Mittwoch, 4. Januar 2023

Zeitreise, Blutmagie, Gestaltwandel


Literartur gibt der Philosphie einen Körper, der sie lebendig werden lässt.
J. Leonore Wright

The Anubis Gates – ein Klassiker des Steampunk

Flüchtig betrachtet, scheint es sich bei Tim Powers The Anubis Gates um eine Zeitreise-Erzählung zu handeln. Dem aufmerksamen Leser fällt aber schnell auf, dass er es nicht mit echter Science Fiction zu tun hat, wie das Zeitreise-Thema vermuten lässt. Besonders das Motiv des Portals, das Übergänge in Parallelwelten ermöglicht, ist eines der bevorzugten Motive der Fantasy-Literatur. Nun ist das viktorianische London nicht gerade eine Parallelwelt, dennoch spielt es in Tim Powers Erzählung diese Rolle.
The Anubis Gates ist ein Roman, der die Grenze zwischen historischer Fantasy und Religion überbrückt. Und ganz besonders kündet dieses Buch von der Komplexität und Vielfalt, die dieser Steampunk-Klassiker zwischen historischer Fantasy und historischer Überlieferung herstellt.

Eine kommentierte Synopsis

Tim Powers Roman beginnt mit einem Prolog, der Ursache und Vorgeschichte der kommenden Ereignisse schildert im Jahr 1802 schildert. Die Epoche: das viktorianische London. Der Ort: ein Zigeunerlager auf offenem Feld bei Islington, sechs Kilometer vor London entfernt. In einem der Zelte öffnet der ägyptische Zauberer Amenophis Fikee in einem magischen Ritual mehrere Spalten in der Zeit, die als Ein- und Austrittspforten für Zeitreisen gedacht sind. Sein Partner, Dr. Romany, das Ka eines gewissen Dr. Romanelli, warnt Fikee davor, dass sein Ritual misslingen, ihn sogar töten könnte. Unter dem Bann seines mysteriösen, namenlosen Meisters in Kairo zelebriert Amenophis Fikee dennoch das Ritual, und öffnet die titelgebenden Anubis-Tore. Den magischen Prozess der Öffnung überlebt Fikee nur in einem stark beschädigten Körper, in dem er sich nur kurz aufhalten kann. Dass dieses Ritual Tore in der Zeit öffnet, warum diese Portale so heißen, was es mit ihnen auf sich hat, und was aus Amenophis Fikee wird, erfährt der Leser erst allmählich im Verlauf der Erzählung.
Es ist das Jahr 1983. Die Epoche: das industrialisierte, naturwissenschaftlich orientierte 20. Jahrhundert. Der Ort: das Interdisziplinäre Forschungsinstitut DIFI in London. In der Gegenwart entdeckt der Wissenschaftler und Industrielle, J. Chochran Darrow, die von Amenophis Fikee geöffneten Portale in der Zeit. Sein DIFI-Institut untersucht diese Tore und entwickelt eine Methode, sie zu benutzen. Die besondere Leitung des DIFI besteht darin, die magische Prozedur von Amenophis Fikee zu legitimieren und theoretisch-methodologisch zu begründen. Die Arbeit des DIFI rationalisiert das magische Ritual und macht dessen Ergebnis naturwissenschaftlich nutzbar. Tim Powers entwickelt seinen Plot als rationalisierte Fantasy.

Professor Brendan Doyle ist Amerikaner, Literaturwissenschaftler und ausgewiesener Kenner der britischen Frühromantik. Sein Forschungsschwerpunkt bilden die beiden Dichter Samuel Taylor Coleridge und William Ashbless. Noch im selben Jahr lädt Darrow den Professor der Literaturwissenschaft zu sich nach London ein und bittet ihn darum, vor einem auserlesenen Publikum einem Vortrag über Coleridge zu halten. Doyle sagt, zuerst noch zögerlich, letztlich zu. Durch seine Zusage wird er in Ereignisse hineingezogen, die sein akademisches Vorstellungsvermögen bei weitem überschreiten. Darrow erklärt dem staunenden Doyle nämlich, dass er Löcher in der Zeit entdeckt hat, durch die man aus seiner eigenen Zeit heraustreten kann - in ein Nichts und Nirgendwo - und durch eine andere Spalte in eine vergangene oder zukünftige Zeit gelangt. Zwischen 1504 und 2116, habe sein Institut herausgefunden, gebe es mehrere solcher Ein - und Austrittsportale, die er inzwischen lokalisiert habe. Um 1600 sind diese Spalten sehr selten und von langer Dauer, aber ab 1802 nimmt ihre Häufigkeit zu und ihre Dauer rapide ab. Eine besondere Dichte dieser Zeitportale gibt es nach seinen Forschungen zwischen 1800 und 1805. Der Spalt von 2116 sei 47 Stunden lang und chronologisch der bisher letzte. Um dem zweifelnden Doyle seine Forschungsergebnisse verständlicher zu machen, benutzt Darrow eine Flussmetapher, die Philip José Farmers Flusswelt-Zyklus in Erinnerung ruft:

»Die Zeit«, sagte er in ernstem Tonfall, »ist einem Fluss vergleichbar, der unter einer Eisdecke dahinströmt. Sie dehnt uns wie eine Wasserpflanze, von der Wurzel bis zur Spitze, von der Geburt bis zum Tod, und wir schlingen uns um Steine und Baumwurzeln oder was uns sonst an Hindernissen in den Weg kommen mag. Wegen der Eisdecke kann niemand den Fluss verlassen, und niemand kann sich auch nur für einen Augenblick gegen den Strom wenden. [...] Passen Sie jetzt auf, dies ist der wichtigste Teil! Irgendetwas hat zu irgendeiner Zeit Löcher in die metaphorische Eisdecke gestanzt. Fragen Sie mich nicht, wie das geschehen ist, aber verteilt auf rund sechshundert Jahre existieren Spalte, die ein [...] unregelmäßiges Muster bilden und in denen bestimmte normale chemische Reaktionen nicht vorkommen, in denen komplizierte Maschinen nicht funktionieren [...] aber die alten Systeme, die wir Magie nennen, tun es«.

Mit Darrows Erläuterung formuliert Tim Powers sein narratives Programm, das später eines der definierenden Kriterien des Steampunk werden sollte: die Parallelität und das Zusammenwirken von Magie und technischem Fortschritt. Um von einem Zeitloch in ein anderes zu gelangen, aus dem einen aus- und in ein anderes wieder einzutreten, entwickelte Darrow eine spezielle Antriebskraft. Je stärker der verwendete Schub ist, desto genauer kann das nächste Eintrittstor angesteuert werden. Der Magier Amenophis Fikee konnte die magische Toröffnung auf dem freien Feld vor London von 1802 letztlich nicht gänzlich kontrollieren: Ihm gelang es zwar, die Tore zu öffnen, benutzen konnte er sie nicht mehr, da er der entfesselten Energie keine technischen Instrumente entgegenhalten konnte. Die Magie, über die Fikee verfügte, war allein zu schwach. Seine magischen Fähigkeiten und körperlichen Kräfte reichten nicht aus. Da ihm der Wirkmechanismus der Portale verborgen blieb, konnte er sie nicht, wie von ihm erwartet, kontrollieren. Anders das interdisziplinär forschende, Magie und Naturwissenschaft komplementär nutzende DIFI: Darrows Institut setzte Fikees magische Vorarbeit in naturwissenschaftlich kontrollierbare Methoden um. Was der altägyptischen Magie nicht gelungen ist, dazu waren die technischen Verfahren der Gegenwart fähig. Nach Jahrzehnten der Forschung bewältigte Darrows Institut die Kartierung der Position der Tore in Raum und Zeit, die Voraussetzung für ihre Nutzung.
Das Zeittor, das Darrow zunächst ansteuern will, ist der 1.September 1810, der Abend an dem Samuel T. Coleridge seinen berühmten Vortrag über John Milton hält. Als Coleridge-Experte soll Brendan Doyle den inhaltlichen Teil der Reise übernehmen und eine besondere Rolle bei der Betreuung von Zeittouristen spielen. Darrows Angebot besteht darin, dass Doyle die Touristengruppe, finanzstarke Investoren, als Experte zu Coleridges Vortrag ins viktorianische Jahrhundert nach London begleitet. Aus heutiger Sicht ein denkwürdiger Einfall, der erneut zeigt, wie die Science Fiction aktuelle Entwicklungen antizipiert. Darrows Vision erinnert frappierend an den Weltraumtourismus à la SpaceX, Elon Musks kommerzielles Raumfahrtunternehmen, dass vermögende Raumreisende zur ISS und Satelliten in die Erdumlaufbahn befördert, letztendlich mit dem Ziel, es der Menschheit zu ermöglichen, den Mars zu kolonisieren und das Leben auf anderen Planeten zu verbreiten. Obwohl der erste Zeitsprung gleich gelingt, endet die Reise für Brendan Doyle, der nicht zufällig den Namen des Sherlock Holmes Erfinders trägt, anders als erwartet katastrophal. Der Literaturwissenschaftler wird im viktorianischen London entführt, muss in einem finsteren, kriminellen Milieu um sein Überleben kämpfen und kann letztlich nicht mehr in seine Gegenwart zurückkehren.
Im London des frühen 19. Jahrhunderts haben die beiden ägyptischen Magier zwar die Zeittore geöffnet, ihre magischen Fähigkeiten sind aber im Schwinden begriffen (thinning), sodass sie ihre Zeitreise nicht antreten. Als Doyle und seine Begleiter, nach Ende des Coleridge-Vortrags, in ihre Gegenwart zurückkehren wollen, wird der Literaturwissenschaftler von Dr. Romany, dem Partner von Amenophis Fikee, der der Toröffnung beigewohnt hatte, zuerst entführt und dann durch London gejagd. Dr. Romany hat nämlich beobachtet, wie die Zeitreise-Gesellschaft im viktorianischen London eintraf, und will ihre Anwesenheit nutzen, um die Kontrolle über die Tore zurückzuerhalten. Von Brendan Doyle erhofft er sich nun das Wissen, wie die Zeitsprünge zu bewerkstelligen sind. Schließlich fällt Doyle Amenophis Fikee in die Hände, der als Hundgesicht-Joe, einem werwölfischen Gestaltwechsler, seit Jahren in London sein Unwesen treibt. Fikee stiehlt Doyles Körper und lässt diesen in einer lebensgefährlichen Situation zurück, von der aus Tim Powers seine Erzählung mit zunehmender Dynamik und Spannung vorantreibt.
Mehr oder weniger auf sich allein gestellt, versucht Brendan Doyle in dieser absurden Situation zu überleben, versucht verzweifelt in das London seiner Gegenwart zurückzukehren. Der Verlauf der Ereignisse zwingt ihn dazu, mehrmals Körper, Identität und Rolle zu wechseln. Seine letzte Identität ist die des fiktiven Poeten William Ashbless, dessen Leben er von nun an führt, und dessen Gedichte er aus seinem Gedächtnis des 20. Jahrhunderts aufschreibt und im viktorianischen London veröffentlicht. Als aufstrebender Dichter verkehrt er in den Kreisen der damaligen Bohème, lernt Lord Byron und auch S.T. Coleridge näher kennen, und führt in seiner neuen Identität als Dichter ein gesellschaftlich anerkanntes Leben.
Brendan Doyles einzige Verbündete gegen seine zahlreichen Widersacher ist eine junge, als Mann maskierte Frau, die den Gestaltwechsler Hundgesicht-Joe jagd, der den Körper ihren Verlobten geraubt und diesen so getötet hat. Gemeinsam widerstehen sie ihren Gegnern, die sie auf einer Hetzjagd durch die Jahrhunderte bekämpfen, die Brendan Dolye schließlich als William Ashbless in Kairo in einem furiosen Finale beschließt, als er den mysteriösen Meister von Amenophis Fikee und Dr. Ramany-Romanelli überwältigt.

Magische Praktiken und Rituale in The Anubis Gates

Maschinen, Automate und Doppelgänger, stellvertretend sei hier an die Erzählungen von E.T.A. Hoffmann erinnert, sind in der Phantastischen Literatur der Romantik Deutschlands und Englands ein faszinierendes, weit verbreitetes Thema. Tim Power erweist sich als ein Kenner dieser Literatur, besonders der englischen Romantik- und Gothic-Szene, denn geschickt recycelt er deren narratives Inventar in The Anubis Gates. Da sind einerseits die verschiedenen Doppelgänger, für die er den altägyptischen Terminus für die Partialseele, Ka, beansprucht. Anderseits streift ein mysteriöser, unheimlicher Werwolf als Gestaltwandler mordend durch das viktorianische London. Und, als wäre dies für eine spannende Erzählung noch nicht genug, wagen Wissenschaftler und Literaturfreunde, als touristische Zeitreisende maskiert, den Sprung in die Vergangenheit, um dem berühmten Colridge-Vortrag über John Milton zu lauschen.
Zusätzlich in dieses Szenario hat der Autor das alle Hauptfiguren verbindende Gestaltwandel-Motiv integriert, das der Erzählung als strukturierendes Muster dient. Neben dem Zeitreise-Motiv, das in die Science Fiction gehört, führt die Reise durch die verschiedenen Körper und Identitäten in innerpsychische Welten und Entwicklungskrisen, die dem Fantasy-Leser vertraut sind. Der meist schnelle Körperwechsel, den die Protagonisten vollziehen müssen, um ihre Konflikte zu lösen und ihre Ziele zu realisieren, ist ein Trip der besonderen Art auf dem schmalen Grat von Halluzination und Psychose, eine schizophene Achterbahn, die die Ich-Bewusstseine der Protagonisten als unheimlich beängstigende Odyssee erfahren.
Die vielen Wechsel der Identitat einzelner Protagonisten erfordert ein hohes Maß an Konzentration. Den Leser*innen der Anubis Gates, die diese Anforderung von Beginn an versäumt haben, die sich unkonzentriert und nur oberflächlich der Handlung überlassen haben, die führt Tim Powers durch eine Komödie der Irrungen und Verwirrungen shakespearescher Provenienz, durch ein Rätselspiel des Wer ist Wer, in der sich diese Leser*innen leicht verlieren können. Das Buch gelangweilt zur Seite zu lege, fällt wahrscheinlich niemandem ein. Betrachtet man The Anubis Gates aus der Perspektive der sich wechselseitig bedingenden, magischen Plots, die Tim Powers verwendet, um in seiner Erzählung phantastische Elemente, eine archaische Exotik, spannende Handlungen und groteske Figuren zu verwenden, fallen drei verschiedene Handlungsstränge auf:

  • das pseudo-naturwissentschaftliche Konzept des Zeitsprungs, der mit magischen Mitteln bewerkstelligt wird;
  • die magischen Rituale der Erzeugung von Doppelgängern;
  • ganze Serien von Metamorphen, Körper- und Identitätswechseln, die die Hauptfiguren durchlaufen.

Zeitreise und Zeitsprung

Das Ritual, mit dem Amenophis Fikee die erwähnten Anubis-Tore geöffnet hat, habe ich skizziert. Die Existenz dieser Portale, Spalten in der Zeit, die durch die Forschungen von Darrows DIFI-Institut entdeckt und technisch nutzbar gemacht werden, ermöglichen den Protagonisten Zeitreisen, Sprünge von einem zum anderen Spalt und wieder zurück.
Zeitreisen sind ein alter Traum der Menschen und in der Literatur immer wieder thematisiert worden. Herbert G. Wells Klassiker der phantastischen Literatur, The Time Machine von 1895, in der ein namenloser Zeitreisender weit in die Zukunft reist, ist der Prototyp und mag exemplarisch für Plot und Klischees stehen, die einschlägige Erzähltexte immer wieder variiert dargeboten haben. In diesen Erzählungen erfolgen Zeitreisen als lineare Bewegung entlang des Zeitpfeils, prinzipiell mit Hilfe von Maschinen, Elixieren oder besonderen Landmarken, die als Portale dienen, und die den Übergang in eine andere oder parallele Zeit, Kultur oder Welt zulassen. In den Anubis-Toren entwickelt der Autor eine weitere Variation magisch geöffneter Portale und maschinengestützter Zeitreisen.
Zeitreisen sind eine Bewegung in der Zeit, die vom alltäglichen, linearen Zeitablauf abweichen. Seit der Relativitätstheorie lassen sich Zeitreisen, die in die Zukunft führen (Zeitdilatation), zumindest theoretisch logisch begründen, wie das zahlreiche Science-Fiction-Erzählungen auch vorführen. Anders als bei Reisen in die Zukunft, ist sich die Wissenschaft einig, dass Zeitreisen in die Vergangenheit, wie sie Tim Powers Protagonisten in The Anubis Gates unternehmen, nicht möglich sind, und spekulative Domäne der Phantastischen Literatur bleiben. Auch die Entdeckung des sogenannten R-Universums - des Gödeluniversums - durch Kurt Gödel (1949), eines rotierenden Universums, das ein Zurückkehren eines Objekts in seine eigene Vergangenheit ermöglichen soll, ändert nichts an der etablierten wissenschaftlichen Einstellung, dass Zeitreisen in die Vergangenheit theoretisch unmöglich sind. Es soll an dieser Stelle auch nicht verschwiegen werden, dass Hypothesen über Wurmlöcher existieren, die verschiedene Bereiche der Raumzeit miteinander verbinden, sodass Zeitreisen in die Vergangenheit, fände man Methoden, diese Wurmlöcher zu stabilisieren, realisierbar sein könnten. Gleiches träfe, wird vermutet, auch auf die Umgebung zweier kosmischer Strings zu, die dazu nur ausreichend schnell aneinander vorbei fliegen müssten, deren Existenz aber umstritten ist. Auch durch superluminares Tunneln für Teilchen (Photonen) soll angeblich eine Zeitumkehr erreichbar sein. Sollten Zeitreisen zurück in die Vergangenheit wirklich stattfinden können, so argumentieren manche, müsse auch das dabei entstehende Paradoxon der Verletzung der Kausalität physikalisch verstanden werden.
Da dies alles fraglich ist, bleiben die Anubis Gates vorerst echte Science-Fiction, die auf zukünftig technisch Mögliches rekkurieren. Die Erzählung ist gleichzeitig imaginativ und Fantasy, denn sie beschreibt in der Realität Unmögliches, das auch in einem technischen Zeitalter nur mit magischen Mitteln erreicht werden kann. Dass die Zeitsprünge in dieser Erzählung nicht in ein Paralleluniversum führen, wie für den Fantasy-Kontext erwartbar, sondern zurück in die historische Zeit des viktorianischen Londons, zeichnet das Genre Steampunk aus. Dennoch verbindet Tim Powers Erzählung einiges mit klassischer Science Fiction. Dass Brendan Doyle nicht mehr in seine eigene Gegenwart zurückkehren kann, stützt der These von der Verletzung der Kausalität. Der sogenannte Butterfly Effect der Chaostheorie bewirkt nämlich, dass kleinste Veränderungen in der Vergangenheit extreme Auswirkungen auf Ereignisse in der Gegenwart haben, was Tim Powers indirekt mitthematisiert, wenn er Brendan Doyle über die Fiktionalität des Dichters William Ashbless reflektieren lässt, dessen Werke und Biografie er gleichzeitig im 20. Jahrhundert erforscht und im 19. Jahrhundert verursacht. The Anubis Gates enden damit, dass Brendan Doyle im viktorianischen London wie in einer Zeitschleife festsitzt.
Insgesamt unternimmt Brendan Doyle drei Zeitreisen in die Vergangenheit, kehrt aber immer wieder in das viktorianische London zurück:

  • sein Zeitsprung zum Coleridge-Vortrag ins London des Jahres 1811;
  • sein Zeitsprung ins London des 17. Jahrhunderts, wo er die Antäus-Bruderschaft aufsucht, die ihm in seinem Kampf gegen die Mordversuche des Romanelli-Ka unterstützen soll;
  • sein wahrscheinlicher Zeitsprung, nach seiner Entführung durch Romanelli, zurück ins viktorianische London, wo er den Körper des Fechters Chinnie übernimmt.

Doyle reist immer nur rückwärts in die Zeit, die Rückkehr in seine eigene Gegenwart gelingt ihm, trotz der Versicherung Darrow nicht mehr. Für Brendan Doyle gibt es kein Happy-Ending: Er bleibt in einem fremden Körper der Vergangenheit gefangen. Unbeantwortet lässt der Roman auch die Frage, wie Brendan Doyles unvollendetes Ka nach London kommt. Die Zerstörung des magisches Zentrums in Kairo, bei der der ägyptische Meister der beiden Londoner Magier ums Leben kommt, setzt voraus, dass Doyles Ka, obwohl bei dessen Zustand nur schwer vorstellbar, mit einem Schiff London erreicht hat wie der tagsüber leblose Körper Nosferatus Wismar. Auszuschließen ist jedenfalls der Sprung durch die Zeit, da Doyles Ka und Brendan Doyle als Ashbless im Körper von Steerforth Benner in der gleichen Zeit existieren, dem viktorianischen London zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Bei The Anubis Gates handelt es sich, wie ich in Tim Powers und der Steampunk dargelegt habe, um ein Fantasy-SiFi-Hybrid, in dem der Autor äußerst kreativ die Elemente mehrerer Genre mischt. So bleibt die eindeutige Einordnung schwierig, was letztlich auch den damals neuen Terminus Steampunk hervorbrachte.

Die magische Erschaffung eines Ka

In der altägyptischen Religiosität ist der Ka ein Aspekt des Leibs, im Sinne einer Partialseele, die den physischen Tod des Menschen überdauert. Der Ka verlässt den Körper des Sterbenden und existiert eigenständig weiter. Nach seinem Tod tritt der Ka als Doppelgänger des Ich-Bewusstseins der Person auf, dem er seine Existenz verdankt. Wie in der altägyptischen Religion verwendet Tim Powers das Ka-Konzept in The Anubis Gates als eine Art Alter ego einiger seiner Protagonisten. Zu Beginn der Erzählung ist Dr. Romany, der Partner von Amenophis Fikee, der Ka des Dr. Romanelli, der sich zu dieser Zeit in Kairo aufhält. Aus Gründen der politischen Intrige, die die beiden ägyptischen Magier in London gegen das britische Königshaus inszenieren, erzeugt Dr. Romanelli einen Ka des Dichters Lord Byron, dessen Leibarzt er während seines Aufhalts in Griechenland ist. Wiederum ist es Dr. Romanelli, dieses Mal in Kairo, der ein Doyle-Ashbless-Ka schafft, von dem sich sein Meister Kenntnisse über die Verwendung der Anubis-Portale in der Zeit verspricht. In dem Roman lässt Tim Powers drei Ka-Doppelgänger auftreten:

  • Dr. Romany, das Ka des Dr. Romanelli, das diesen in London vertritt und über dessen Entstehung der Leser nichts erfährt;
  • Lord Byrons Ka, der in London erscheint, während er sich in Wirklichkeit in Griechenland in der Gewalt von Dr. Romanelli befindet;
  • das Ka des nach Ägypten entführten Ashbless, der in Wirklichkeit Doyle ist, dessen eigentliche Funktion darin besteht, den Roman befriedigend beenden zu können.

Es ist, wie Faust vermutet, dass Blut ein besonderer Saft ist, und was Mephistopheles seinem Schüler bestätigt. Er spricht damit die Lebenskraft und die individuelle psychische Signatur an, die sich nach mittelalterlicher Esoterik im Blut befindet, es mit seinem Träger verbindet und ihn durch magische Verwendung, auf analogische Weise, manipulierbar macht.

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