschwindet die weiße Fuchs-Tätowierung auf dem Bauch der Frau, geht auf Flickenseel über und bestimmt ihr Tier, ihren Hilfsgeist, und ist Anlass für Flickenseels neuen Namen Silberfuchs und ihre neue Identität als Gestaltwandlerin.
K`rul offenbart noch eine weitere Prophezeiung, die den T`Lan Imass Pran Chole betrifft. Sowie Flickenseels Identität nach diesem Ritual eine andere geworden ist, und sie in eine andere Zeit, nicht Epoche und Kultur, wiedergeboren wird, so wird auch Pran Chole nach diesem Ritual nicht mehr derselbe bleiben: Der T`Lan Imass, aus einer Zeit vor dreihunderttausend Jahren, so prophezeit K`rul in Kruppes Traum, der natürlich Zeuge dieser Vorhersage ist, wird in der Gegenwart des Rhivi-Kindes Silberfuchs wiederkehren:

Das wirst du,“ sagte K`rul mit gesenkter Stimme, „aber nicht als T`Lan, sondern als Knochenwerfer der T`Lan Imass.
Pran stieß zischend die Luft durch die Zähne aus.
Wann?“, fragte er.
In dreihunderttausend Jahren, Pran Chole von Canning Tols Clan.“32

Der vierte Traum33

Seinen vierten Traum träumt Kruppe schon kurze Zeit später im Dreizehnten Kapitel des Romans. Dieser Traum, der eine Vision und keine Prophezeiung ist, ist zu komplex, um ihn in diesem Rahmen angemessen zu behandeln. Wieder begegnet er dem Älteren Gott K`rul, der an dem Feuer in seinem Traum sitzt. Kruppe hört das Geräusch einer vorbeifahrenden Kutsche, das Rasseln von Ketten und Stöhnen von Sklaven. K`rul, den Kruppe nach der Bedeutung dieser Geräusche fragt, sagt ihm, dass dies ein Schwert und der Schwertträger bereits unter ihnen sei.
Das Schwert Dragnipur, das Kruppe vorbeiziehen hört, ist das große Zweihandschwert, dass dem Fürst von Mondbrut gehört. Von der Klinge, heißt es im Roman, blutet Macht, die die Luft beschmutzt wie schwarze Tinte einen Teich. Der Anblick des Schwertes lässt den Alchemisten Baruk, den Führer des T`orrud-Zirkels in Darujhistan, taumeln. In einer spontanen Vision sieht er kurz eine gähnende, ausgedehnte Dunkelheit vor sich, kalt wie das Herz eines Gletschers, aus der der Gestank des Alters und schwach stöhnende Laute strömen. Nur wenig später im Roman berührt Hauptmann Paran einen toten Schattenhund. Als er zufällig mit dessen Blut in Kontakt kommt, gerät er in visionärer Schau in das Innere von Dragnipur, dem Schwarzen Schwert der Dunkelheit, dessen Kruppe in seinem Traum ansichtig wurde. K`rul offenbart Kruppe auch, dass die Elite der Magier in Darujhistan, der T`orudd-Zirkel, ein Bündnis mit diesem Schwertträger schließen wird. Der Gott eröffnet ihm weiter, dass er von dessen Führer in die Gadrobi-Hügel geschickt wird, wo er sich vor dem Wirken der älteren Magie der T`Lan Imass (Tellann) und der Jaghut (Omtose Phellack) hüten soll, die dort aktiviert werden wird. Und K`rul erinnert ihn erneut daran, auf den Träger der Münze zu achten, da diesem Gefahr drohe.

Der fünfte Traum34

Im Zweiundzwanzigsten Kapitel träumt Kruppes seinen fünften Traum. Kruppes letzter Traum in Die Gärten des Mondes ähnelt seinem vierten Traum. Er integriert sich so nahtlos in die Romanhandlung, dass er nicht unmittelbar als Traum erkennbar ist.
Mandata Lorn und ihr Begleiter, der T`Lan Imass Tool, haben den magisch gefesselten Jaghut-Tyrannen aus seinem Grab in den Gadrobi-Hügeln befreit. Drachen versuchen Raest, den befreiten Jaghut-Tyrann, aufzuhalten, scheitern aber an dieser Aufgabe. Unter dem gewaltigen Lärm eines Kampfes, der mit magischen Mitteln ausgetragen wird, bewegt sich der Jaghut ungehindert auf die Stadt Darujhistan zu, ohne dass dort besondere Verteidigungsmaßnahmen getroffen werden. Auf seinem Weg nach Darujhistan wird Raest, der Jaghut-Tyrann, ohne dass er sich dessen bewusst ist, in einen Traum Kruppes hineingezogen. Dort erwarten ihn außer Kruppe bereits der T`lan Imass Tool und der Gott K`rul. Kruppe und K`rul konfrontieren und provozieren den Tyrannen, trachten danach ihn abzulenken, während der T`Lan Imass versucht ihn mit seinem Feuersteinschwert zu erschlagen. Dies misslingt ihnen aber, und Raest, der in den Körper des Hohepriesters Mammot flüchtet, erscheint panikverbreitend auf dem Fest der Lady Simtal. Der von dem Jaghut besessene Mammot greift Paran an, da dieser ihn daran hindert, den Finnest zurückzubekommen, den Samen, in den seine vollständige Macht konserviert wurde. Die magische Macht des Schnellen Bens, eines Magiers aus dem Lager der Imperatrix, öffnet sieben Gewirre, greift damit Mammot an und bringt damit den Angriff des Jaghut-Tyrannen zum Stillstand.
Nichts führt in Kruppes fünften Traum ein. Ehe sich die Leser*innen versehen, befindet sich Kruppe in seinem Traum, ohne vorauszuahnen, dass dies passieren wird. Und so ergeht es auch dem erwachten Jaghut-Tyrannen, der gerade die Drachen besiegt hat, und nun glaubt, ungehindert nach Darujhistan vorzudringen. Großzügig will er der roten Drachin Silanah das Leben schenken. Noch während er auf sie zugeht, und sie zur Flucht auffordert, stellt er fest, dass ihr Gewirr verschwunden ist. Überrascht bemerkt er, dass auch die Stadt am Horizont nicht mehr da ist, und sich die Landschaft verändert hat. An den Bergen, die noch nicht von Gletscherströmen abgehobelt sind, stellt Raest fest, dass er in eine frühere Zeit geraten ist:

Dies ist eine Vision aus der Zeit der Älteren. Eine Vision noch aus der Zeit noch vor den Jaghut. Wer hat mich hierher gelockt?35

Es ist K`ruls Werk, dass sich der Jaghut, zuerst noch ahnungslos, in einem von Kruppes Träumen wiederfindet, über deren Ort und Zeit der Ältere Gott entscheidet. Dass sich etwas in seiner realen Wahrnehmung verändert hat, bemerkt der Jaghut daran, dass das Gewirr des Drachen Silanah Rotschwinge verschwunden ist. Er nimmt diese Veränderung mit der Überheblichkeit eines Despoten selbst dann noch hin, als ihm eröffnet wird, er sei schändlicherweise in den Traum eines Sterblichen eingedrungen.

Raest lachte.Ich bin schon früher durch die Träume Sterblicher geschritten. Du glaubst, du bist hier der Herr, aber da irrst du dich.“36

Dieser fünfte Traum Kruppes ist anders, als die vorausgegangenen. Es handelt sich nicht mehr um einen prophetischen Traum, sondern wird erzählt wie andere aktiongeladenen Ereignisse der Erzählung. Allein die Art, wie Erikson diesen Traum in die Erzählung einfügt, ist auffällig anders. Wie der Jaghut, so stolpern auch die Leser*innen unvorbereitet in Kruppes fünften Traum, der eine Falle für den Jaghut darstellt. K`rul hat schon in Kruppes zweitem Traum festgehalten, dass er den Jaghut-Tyrannen letztlich nicht besiegen kann, was dann auch weder ihm noch dem T`Lan Imass gelingt, ganz zu schweigen von träumenden Kruppe, der nur als Mediator anwesend ist. Ohne Kruppe geht es nicht, das wissen wir bereits aus seinem dritten Traum, da er immun gegen die Jüngeren Götter ist, die nicht fähig sind, sich in seine Träume einzumischen. Die Vernichtung des Jaghut-Tyrannen, das hat K`rul Kruppe in seinem zweiten Traum erklärt, gelingt nur einem Sterblichen. Damals Kruppe ahnte noch nicht, dass einer seiner Träume auch beim ersten Schritt der Vernichtung des Jaghut-Tyrannen eine zentrale Rolle spielen wird.

Ein träumender Prometheus

Karl Marx hielt Prometheus für den vornehmsten Heiligen und Märtyrer des philosophischen Kalenders. Nach Eriksons Gärten des Mondes muss er sich diesen Platz nun mit Kruppe teilen. Wie Prometheus besitzt Kruppe Vorauswissen, was der Name des Prometheus aussagt, und weiß wie dieser von Ereignissen vor ihrem Eintritt. Seine Träume verwirklichen sich im Anschluss in der primären Realität von Malaz-Genabackis und verändern den Verlauf der Ereignisse. Wie der Titan Prometheus weiß Kruppe voraus, besitzt ein Vorwissen, das sich in seinen Träumen realisiert. Kruppes Träume werden immer wahr. Er träumt von kommenden Ereignissen, bevor diese eintreten oder einer seiner Mit-Protagonisten etwas von ihnen ahnt. Kruppe weiß diese Dinge im Voraus, da ihm K`rul, der Gott der Pfade und Gewirre, hilfreich zur Seite steht. K`rul, einer der älteren Götter und Gegenspieler in den politischen Machtspielen und Intrigen der jüngeren Götter, ist diesen gegenübergestellt, wie das Unbewusste dem Bewusstsein. Nur mit seiner Hilfe sieht Kruppe Ereignisse voraus, die dann auf die von ihm geträumte Weise eintreten. Kruppe ist immer einen Schritt voraus: Er weiß besser, er versteht besser und kann deshalb soziale und politische Prozesse magisch, also besser, steuern.
Prometheus gehört zu den philantropischen Göttern. Wie Prometheus hat sich auch Kruppe ungebührlich dem menschlichen Schicksal verschrieben (Traum Eins) und lehnt sich gegen Götter auf (Traum Vier und Fünf). Wie Prometheus ist Kruppe ein Menschenfreundlicher. Beider Biographie handelt von der Bevorzugung des Menschen vor den Göttern. In der Theogonie überliefert Hesiod die Genealogie des Titanensohnes Prometheus, den er als verschlagen und listig charakterisiert, ein Hinweis auf das durch Verstand und Denken gekennzeichnete Wesen des Titanen:

Iapetos führte die schönfüßige Okeanostochter
Klymene heim und bestieg mit ihr das gemeinsame Lager.
Sie gebar ihm Atlas, einen unerschrockenen Knaben.
Sie gebar ihm auch den hochberühmten Menoitios und den Prometheus,
den verschlagenen und listigen, und den fehldenkenden Epimetheus,
der von Anfang an ein Übel war für den arbeitssamen Menschen.
37

Verschlagen und listig schildert Steven Erikson auch Kruppe, als subversiv und weise bezeichnet er ihn in dem zitierten Interview. Wie Prometheus nimmt auch Kruppe, den Menschen zu liebe, die Herausforderung des Spiels der Götter an. Prometheus fordert Zeus heraus, er allein steht dem Gott gegenüber und scheitert. Kruppe integriert mit Hilfe des älteren Gotts K`rul gegen die jüngeren Götter.
Kruppe steht in einer besonderen Beziehung zu den Göttern des Malaz-Imperiums. Die Rhivi-Frau in seinem dritten Traum weist ihn darauf hin, dass er eine besondere Fähigkeit besitzt: Ihm ist es irgendwie gelungen, erklärt sie ihm, seine Seele gegen die Machtspiele und Manipulationen der jüngeren Götter immun zu machen. Dieser Immunität, dem prometheischen Impuls, wohnt eine Widerstandskraft inne, ermöglichte es auch dem griechischen Prometheus, gegen Zeus anzutreten. Wie Prometheus Zeus, bietet Kruppe dem Jaghut-Tyrannen, den Oponn-Zwillingen, Anomander Rake sowie Schattenthron und seinem Assassinen, Cotillion, die Stirn. Wie Kruppe stellt sich auch Prometheus mehrere Male auf die Seite des Menschen. Mit dem Rohr eines Riesenfenchel entwendete er der Sonne das Feuer und gibt das göttliche Privileg an die Menschen weiter. Ein Sakrileg. Zweimal getäuscht, Opfertrug und Feuerraub, beschließen daraufhin Zeus und die Olympier, die Menschen und Prometheus so zu bestrafen, dass ihnen die neue Fähigkeit des prometheischen Denkens, das das Feuer repräsentiert, ohne Nutzen bleibt.
Kruppes Magie bezieht ihre Energie aus der verwandelnden Kraft des (magischen) Feuers, in dessen Sphäre er in seinen Träumen mit K`rul zusammentrifft. Das Feuer ist das Symbol für alles, was sich rasch wandelt und Ausdruck des Wunsches, die Dinge voranzutreiben. Feuer verbrennt die Zeit und ist Sinnbild des Lebens selbst, dessen Wesen Werden und Vergehen ist. Seit alters her verehren die Menschen das Feuer als eine göttliche Kraft, als Symbol der Lebenskraft, des Willens zur Entfaltung im Gegensatz zum passiven Empfangen, als den göttlichen Funken, der den Menschen inspiriert. Feuer symbolisiert die männliche Kraft, die dazu antreibt zu leben, die Entwicklung inspiriert. Der prometheische Impuls, den auch Kruppe besitzt, dient dem Leben und dem Fortbestand der menschlichen Gemeinschaft. Hierin gleicht Kruppe auch dem Magier des Tarot, ist Ich-Bringer und Entwicklungshelfer des menschlichen Bewusstsein durch seine Realtität verwandelnen Träume. In Kruppes Ich bin! Ich will! drückt die sich seine Haltung als Magier aus. Ein Mensch, ein Mann, der sich seiner selbst bewußt geworden ist, der erkannt hat, dass er in der Welt etwas vollbringen kann, und dass ihm dazu die nötigen Werkzeuge und Instrumente zur Verfügung stehen.
In den Gärten des Mondes ist Kruppe der Demiurg, ein Kulturheros, der über ungewöhnliche, übernatürliche Kräfte verfügt. Als Kulturheros gleicht er dem Trickster, der sich durch seinen ambivalenten Charakter auszeichnet. K`rul hat Kruppe auserwählt, ihn berufen, um außergewöhnliche Taten zu vollbringen. Seine besondere Aufgabe besteht darin, seine Zeitgenossen vor der Willkür der Götter und Aufgestiegenen zu bewahren. Und noch etwas bewirkt Kruppe-Prometheus für den Fortschritt menschlicher Kultur: Wie Prometheus weiß Kruppe um die Relativität der Herrschaft der Götter, um die unabwendbare Abfolge der Epochen. Er weiß, dass jede Ordnung, die nicht die ursprüngliche Ordnung ist, wenn nötig, auch in der Revolte untergehen muss. Dieses Vorauswissen repräsentiert die Revolution des Bewusstseins, die sich für Kruppe in seinen Träumen äußert, die er in seiner Lebenswelt realisiert. Mit seinen in die Realität umgesetzten Träume befreit er Mitmenschen und Zeitgenossen aus ihrer hilflosen Abhängigkeit von göttlicher Willkür. Kruppe weist ihnen einen Weg in die Emanzipation. Sein Wissen um die Relativität des Spiels der Götter motiviert ihn, die Menschen zu überzeugen, sich den Göttern gleichberechtigt gegenüber zu stellen.
Kruppes prometheisches Wesen ist ein umschwungbewirkendes Vorauswissen und intuitive Eingebung. Kruppes Träume und die ihnen inhärenten Innovationen lösen krisenhafte Umbrüche aus, die für Darujhistan und die Götter des Malaz-Imperiums zu unumkehrbaren Umstrukturierungen führen. Immer dann, wenn gesellschaftliche oder religiöse Strukturen zu individuellen Mustern erstarren, die die menschliche Entwicklung hemmen, weist die prometheische Energie durch eine Neuschöpfung von Gestalt und Formzusammenhang neue Wege. In seinen Träumen reagiert Kruppe auf die hoffnungslose Verstrickung der Götter und Menschen um die Vorherrschaft in Darujhistan, auf die Bedrängnisse, die schließlich zur Krise führen. Kruppes Träume verändern die Perspektive auf historische und gesellschaftliche Entwicklungen, auf den Status quo in Malaz-Genebackis. Sie sind, um mit Nietzsche zu sprechen, vom Wahnsinn beleckte Blitze, die schlagartig alles verwandeln können.

Kruppe ist ein prometheischer Rebell, der sich aus Mitgefühl für seine Mitmenschen gegen die Götter und Herrschenden auflehnt. Wie Prometheus nutzt er eine ganz besondere Fähigkeit: die natürliche Begabung für Voraussagen und Vorauswissen, dass ihm in seinen visionären Träumen immer dann zufällt, wenn die narrative Handlung und die Ereignisse in Malaz-Genabackis in eine kritische Phase eintreten. Und natürlich ist Kruppe unübertrefflich darin, [und das ist sein hervorragendes Merkmal] keine Übung zu brauchen – bei nichts und wieder nichts.38
Steven Erikson gönnt Kruppe ein gnädigeres Schicksal als es seinem Seelenverwandten Prometheus widerfuhr. Kruppe endet als Held, als Wohltäter der Menschen in Darujhistan. Seine mutige Leistung, die die eifersüchtigen Götter herausfordert, wird belohnt. Der Jaghut-Tyrann wird besiegt, die Aufgestiegenen und Götter ziehen sich vorläufig zurück. Das ist Kruppe, ein ambivalenter Hauptprotagonist und erklärter Star in Steven Eriksons Gärten des Mondes.

Anmerkungen

1 Alle Zitate nach Erikson, Die Gärten des Mondes sowie unter Verwendung der The Encyclopedia Malazica. Im folgenden beispielsweise zitiert als GdM, 2.5, 200 = Gärten des Mondes, 2.Buch, Kap.5:200.
Hier zitiert nach GdM, 2.5:199. Vgl.a. den Beitrag von Neil Walsh auf SF Site.
2 GdM,4.11:399.
3 Steven Erikson, Die Gärten des Mondes, Das Spiel der Götter 1, München, 4.Auflage, 8/2000 [Gardens of the Moon, A Tale of the Malazian, London, 1999].
4 Vgl. Neil Walsh für SF Site.
5 Vgl. Interview with wotmania, 2003.
6 Vgl. Anm.3.
7 GdM, 2.5:200.
8 Die unterschiedlichen, hierarchisch, chronologisch und kulturell geordneten Gewirre bilden das spezifische magische System in S.Eriksons Roman, dessen sich Menschen, Aufgestiegene und Götter bedienen, um ihre gegenseitigen Konflikte zu bewältigen und ihre konkurrierenden Aktivitäten zu kontrollieren. Gewirre ermöglichen ihnen einerseits den Übergang zwischen den Realitäten, andererseits beziehen sie aus den Gewirren magische Energien, die Bestandteil ihrer personalisierten Magien sind (vgl. Herbert W. Jardner, Portale, Übergänge, Gewirre. Erster Kommentar zu Steven Erikson Die Gärten des Mondes).
9 GdM, 2.5:200.
10 GdM, 2.6: 247.
11 GdM, 2.5, EB:199 und GdM, 5.14:503.
12 GdM, 2.5:199-206.
13 Oponn ist einer der jüngeren Götter, der zweigesichtige Narr des Zufalls, ambivalent und androgyn, eine Tricksterfigur. Seine Münze spielt eine ausschlaggebende Rolle für die Ereignisse der Erzählung, die ich nicht vorwegnehmen will.
14 GdM, 1.2:111-112.
15 GdM, 1.2:113.
16 GdM, 2.5:200.
17 GdM, 2.5:203.
18 GdM, 2.5:206.
19 GdM, 2.7:253-256.
20 GdM, 2.7:255.
21 GdM, 2.7:256.
22 GdM, 4.11:400-408.
23 GdM, 4.11:400.
24 GdM, 4.11:400.
25 GdM, 4.11:402.
26 Vgl. meinen Essay Portale, Übergänge und Gewirre. Ein Kommentar zu S.Erikson Die Gärten des Mondes in diesem Blog, wo ich die Funktion dieses Motivs in seinem narrativen Kontext analysiere.
27 GdM, 4.11:403.
28 GdM, 4.11:403.
29 GdM, 4.11:405.
30 GdM. 4.11:405. 31 GdM, 4.11:407. 32 GdM, 4.11:408. 33 GdM, 4.13: 498-499. 34 GdM, 7.22:709-712.
35 GdM, 7.22:709.
36 GdM, 7.22:710.
37 Hesiod, Theogonie, Verse 507-512, St. Augustin, 1990:87.
38 GdM, 2.7:253.

Copyright 2014-2923. All Rights Reserved

Kruppes Träume ist urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalt dürfen nicht kopiert und nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte gewerbliche Nutzung ist untersagt.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen