Sonntag, 8. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Zwei


Waren fast vergessen,
hätten auch vergessen bleiben sollen.
Die sind kein gutes Zeichen.

E.L. Greiff

Psychic Birds

Die Frage, ob Tiere ein Bewusstsein haben, ist vermutlich so alt wie die Domestizierung des Wolfs durch den Menschen im Paläolithikum. Postmoderne Fantasy-Erzähler thematisieren diese Frage auf ihre Weise, indem sie die Beziehung ihrer Hauptfiguren zu Vögeln in den größeren Zusammenhang ihrer Beziehung zu ihrer natürlichen Umwelt und ihrem kulturellen Überzeugungssystem stellen.
Nicht die dreiäugige Krähe des Grünsehers in G.R.R. Martins Romanzyklus Das Lied von Eis und Feuer markiert den Übergang in der Verwendung der Corviden (Corvidae). Sie entwickeln sich bereits im Verlauf von seines Epos von einem Omenvogel zu einem Vogel, der eine innige Beziehung zu einem Menschen eingeht. Dabei ändert er nicht seine bisherige Funktion für den Menschen, er öffnet ihm vielmehr die Augen für sein eigentliches Potential. Doch trotz anfänglicher Ähnlichkeit erweitert Martin den Vogeltopos im Lied von Eis und Feuer erst allmählich, was mit der Rolle zusammenhängt, die Magie in seiner Erzählung spielt.
Schon im ersten Band ihrer Weitseher-Trilogie thematisiert Robin Hobb die intime Verbindung zwischen Mensch und Tier. Ihr Protagonist Fitz Chivalric partizipiert an der Alten Macht, einer als unrein angesehenen magischen Kompetenz, die es Fitz ermöglicht, sein eigenes mit dem Bewusstsein eines bestimmten Tiers kommunikativ zu verbinden. Die Geschichte einer telepathischen Beziehung zwischen Mensch und Tier entspricht der archaischen Überzeugung des Gestaltwandels und findet sich bereits in der griechischen und germanischen Mythologie. In der altnordischen Völsunga saga führen Sigmundr und sein Sohn Sinfjötli eine Zeitlang das Leben von Wölfen in den Wäldern. In der zweiten Weitseher-Chronik leitet Robin Hobb das dritte Kapitel mit einem einführenden Peritext ein, der aus der fiktiv-wissenschaftlichen Schrift Krankheiten und Malaisen eines gewissen Sarcogin zitiert:

Obwohl es heißt, sie [die Alte Macht] stamme von den Tieren, gibt es andere Wege, sich mit dieser gemeinen Magie zu besudeln. Kluge Eltern werden ihrem Kind nicht erlauben, mit Welpen von Hund und Katze zu spielen, die noch bei der Mutter trinken, noch gestatten, dass sie schlafen, wo ein Tier sein Lager hat. Eines Kindes schlafender Sinn ist besonders wehrlos gegenüber den ihn bedrängenden Träumen von Tieren, und daher ist es in Gefahr, die Sprache eines Tieres zur Sprache seines Herzens zu machen.35

Wie der Mensch sind die Tiere in den beiden Weitseher-Chroniken Bewusstseinshaber, deren Gedanken und Gefühle das Bewusstsein der Menschen, die ihnen zu nahe kommen, erreichen, negativ aufgefasst wie in dem Zitat: infizieren können.
Nach G.R.R. Martin verwenden auch E.L. Greiff und Brandon Sanderson den Vogeltopos in zwei neueren Fantasy-Erzähltexten. In der noch unvollendeten Roman-Trilogie Zwölf Wasser36 sowie einer neuen Cosmere-Novelle Sandersons, Sixth of the Dusk37 sind Vögel nicht nur, und nicht länger, nur Omenvögel. Sie übernehmen die Rolle eines Hilfsgeistes wie in den schamanistischen Überzeugungssystemen: Sie sind Psychic Birds.38 Mit dieser Vorstellung (und der Funktion) von „psychischen Vögel“ beschäftigt sich der zweite Teil meiner Studie anhand von drei besonderen Vögel: dem Falken Juhut in E.L. Greiffs Trilogie sowie den fantastischen Vögeln Kokerlii und Sak, die sich einer ornithologischen Kategorie entziehen, und von B. Sanderson schlicht Aviare genannt werden. Bei diesen dreien handelt es sich um Vögel, zu denen ihre Besitzer Beziehungen wie zu einer Partialseele, einer eigenen externalisierten psychischen Instanz pflegen.

Badak-An-Bughar Bator, kurz Babu genannt, ist ein junger Hirte, der in der Abenddämmerung seiner Welt lebt.39 Im Langen Tal der Merz vernichten Wühlhasen die Weidegründe der Viehherden. Die dort beheimateten Merzer beauftragen daraufhin drei Fremde, die mit ihren Falken der Hasenplage ein Ende setzen sollen. Babu sieht die Vögel, die von nun an sein weiteres Schicksal bestimmen werden, zum ersten Mal, als die Falkner mit ihnen auf der Hand von Bord gehen. Die Schaulustigen an der Mole nehmen die Falken, wie ihre schwarzen Brüder, als Omenvögel wahr, deren Ankunft nichts Gutes verheißt:

Große, gelbe Klauen krallten sich in schwarze Lederhandschuhe. Verborgen unter Hauben drehten sich die Köpfe der Vögel ruckartig, sie überragten die Träger und es wirkte, als führten die Vögel die Menschen und nicht umgekehrt. »Sazlas. Falken der Alten Zeit. Kommen aus dem Süden, sagt man, wissen tut man´s nicht. Waren fast vergessen, hätten auch vergessen bleiben sollen. Die sind kein gutes Zeichen.«40

Die Ankunft der Szasla in der Welt ist so ungewöhnlich, dass selbst Wissende davon überrascht werden: »Das ist doch ein Mythos!«,41 ruft eine Astrologin aus, immerhin eine gelehrte Frau. In der großen Halle seines Onkels trifft Babu die drei Falkner wieder. Sie erklären ihm, einer ihrer Szasla habe ihn erwählt. Sie schenken ihm ein Ei dieser Szasla, und unterweisen ihn weiter, was er tun muss, damit der Vogel schlüpfen kann:

»Szasla wünscht, jungem Herr ein Geschenk zu geben«, sagte der Falkner Asshan und wandte sich Babu zu, dem mulmig wurde, als der Falke langsam den Kopf drehte und ihn auf Vogelart mit nur einem gelben Auge fixierte. »Eine große Ehre und große Verantwortung«, haspelte sich der Falkner weiter durch die fremde Sprache, »aber will es so.« [...] Ein kleines, bunt gesprenkelte Ei kam zum Vorschein. [...] Noch bevor er wusste, was er eigentlich tat und welche Folgen es haben würde, wickelte Babu das Ei wieder ein und steckte es vorsichtig unter seine Weste. Er war wie gebannt vom Blick des großen Vogels, der ihm bis in die Seele zu schauen schien.42

Nur diese eine bannende Begegnung, in der Babu das Ei entgegennimmt, ist entscheidend für sein weiteres Leben. Babu ist noch unbewusst für die großen Zusammenhänge und Erfordernisse der Zeit, in der er lebt. Ahnungslos hütet er seine Herden. Auf die Berufung durch die Szasla hat er keinen Einfluss. Babu ist dem Einfluss des Vogels ohnmächtig ausgeliefert, dem er als unfreiwilliges Gefäß dient: dafür spricht von Anfang an manches. Vom Erzähler hört der Leser, dass der Vogel einen Sprecher benötigt, durch dessen Mund er seine Botschaft verkünden und seine Aufgabe für die Menschheit erfüllen kann. Der Vogel beginnt Babu zu manipulieren, indem er in dessen Bewusstsein eingreift. Dieses Merkmal unterscheidet die Szasla von der einseitigen Verkündigungsfunktion des Omenvogels, bindet ihn aber noch viel enger an einen Menschen, als der Rabe des Dunklen Herrschers an diesen gebunden ist. Nur die Vorzeichen haben sich gewandelt: Der Vogel hat seine düstere, unheimliche Kutte gegen ein lichtes leichtes Federkleid eingetauscht. Durch den Wechsel im Vogeltopos schafft das Böse dem Guten Raum.
Und so empfindet Babu seine erste Begegnung mit der Szasla als verstörend, als einen Blick, tief in seine Seele. Als er Asshans Szasla, noch bevor das Ei ausgebrütet ist, zum zweiten Mal begegnet, kann er die Stimme des Vogels schon wie eine akustische Halluzination in seinem Kopf hören. Babu sträubt sich spontan gegen diese unheimliche, unnatürliche In-Besitz-Nahme, kann die Gedankenübertragung durch die Szasla aber nicht abwehren, und fühlt sich berechtigt vergewaltigt:

Babu fuhr zusammen, stöhnte vor Schreck auf. Es war nicht einfach eine Stimme in seinem Kopf. Er hörte wirklich. Er drehte etwas den Kopf. Ganz eindeutig, die Worte, rau, aber deutlich, kamen aus der Richtung jenes Falkenweibchens. Sie bewegte sich nicht, aber sie sprach: »Du fragst dich. Warum. Du kennst nicht die Vergangenheit und weißt nicht, was die Zukunft ist. Ich bin Auge und Ohr. Ich sehe dich durch das Gras fliegen. Ich sehe Bewegung ohne Ziel, Jäger ohne Beute. Ich höre deinen Atem und dein Herz spricht: Hunger.«

Eine irritierende Prophezeiung, die diese Szasla Babu einpflanzt, und die er auch am Ende des zweiten Bandes der Trilogie noch nicht verstanden hat. Babu spürt die Berührung der Szasla psychisch, in seinem Bewusstsein, hört er nicht nur die Gedanken des Vogels als fremd in sich, er bemerkt auch, dass der Falke seine Bedürfnisse und Wünsche registriert und ihn durchschaut. Die Szasla spiegelt ihm seine Motivationen und Befindlichkeiten, seine Ziele für seine Zukunft. Während die Szasla ihre Gedanken in den jungen Hirten einpflanzt, verändert sich Babus Wahrnehmung von seiner Umgebung; sie erscheint ihm plötzlich ohne Konturen und schattenhaft, eingetaucht in etwas Unwirklichem. Seine Umgebung wird im Schatten undeutlich und nur der Falke hebt sich als scharfer Kontrast von der seltsamen Unschärfe ab, und füllt Babus Blick völlig aus. Er sieht nur noch die Szasla, die in dieser Szene zu seiner einzigen Wirklichkeit wird, und die ihm sein kommendes Schicksal prophezeit, das er mit der Annahme des Ei-Geschenks des Falken selbst entschieden hat:

»Nicht lange mehr, und dein zweites Herz wird das erste nähren. Das eine so groß wie das andere, beide schlagen gleich. Der Hirte wird die Spur finden, der Jäger wird der Beute folgen bis zum Ende, wo der Kreis sich schließt.«43

In dieser Atmosphäre gefangen, gibt Babu dem ungeborenen Falken einen Namen: Juhut-ras, zweites Herz. Asshan, durch seine eigene Szasla Zeuge der stillen Zwiesprache Babus mit dem Vogel, begrüßt die Namengebung: »Der Name ist das Tor, durch das er kommen kann, jederzeit.« Von nun an ist Babu ein Szasran, der Träger einer Szasla, mit der er psychisch verbunden ist, denn das zweite Herz wird das erste nähren, lautet die Ankündigung dieser unlösbaren Bindung. Erst sehr viel später erfahren die Leser*innen, dass es mit dem Erscheinen der Szaslas eine besondere Bewandtnis hat, von der auch Babu zuerst nichts weiß, und die von seinen Mitmenschen bei der Ankunft der Falkner als schlechtes Omen gedeutet wird: Die Szaslas sind erwacht und fliegen wieder. Ihr Flug verkündet das Ende eines Zeitalters, denn die Szaslas sind keine natürlichen Vögel. Sie stammen nicht aus Babus Welt, und auch nicht seiner Zeit. Sie kommen aus

Wiatraïn, aus der Stadt im Wind, der Stadt über den Wolken. Sie sind nicht eingebunden in den Kreislauf [von Zeit und Raum], sie fliegen einfach darüber hinweg, sie folgen den Wegen des Windes.

Im zweiten Band der Zwölf Wasser berichtet der Erzähler von einer weiteren Szasla, die eng mit der Psyche ihres Trägers verbunden ist, und die, wie die Rabenvögel, oberflächlich nur den Topos des Omenvogels repräsentiert. Eine Szasla aus Wiatraïn, weitaus düsterer als Juhut-ras, die auf der Schulter ihres Szasran landet, verkündet durch dessen Mund ihre düstere Prophezeiung, die im Bewusstsein der Anwesenden widerhallt, und die für Babus weitere Queste von entscheidender Bedeutung ist:

Die großen Klauen gruben sich in die schmalen Schultern des Läufers – einen Augenblick sah es so aus, als wolle der riesige Vogel den Mann wie eine Beute packen und hochzerren. Aber der Falke landete nur auf dem sich mühsam wieder aufrichtenden Mann. Wie schwer mochte dieser große Vogel sein? Der Läufer ließ den Arm sinken, legte den Kopf in den Nacken. Sein Gesicht verschwand fast ganz im Brustgefieder der Szasla, die ihre Schwingen bloß halb anlegte, sodass es aussah, als wolle sie den Mann unter sich beschützen. [...] Kersted hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn die Szasla begann durch ihren Szasran zu sprechen:
[...] Obwohl Kersted die Stimme, die in ihrer hellen Klarheit weder zu dem Läufer noch zu dem großen Vogel passte, in seinem Inneren gehört hatte, [...].44

Das archische Ritual des Sehers. Die Vogelschau der griechischen Antike. Denn Szaslas sind Geschöpfe der Alten Zeit, einer Zeit, die zwar nicht vollkommen war, aber in der die Menschen immer gut und böse erkannten und unterscheiden konnten (... ein Mythos ...).45 Babus Epoche ist degeneriert, erfahren die Leser*innen, so wie ihre eigene. Das Gute wird nur noch als ein Echo aus der Alten Zeit wahrgenommen. Die menschliche Zivilisation ist destruktiv geworden, hat die Beziehung zu ihrer natürlichen Umgebung verloren und ihre Ressourcen fast zerstört. Das Glück scheint verloren und der Zweifel, der mit den Szaslas in die Welt kommt, ist allgegenwärtig. Das Böse hat

[...] sich ein menschliches Antlitz [gegeben]. Das Böse war vom Guten nicht mehr zu unterscheiden. Die Menschheit war noch jung. Aber sie stand bereits vor ihrem Untergang.«46

Die Queste, zu der Babu aufbricht, nachdem die Szasla ihn berufen hat, unterscheidet sich nicht von den zahlreichen Heldenreisen der Mythologie oder der Fantasy-Literatur: Zweck und Ziel ist die Heilung einer bedrohten Welt vor einer finalen Katastrophe, in der die bekannte Zivilisation unterzugehen droht, und die der Protagonist nur mit Hilfe übernatürlicher Helfer verhindern kann. In dieser Situation erwachen die Szaslas in Wiatraïn wieder aus ihrem Schlaf. Sie fliegen über den großen Abgrund, der die Stadt im Wind von der Welt der Menschen trennt, und bringen »[...] etwas Ungeheuerliches und zutiefst Rätselhaftes:

Sie brachten den Menschen ihr Bewusstsein. Mit allen Folgen, die das hatte. Die Menschheit hatte nun die Möglichkeit, zu erkennen und zu entscheiden. Sie konnten sich selbst entscheiden und sie konnten im andern das Gute oder das Böse sehen. Sie hatten die Möglichkeit hinter die Maske zu schauen. Sie konnten zweifeln, ob das, was ihnen vor Augen stand, wahr und wirklich war.«47

Das Geschenk der Szasla bereitet diese Bewusstwerdung vor. Noch steht Babu allein mit dieser gewaltigen Aufgabe, die ihn ängstigt und der er sich zunehmend nicht gewachsen fühlt. Die Queste aber, deren Herausforderungen Babu und die Szasla bewältigen müssen, vertieft das psychische Band zwischen Mensch und Vogel. Babu kann nicht nur die Gedanken des Falken in seinem Kopf hören, er kann auch mit den Augen des Falken sehen, eine Fähigkeit, die auch junge Bran Stark von Winterfell erworben hat:

Er hatte es bereits einmal getan, als sie sich dem Kontinent näherten. Juhut war aufgeflogen und Babu hatte gesagt: »Ich sehe es. Ich sehe Land. Und erst eine ganze Zeit danach hatte sich der Bug des Bootes ins kurze Gras geschoben.48

Der Griff des Vogels nach Babus Bewusstsein ist schmerzhaft und quälend zugleich. Jedes Wort, dass der Vogel durch ihn spricht, verstärkt seine Schmerzen und raubt ihm fast die Sinne. Babu nimmt seinen Prozess der Bewusstwerdung durch die Szasla als einen ihn zermürbenden, physischen Schmerz wahr, den er immer dann besonders stark spürt, wenn die Szasla mit ihm kommuniziert, durch ihn zu sprechen versucht. Der Schmerz, den Babu empfindet, ist eine Reaktion auf den wachsenden Druck der Erkenntnis, die ihm durch die Szasla zuteil wird, die er nicht versteht, da niemand da ist, der ihn anleitet und begleitet. Auch Reva, die weise Frau, die den Mangel und die Verlassenheit Babus in dieser existenziellen Situation erkennt, findet für ihn nur den Rat, dass er, auf sich allein gestellt, hoffen muss. Schließlich entzieht sich Babu dem Schmerz der Bewusstwerdung, und verbietet der Szasla, mit ihm zu reden. Im Verlauf der Erzählung bekommt dieses Verbot für ihn fatale Konsequenzen: Der Vogel verlässt ihn, und zuerst noch vorbewusst, öffnet dieser Verlust und Babus Verweigerung ihn für das Böse.
Für Babu bedeutet die Intensivierung der Kontrolle, die der Vogel über ihn gewinnt, einen psychischen Ausnahmezustand, der sich zunehmend manifestiert. Die Präsenz des Vogels in seinem Bewusstsein spaltet seinen Geist auf verwirrende Weise, führt zu Ich-Störungen und wahnhaften Empfindungen, die sich ihm in symbolisch-halluzinatorischen Bildern aufdrängen. Babu spürt den Zweifel, den die Szasla in ihm weckt, und zweifelt zugleich an seinem Verstand:

Babu fand Gedanken in seinem verstörten Geist, einzelne Strauchbeerenbäume im endlos wogenden Gräsermeer, die Juhut dorthin gepflanzt haben musste. Juhut leitete ihn, führte ihn von Gedanken zu Gedanken, von Baum zu Baum, Juhuts Wille war für Babu jederzeit spürbar. Der Falke traf Entscheidungen. Besonders dann, wenn Babu dazu nicht mehr in der Lage war. [...] Die Jagd war ein allgegenwärtiger Traum gewesen, in dem die Wölfe manchmal auftauchten, manchmal unsichtbar blieben, aber immer da waren. Sie waren halb wirklich, Albtraumgestalten, und Babu hatte oft an seinem Verstand gezweifelt. Dann hatte er sich an Juhuts Willen gehängt und sich von ihm weiterziehen lassen, von Baum zu Baum.49

In einer großen Halle in der Stadt Wiatraïn treffen Babu uns seine Begleiter auf einen Bau mit zahlreichen schlafenden Szaslas: Soweit man sehen konnte, hatten alle Falken, bis auf Juhut die Köpfe nach hinten unter die Flügel gelegt, sie sahen tatsächlich kopflos aus:

»Szaslas. Sie schlafen. Noch fliegen sie nicht. Die Menschheit steht vor ihrem Untergang – und dennoch fliegen sie nicht.
Der Flug der Szaslas ist das untrügliche Zeichen einer Zeitenwende. Auf ihren Schwingen ist die Alte Zeit davongetragen worden und die Zeit der neuen Menschen begann.
[...] Der Menschheit kommt die Menschlichkeit abhanden – und die Sazlas fliegen nicht. Dies könnte eines bedeuten [...] Es könnte bedeuten, dass es bereits zu spät ist.«50

Aber nicht nur, dass die Szaslas schlafen und nicht in die Welt hinaus fliegen, ist ein Novum. Babu ist ein armseeliger Szasran mit einer Szasla, die in seiner Welt geboren wurde. Er entspricht allem anderem, nur nicht den Erwartungen an einen Szasran. Er ist ein Szasran, durch den die Szasla nicht spricht, da er es ihr aus persönlichen Motiven, aus Angst und Schmerz, den dies verursacht, verboten hat, sodass er die Heilung der Welt behindert.51 Babu selbst, nicht ein Vogel, muss die Verantwortung für die Heilung der Welt übernehmen. Lange erschien es dem Leser, als sei Juhut der Retter der Welt und Babu nur sein Werkzeug. Die Entwicklung, die Babu im zweiten Band der Zwölf Wasser macht, zeigt, dass Juhut sein Hilfsgeist ist, der ihn inspiriert, der ihm hilft, schwierige Herausforderungen zu bewältigen. Babu ist nicht der Vogel und wechselt auch nicht die Gestalt mit ihm. In einer schwierigen Initiation widersetzt er sich der von ihm ängstigend empfundenen Kontrolle durch Juhut, was ihn in die tiefe Krise der Kartharsis stürzt, die durch Dissoziation, Depersonalisation und Körperschemastörungen geprägt ist. Er erkennt, dass sein Wille an den Falken gebunden ist, denn sagt:

[...] und nur weil Juhut hier ist, bin ich auch noch hier. Ich fürchte, wenn er aufsteigt, steigt mein Geist mit ihm und mein Körper bleibt zurück.52

In dieser spirituellen Krise verlässt ihn die Szasla vorübergehend, in tiefe Selbstzweifel verstrickt.53 Babu tritt in die liminale Phase der Heldenreise ein, in der er sich als Schwellenwesen zwischen den Verführungen des bösen Feuerdämons Asing und dem lichten Prinzip, das die Szasla und die Quellwächter verkörpern, bewegt. Mehr als einmal erleidet Babu einen Zusammenbruch seiner psychischen Fähigkeiten, dekompensiert, als habe sich das psychische Band zwischen ihm und dem Vogel gelockert, was seine psychische Konstituion in einem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand transformiert, der an die Ekstase des Schamanen oder Drogenkonsumenten erinnert:

Als er sich umdrehte, sah er noch den entrückten Ausdruck in Babus ausgezehrtem Gesicht: der Mund leicht geöffnet, die Augen himmelwärts verdreht, dem Wegfliegenden folgend. Dann schlossen sich die Lider und lautlos, wie trockener Schnee an einem windstillen Morgen, sank babu zu Boden.54

Im zweiten Band der Trilogie, der im Untertitel prrophezeiend In die Abgründe heißt, erreicht Babu den Höhepunkt seiner Initiation Und den Tiefpunkt seines Selbstempfindens: den Abstieg in die Unterwelt, in die Tiefen und Schatten seines eigenen Bewusstseins. Babu muss sich, um nicht auf halbem Weg aufzugeben, aktiv und selbstbewusst dafür entscheiden, den Weg zu gehen, den die Szasla ihm ermöglicht. Er kann aber auch scheitern und dem Bösen verfallen. Babu selbst muss die Verantwortung übernehmen; dabei kann ihm kein Vogel helfen. Doch auch die Szasla ist auf ihren Szasran angewiesen, will sie ihre Aufgabe erfüllen. Sie braucht die psychische Verbindung mit dem Bewusstsein eines Szasran, den (psychischen) Ort der Veränderungen, die die Zeitenwende einleiten soll. Die Initiation und der Individuationsweg des Szasrans sind das Medium der Bewusstwerdung und das Tor, durch das dieses veränderte Bewusstsein die Welt betritt. Juhut-ras, der Name des Vogels als Tor, das zweite Herz, das das erste nährt. Das Zusammenwirken von Szasran und Szasla ist weltenbewegend: wahrhaft eine Zeitenwende, die ein neues Paradigma möglich macht.
Babu begreift nicht, dass ihm der Vogel nicht gehört, und er auch nicht dem Vogel. Er und die Szasla sind frei und unabhängig. Der Vogel sowieso, Babu aber nur, wenn er die Herausforderung der Bewusstseinserweiterung annehmen kann, die ihm die Szasla anbietet. Das psychische Band zwischen Babu und Juhut erweist sich schließlich so stabil, dass Babu glaubt, ohne den Falken nicht länger ganz zu sein, was ihn gleichzeitig ängstigt. Als er mit seinen Begleitern den Abgrund, der sie von der Stadt Wiatraïn trennt, erreichen, fliegt Juhut voraus. Babu hätte sich in seinem Verlustschmerz beinahe in den Abgrund gestürzt: So sehr war er an den Falken gebunden, dass er ihm hinterherfliegen wollte.55 Juhut war inzwischen so sehr ein Teil seines Selbsts geworden, dass ihn nun nicht dessen Anwesenheit, sondern dessen Anwesenheit schmerzt, die er kaum noch ertragen kann. Ohne den Falken, das weiß Babu mit Sicherheit, wird es ihm nicht gelingen, zu überleben: Ohne Juhut war er gescheitert.56 Mit dieser Ambivalenz endet der Erzähler im zweiten Band der Trilogie Zwölf Wasser.57


In Kürze: Omenvögel und Psychic Birds - Teil Drei

Anmerkungen

35 Robin Hobb, Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher, 1: Der lohfarbene Mann, Bergisch Gladbach, 2003:69. 36 E.L. Greiff, Zwölf Wasser, Bd.1: Zu den Anfängen, München, 2012.
37 Brandon Sanderson, Sixth of the Dusk. A Cosmere Novella, 2014 herausgegeben in Dragonsteel Entertainment, Sandersons eigenem Verlag.
38 Den Begriff entnehme ich einer Diskussion zwischen Brandon Sanderson et.al., die in Shadow Beneath veröffentlicht ist, und auf die ich später noch zurückkommen werde.
39 Ich werde auf dieses Detail bei der Interpretation der Sanderson-Novelle ausführlicher zurückkommen.
40 Greiff, Zwölf Wasser, 1:33.
41 Greiff, Zwölf Wasser, 2:147.
42 Greiff, Zwölf Wasser, 1:45-45.
43 Greiff, Zwölf Wasser, 1:57-48.
44 E.L. Greiff, Zwölf Wasser, Bd.2, In die Abgründe, München, 2013:318 (vgl. a. S. 155). Die Prophezeiung der Szasla wurde bewusst ausgelassen, da ihr Inhalt kontextbezogen ist und an dieser Stelle zu viele Erläuterungen notwendig wären. Eine Szasla bringt nicht nur Boteschaften und Prophezeiungen, sie warnt ihren Träger auch vor Gefahren: Ein langgezogener Ruf hallte durch das Tal, dann sah auch Felt den Falken über ihnen. Aber Babus Gesicht hellte sich nicht auf. Statt sich zu freuen, brach der junge Mann zusammen: [...] »Warnung«, presste er hervor. »Gefahr, weg!« (Greiff, Zwölf Wasser, 2:282.).
45 Greiff, Zwölf Wasser, 2:147.
46 Greiff, Zwölf Wasser, 1:500-505.
47 Die Autorin verwendet mit dieser Symbolik das zentrale Motiv der alttestamentlichen Szene im Garten Eden: Evas Versuchung durch die Schlange, der Apfel vom Baum der Erkenntnis und der Sündenfall (Greiff, Zwölf Wasser, 1:505). Erläuterung und Kommentar der christlichen Mythologie und Moraltheologie in Zwölf Wasser, die überall in der Erzählung vorherrschen, ist ein anderes lohnendes Thema, das sich lohnt, zu untersuchen.
48 Greiff, Zwölf Wasser, 2:239.
49 Greiff, Zwölf Wasser, 1:442. Oder wenn Babu seine Seele an das Band zum Falken knüpfte und zu ihm aufsteigen ließ: Waren die Schmerzen überhaupt noch da? [...] War Juhut noch da? [...] Er wollte die Welt vergessen, aber er sehnte sich nach Juhut [...] (Greiff, Zwölf Wasser, 2:357).
50 Greiff, Zwölf Wasser, 1:553.
51 »Dies ist eine Szasla, wie es noch keine gegeben hat [erläutert Babus Begleiterin Reva]. Und du Babu, bist ein Szasran, wie es vor dir noch keinen gegeben hat [...] Nur du wirst uns sagen können, was diese junge weiße Szasla in der Welt will. Ich musste bis nach Wiatraïn kommen, ich musste den neuen, veränderten Juhut erst sehen – den weißen Falken -, um zu begreifen: Die Alte Zeit wird niemals durch dich sprechen, Babu. Denn Juhut kommt nicht aus ihr. Er weist in eine Zukunft, die ich nicht sehen kann. Er ist der Beginn von etwas, das ich nicht überblicke. Aber allein das sollte uns Hoffnung geben, nicht wahr?« (Greiff, Zwölf Wasser, 1:555-556).
52 Greiff, Zwölf Wasser, 2:241.
53 Welch ein Gefühl von Freiheit hatte es ihm früher gegeben, den Falken am Himmel kreisen zu sehen. Wie weit war sein Herz geworden – zwei Herzen, das eine so groß wie das andere, beide schlagen gleich. Ja, und sogar der Name des Falken entsprang diesem Gefühl: Juhut-ras, zweites Herz. Aber stimmte das denn? Oder war auch das nur eine Täuschung gewesen, eine Einbildung, weil er es sich so sehr gewünscht hatte? Hatte der Falke ihm nicht vielmehr Kummer gebracht und Schmerz? (Greiff, Zwölf Wasser, 2:489).
54 Greiff, Zwölf Wasser, 2:244.
55 Greiff, Zwölf Wasser, 1:480-482.
56 Greiff, Zwölf Wasser, 1:496.
57 Als Babus Ambivalenz auf Messers Schneide steht, findet Reva einen Hoffnungsschimmer: »Die Sazsla kämpft um seine Seele. Juhut gibt nicht auf. Das liegt nicht in seiner Natur« (Greiff, Zwölf Wasser, 2:512). Der zweite Band endet mit der anscheinenden Trennung Babus von der Szasla, die die Protagonisten Reva und Felt als Anfang des Endes interpretieren (Greiff, Zwölf Wasser, 2:548).

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