Samstag, 31. August 2024

Das Böse als Erzählfigur der Phantastik: Worldbuilding

Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane Die Trilogie des Nebels und Marina, Teil Zwei


. . . das Schloss, ein kathedralartiges Hirngespinst, Ausgeburt
einer überspannten, gequälten Phantasie . . . glich allmählich
einem in den Stein gehauenen, klaustrophobischen Schlund.

Carlos Ruiz Zafón


Vorbemerkung

Wer von einer Lektüre mehr erwartet als genüsslich spannende Unterhaltung, worin auch ihr eigentlicher Sinn besteht, mehr als bloßen Konsum dessen, was Autor*innen in monatelanger Arbeit in ihrer Fantasie konstruiert und auf hunderten Buchseiten inszeniert haben, findet einen besonderen Zugang zu einer Erzählung. Wer sich aufmacht, tiefer in die narrative Welt der Erzählfiguren einzutauchen, muss sich mit der erzählten Zeit und der erzählten Welt, dem Wordbuilding der Erzählung beschäftigen, die ihn eben erst verzaubert hat. Und besonders muss er die Figuren der erzählten Welt näher kennenlernen, die nicht mit dem Autor oder der Autorin, aus deren Fantasie und Feder die Erzählung floss, identisch sind. Es sind die Erzählfiguren, die dem Worldbuilding einer Geschichte Leben einhauchen. Mit ihnen steht oder fällt jede Erzählung. Um die Orte des Bösen und deren Atmosphäre in der Trilogie des Nebels näher zu bestimmen, beschränke ich mich in meinen Ausführungen auf diese beiden Phänomene, die Zafóns Romanen ihre innere Struktur verleihen:

  • Einerseits sind das die Orte des Geschehens, denen eine spezifische Atmosphäre anhaftet, die sich in der Trilogie als Nicht-Orte manifestieren, wenn das Böse sie besetzt: Spukhäuser, Ruinen, verwilderte oder verlassene, abgelegene unheimliche Lost Places jeglicher Couleur als Rückzugsgebiete des Bösen.
  • Andererseits die Manifestation dieser Atmosphären an den Nicht-Orten der Trilogie, den Antagonisten, die wie reale Personen auftreten, auf die ich im dritten Teil dieser Untersuchung eingehen werde.

Montag, 26. August 2024

Die Welt der Regenwildnis


Robin Hobbs Novelle Homecoming, Teil Zwei

There is no plenty here, only strangeness that
lurks by day and prowls amongst our huts by night.

Lady Carillions Tagebuch

Vorbemerkung

Die narratologische Analyse der Novelle Homecoming in Das Tagebuch der Lady Carillion, insbesondere die Rolle der Erzählinstanz und der Erzählperspektive, ermöglichte eine fundierte Beurteilung der Stimme, die die Absicht, die die Autorin mit ihrer Novelle bezweckt, an die Leserschaft zu vermitteln, ganz im Sinne von Marshall McLuhans Sentenz The Medium is the Message. Die Konstruktion von Homecoming, das narrative Handwerk der realen Autorin Robin Hobb in der Erfindung fiktionaler Welten, bildet den zweiten Teil meiner Analyse, in der ich beabsichtige, Genre und Worldbuilding der Novelle in den Mittelpunkt meiner Betrachtung zu rücken. In Robin Hobbs erzählerischem Werk liegt der narrative Fokus normalerweise stärker auf den inneren Konflikten ihrer Figuren als auf den äußeren Herausforderungen. Sie konzentriert sich dabei auf das Individuum und die Erforschung der psychischen Befindlichkeit beziehungsweise Traumata ihrer Figuren. In ihrer Novelle Homecoming bildet das Verhältnis zwischen Regenwildnis und Lady Carillion eine konkurrierende Beziehung. Der Charakter der Regenwildnis ist in ihrer Erzählung so präsent, dass die Landschaft als Protagonist betrachtet werden kann, quasi als Antagonist, der mit der Hauptfigur eine rivalisierende Beziehung unterhält, in der beide ihre Kräfte messen.1

Donnerstag, 22. August 2024

Das Böse als Erzählfigur der Phantastik: Einleitung

Carlos Ruiz Zafóns fiktionale Jugendromane Die Trilogie des Nebels und Marina, Teil Eins


Sie wusste, dass die Schatten der großen Stadt
sie hier nicht erreichen konnten, doch die
Erinnerungen ließen sich nicht aufhalten.

Carlos Ruiz Zafón

Vorbemerkung

Liebhabern von Carlos Ruiz Zafóns Tetralogie Der Friedhof der vergessenen Bücher (El Cementerio de los Libros Olvidados) kommt es nicht gleich in den Sinn, dass Zafón seine Karriere als Autor mit vier fiktionalen Jugendromanen (young adult fiction) begann, deren Thema und Inhalt oberflächlich betrachtet nichts mit dem Werk zu tun haben, mit dem er berühmt wurde. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn beide Serien teilen die Vorliebe des Autors für mysteriöse Orte und düstere Atmosphären, der mit seiner Melange aus Grusel und Mystik sowie Detektiv- und Abenteuergeschichten seine Leser*innen verzaubert.

Mittwoch, 21. August 2024

Lady Carillions Tagebuch


Robin Hobbs Novelle Homecoming, Teil Eins

Some spirit of the Rain Wilds whispered to me,
»Try to master it and it will engulf you.
Become a part of it, and live.«

Lady Carillions Tagebuch

Vorbemerkung

Es war einmal in einem Reich, in dem Drachen und Menschen zum gegenseitigen Nutzen friedlich zusammenlebten. Drachen-Essenz hatte sich mit der Natur des Menschen vermischt. Aus dieser zufälligen Mischung waren die Altvorderen hervorgegangen. Sie waren groß und schlank gewesen, drachenäugig und mit goldenem Haar. Diese uralte Rasse hatte mit den Drachen zusammengelebt und sich in dieser Symbiose gesonnt.1
Das Reich der Altvorderen (Elderlings) war schon lange untergegangen als Verbannte und Kriminelle aus Jamaillia-Stadt die Ruinen dieser alten Kultur wiederentdeckten, sie plünderten und zerstörten. Robin Hobbs Novelle Homecoming erzählt von diesen Pionieren, der Entdeckung einer versunkenen Stadt und den Konsequenten, die daraus entstehen. Sie überliefert in Form eines Tagebuchs einige Monate aus dem entbehrungsreichen Leben der jamailliaischen Adeligen Lady Carillion Waljin Carrock in der Regenwildnis. Die Erzählung ist nicht nur ein vielleicht verloren gegangenes, und Jahre später wiedergefundenes Tagebuch. Sie bietet auch eine unterhaltsame, spannende Lektüre der Schemaliteratur, die eine wichtige Funktion in Robin Hobbs mehrere tausend Seiten umfassende Serie The Realm of the Elderlings spielt. Sie gehört nämlich

  • zur Geschichte hinter der Geschichte der Serie,
  • ist im Kern feministische Literatur und
  • überbrückt die durch die Tawny Man Trilogy entstandene Unterbrechung zwischen den Romanen der Liveship Traders Trilogy und der Rain Wild Chronicle.

Dienstag, 20. August 2024

Die Entfremdung des Alltäglichen


Magic is better than crazy!
Megan Lindholm

Vorbemerkung

Gegenstand dieser Studie ist die Bedeutungsebene der Kurzgeschichte Neighbours der US-amerikanischen Schriftstellerin Margaret Astrid Lindholm Ogden, die seit über zwanzig Jahren unter den Pseudonymen Megan Lindholm und Robin Hobb Phantastische Literatur veröffentlicht.1 Wer eine Erzählung von Megan Lindholm wählt, erwartet eine Fantasy-Erzählung. Doch in Neighbours suchen Leser*innen vergeblich nach mittelalterlichem Ambiente, wundermächtigen Artefakten oder übernatürlichen Protagonisten und auch die in der Fantasy allgegenwärtige Magie spielt nur eine eher subtile Rolle. Die erzählte Zeit sowie die erzählte Welt, das ganze Worldbuilding, entsprechen der realen Welt der Leser*innen. Selbst der Nebel, der zunehmend merkwürdiger wird, und Sarah, die intern-fokalisierte Erzählfigur einer heterodiegetischen Erzählerin, verunsichert, ist letzten Endes ein normales Phänomen in der Welt der Leser*innen. Hermann Hesse hat diese Atmosphäre in seinem Gedicht Im Nebel eingefangen:

Mittwoch, 14. August 2024

Odysseus, Kassandra und der Heilige Geist


Die Psychologie in der Mythologie der Antike

Die Welt der griechischen Antike und eines großen Teils außereuropäischer Kulturen ist unberechenbar von ergreifenden Atmosphären durchzogen. Diesem Gedanken zu folgen dienen die mythischen Protagonisten Odysseus und Kassandra. Meine Studie Odysseus, Kassandra und der Heilige Geist greift die Thematik dieser leiblich spürbaren Atmosphären auf, deren Autorität, wie Hermann Schmitz es nennt, für jeden den Gipfel unbedingten Ernstes erreicht. Der Gipfel des unbedingten Ernstes ist die beinahe charismatische Autorität des Göttlichen, der sich der Mensch, trotz seines Vermögens sich zu distanzieren und Kritik zu üben, bewusst unterwirft.
Den Menschen ergreifende Gefühle treten als bestimmte Personen, als Götter, in Erscheinung. Zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten oder in bestimmten Situationen werden quasi in der Luft liegende Atmosphären als Gefühle erfahren. In der Auseinandersetzung des Menschen mit diesen Atmosphären können sich diese zu Personen verdichten. Das Numinose, das Rudolf Otto beschrieben hat, ist eine solche göttliche Atmosphäre für jeden, dem sie widerfährt und zugleich ein typisches Vorgefühl der göttlichen Gefühle in ihrer unermesslichen Vielgestaltigkeit.
Unverkennbar in der Flut der Fantasy- und Science Fiction-Literatur oder in zahlreichen Computerspielen, die ihre Inspiration eindeutig der Mythologie verdanken, zeigt sich ein unstillbarer Hunger nach Bildern und Symbolen, die die Sinndiskussion der rezenten westlichen Kulturen schon lange nicht mehr befriedigen kann. Die moderne kapitalistische Ethik mit ihrer einseitig rationalistischen Weltauffassung, der der moderne Mensch unterworfen ist, hat inzwischen dazu geführt, dass diesem kaum noch eigene Bilder aus dem Unbewussten entgegenwachsen. Programmiertes Heldentum ist gefragt, damit berechenbare und vorausplanbare Identifikationen entstehen können, die, medial gesteuert, zu normiertem Erleben und Erfahren führen. Ein reduziertes Angebot an Geschichten und Bildern, die die aus dem kindlichen Unbewussten strömenden Symbole individuell mit Leben erfüllen, und dem heranreifenden Menschen eine angemessene Realitätsprüfung erlauben, steht eine wachsende Flut von medial konstruiertem Bildmaterial gegenüber, das jegliche Phantasie im Keim erstickt.
Sache des Mythos ist die Darstellung, ein Hörbarmachen atmosphärischer Qualitäten. Mythos ist Aussage, ist verlässlicher Bericht über das im Atmosphärischen Gespürte, Erblickte und Gehörte, das räumlich ausgegossen in die menschliche Erfahrung hereinbricht. Mythische Erzählungen sind immer ein hinweisendes Sprechen, ein Sprechen, das helfen soll, in der Wirklichkeit einen bestimmten Gott als solchen zu erkennen, deshalb wird erzählt, wie er anderen begegnet ist.
Mythen beruhen auf der Erfahrung der Wirkung göttlicher Kräfte auf den Menschen, und auf der Nutzbarmachung der damit verbundenen Energien durch ihn. Sie zeugen vom Gespräch mit den Göttern. Begegnungen dieser Art erlebt der Mensch als emotional ergreifend und numinos; die Auseinandersetzung mit seiner Ergriffenheit führt den sinnsuchenden Menschen zur mythischen Gestaltung und unterscheidet diese von rein dichterischer Phantasie und Fiktion. Das hinweisende Sprechen der Mythen hat allerdings konjunktivischen Charakter – es verweist allein auf die jeweils mögliche eigene Erfahrung mit dem Göttlichen. Nur gemessen an solchen Erfahrungen gewinnen mythische Erzählungen sinn- und identitätsstiftende Glaubwürdigkeit und Legitimität, stabilisieren sie die Weltanschauung einer Gemeinschaft. Den Mythos richtig aufgefasst bedeutet allerdings das Zugeständnis, dass die Götter Voraussetzung, nicht nur Gegenstand der mythischen Rede sind. Übersinnliche Erfahrungen müssen erst gemacht werden, Göttern muss man erst begegnen, bevor von ihnen erzählt werden kann. Der Mythos endet da, wo unmittelbare atmosphärische Erfahrungen nicht mehr stattfinden, wo eine dogmatische Theologie nach dem An-Sich-Sein mythischer Protagonisten fragt, wo starre Theorie an die Stelle dynamischer Erfahrung tritt.

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Montag, 5. August 2024

Das unwahre Leben der Grace Stewart
Haunted-House-Horror in Alejandro Amenábars Psychothriller The Others


Das Ganze ist das Unwahre.
Aus dieser Erkenntnis ergibt sich unmittelbar,
dass es im falschen Leben kein richtiges gibt.

Theodor W. Adorno

Vorbemerkung

Jede Erzählung, unwichtig ob als Buch oder Film, besitzt immer zwei interdependente, narrative Schichten: die manifeste Textoberfläche sowie einen inhärenten, latenten Untergrund. Es ist wie mit dem menschlichen Bewusstsein, das über zwei unterschiedliche Qualitäten verfügt, gleichzeitig unbewusst und bewusst wahrnehmen und reagieren zu können. Damit ist auch der Gegenstand dieser Studie schon umrissen, die sich mit der latenten, narrativen Dimension in Alejandro Amenábars Film The Others auseinandersetzt.1
Amenábars Film ist ein hochkomplexes, vielschichtiges Werk, dessen Analyse und Interpretation verschiedene Perspektiven ermöglicht, die nicht unbedingt linear verlaufen, sich stattdessen manchmal im Kreis zu drehen scheinen, sich teilweise überschneiden, sich teilweise scheinbar widersprechen. Den Film in seine einzelnen Bestandteile aufgeschlüsselt, legt er Zeugnis von den Gedanken und Intentionen des Autors ab, die er in seinem Film deponiert.