Freitag, 30. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Vier


Tolkien ist Mythograph, und gleichzeitig Linguist, Historiker, Geograph, Ethnologe und Theologe. Sein Werk verfolgt die Komposition und Konzeptionalisierung einer ganzen Kosmologie und Weltanschauung. Seine Texte nähern sich anthropologischen Studien und Monographien: Sie laden zu genauer Lektüre in literaturkritischer Absicht ein. Seine Erzählungen und Essays knüpfen an die kognitive, diskursive Ethnologie an, nach der Kultur im eigentlichen Sinne Sprache ist, über Sprache entsteht und sich über diese in die Zeit hinein entfaltet. Die Besonderheit von Tolkiens Vorgehen besteht in seiner Arbeitsweise: im ersten Schritt entwirft er einen artifiziellen Kosmos, den er in einem zweiten Schritt entdeckt und im dritten zu erforschen beginnt. Während des Forschens und Schreibens dehnte sich diese Welt aus, geriet ihrem Schöpfer zu einem nicht endenden Prozess, der nicht abgeschlossen wurde. Diese Auffassung hängt sehr eng mit Tolkiens Bekenntnis zum Katholizismus, mit seiner Art zu glauben, zusammen. In einem Gespräch mit Tolkien vertrat C.W. Lewis die These, Mythen seien durch Silber geblasene Lügen. Ich wiederhole diese Auffassung gerne, denn sie trifft ins Zentrum von Tolkiens Schaffen, der in seiner Erwiderung den Mythos rehabilitiert:

[...] obwohl sie den Irrtum enthalten, zugleich einen Funken des wahren Lichts spiegeln, der ewigen Wahrheit, die bei Gott ist. Ja, nur indem er [der Mensch] Mythen schafft, indem er »nach-schöpferisch« wird und Geschichten erfindet, kann der Mensch sich dem Stand der Vollkommenheit nähern, den er vor dem Sündenfall gekannt hat. Unsere Mythen mögen irregeleitet sein, aber sie steuern, wenn auch noch so unsicher, auf den rechten Hafen zu, während der materialistische »Fortschritt« nur in den gähnenden Abgrund und zur Eisenkrone des Bösen führt.115

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Drei


Der Versuch, Tolkiens fiktionale Mythologie zu entschlüsseln, ermöglicht dem Leser einen tieferen Einblick in die fiktive Mythologie und Geschichte der vier Zeitalter von Mittelerde. Sehr lohnend ist der Nachweis jener Quellen, denen Tolkien seine hauptsächlichen Inspirationen verdankt. Bei dieser Fahndung stößt man auf die mythologischen Fundamente der nordeuropäisch-germanischen Kultur, die dem deutschen Leser heute kaum noch bekannt sind. Dabei stehen poetische Werke wie die Edda, die Völsunga saga, die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, die isländische Sagaliteratur, das angelsächische Heldenepos Beowulf sowie die finnische Kalevala und das keltisch-walische Mabinogion im Vordergrund der Betrachtung. Die in diesen Dichtungen versammelten Götter- und Heldensagen, Spruchweisheiten und weltanschaulichen Konzepte, überliefern, von christlichem Einfluss nicht völlig unbeeinflusst, das autochthone, kulturelle Fundament des vorchristlichen Nord- und Mitteleuropas. Tolkiens besonderes Augenmerk galt dem nordeuropäischen Heldentopos, und dessen tragischen Verstrickungen, thematisiert in den Biographien seiner vier großen Heldengestalten, Beren, Túrin, Tuor und Aragorn, die er auf einer fiktiven Basis gestaltete.

Das Konzept der Silmaril


Die Silmaril [1] gab es in Tolkiens Legends of the Elder Days von Beginn an. Die Bedeutung, die sie für ihn allmählich annahmen, unterlag einer Entwicklung, die schließlich in der Earendil-Saga kulminierte; aber dies auch erst nach einem Jahrzehnte dauernden Ringen um narrative Dichte und philosophischen Hintergrund. [2] Erst als Tolkien die Stellung und Bedeutung der Silmaril in seiner Mythologie (Legendarium) für sich selbst überzeugend klären konnte, war die Zeit reif, die Earendil-Saga abzuschließen. Mit Ausnahme der Kompilation Das Silmarillion konnte Tolkien selbst den philosophisch-theologischen Hintergrund dieser Saga erst in The Annals of Aman oder The Later Quenta Silmarillion ausführen, und auch erst dann, als es ihm gelungen war, die Arbeiten am Konzept der Silmaril befriedigend abzuschließen. [3]

Dienstag, 27. Dezember 2022

Initiation und Individuation in postmoderner Fantasy


Richard Mayhew, der Protagonist in Neil Gaimans Roman Niemalsland, wird durch eine Begegnung mit dem Mädchen Door in eine ihm unvertraute Wirklichkeit gezogen, in der er sich verschiedenen Prüfungen stellen muss, deren Zweck seine psychische und soziale Entwicklung sowie die Heilung einer gefährdeten Welt ist. Erst durch diese unerwartete Begegnung dringt das Phantastische von außen in Richards Lebenswelt ein, und drängt ihn zu einer Reaktion, der er sich nicht entziehen kann, die er kurz zuvor nicht für möglich gehalten hätte.
In seinem London lebt Richard ein angepasstes, abhängiges und entfremdetes Leben, das von eng definierten Regeln und Konventionen bestimmt wird. Für Außergewöhnliches, erst recht für Magisches oder Phantastisches, gibt es in seinem Leben keinen Platz. Phlegmatisch und resigniert treibt er durch sein langweiliges Leben. Abgestumpft in seiner Wahrnehmung und in seinem Empfinden, verkümmert im Dschungel der Metropole seine Wahrnehmung für Spirituelles oder Übersinnliches, für Transliminales, fast völlig. Als er sich einem verletzten Mädchen, das auf dem Bürgersteig liegt, zuwendet, ahnt er, dass es mehr geben muss, als sein ereignisloses, sinnlos verlaufendes Leben. Unversehens gerät er in einen Strudel mythischer Ereignisse wie sie phantastischer nicht sein können. Er trifft auf machtvolle Personen mit magischen Kräften und Fähigkeiten, die es bisher in seinem Leben nicht gab, und die er sich lange weigert als Realität anzuerkennen, da er sie bis zuletzt nicht wirklich verstehen und kontrollieren kann. In Niemalsland existiert das Phantastische potentiell als Möglichkeit für den, der sich ihm öffnet - the magic hovers in the corner of the eye - ist nur einen Schritt weit entfernt, schaut man nur richtig hin.

 


Donnerstag, 22. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Zwei


Die aufwendige Verfilmung von Der Herrn der Ringe, rückt das Werk von John Ronald Reuel Tolkiens erneut in das Bewusstsein und Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dass Tolkiens erzählerisches Werk aber weitaus mehr darstellt, als seine beiden erfolgreichen Romane, Der Hobbit und Der Herr der Ringe, bleibt, wie so oft, unberücksichtigt. Beide Bücher lassen zwar die Vielfalt tolkien`schens Erfindungsreichtums ahnen, doch sie befriedigen die Neugier und Wissensdurst des Lesers keineswegs. Geschickt bedient sich Tolkien der Kunst der vagen Andeutung, was Plot und Spannungsbogen seiner Erzählweise nutzt, dem Leser aber vieles vorenthält. Es lässt sich trefflich streiten, ob die Enthüllung des narrativen Hintergrunds den beiden Romanen schadet, oder ob es nicht lohnender für deren Verständnis ist, den ganzen Tolkien zu entdecken. Es gibt mindestens zwei Gründe, den Umfang und die Dichte der tolkien`schen Erzählungen auszuloten

  • Der Roman Der Herr der Ringe ist Bestandteil und Höhepunkt einer komplexen fiktiven Mythologie, die sich auf einem mythistorischen Hintergrund entfaltet, der 1918 mit den Erzählungen der Verschollenen Geschichten begann. Tolkien hat seinen Roman als einen integralen Bestandteil einer Mythologie verfasst, deren Umfang erst 1977 deutlich wurde, Jahrzehnte nach seiner ersten Veröffentlichung, und auch erst nachdem sein Sohn Christopher Das Silmarillion aus den Verschollenen Geschichten löste, kompilierte und postum publizierte.
  • Eine kommentierende Übersicht über das narrative Werk von J.R.R. Tolkien ist in Deutschland inzwischen überfällig, insbesondere da die umfangreiche wissenschaftliche Sekundärliteratur den deutschsprachigen Lesern Tolkien nicht leicht zugänglich ist.

Montag, 19. Dezember 2022

Im Inneren der Sprache


Die verschiedenen Bände der History of Middle-Earth, in denen sich die Mythologie der Quenta Silmarillion allmählich entwickelte, belegen, dass J.R.R. Tolkien die Gestalt des Earendil lebenslang beschäftigte. Die vielen verwirrenden Versionen und von einander abweichenden Details erläutern meine Studien über die Earendil-Saga. Das Verständnis einer mysteriösen, mit mannigfaltigen Spekulationen behafteten Persönlichkeit wie Earendil, seine Herkunft, in Mythos und wissenschaftlichem Diskurs, und insbesondere die Faszination und Wahrnehmung dieser mythischen Persönlichkeit durch Tolkien selbst; eine imaginative Begegnung fast mystischen Charakters, die in der Tiefen der Sprache wurzelt, in der Earendil in Erscheinung tritt.

Samstag, 17. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Eins


Und so wie das Sprechen ein Erfinden in Bezug auf Objekte und Ideen ist,
so ist der Mythos ein Erfinden in Bezug auf die Wahrheit
.1

I didn´t say in the same way, said Jeremy.
There are secondary planes or degrees
2.

»Rings um euch liegt die weite Welt:
Ihr mögt euch einzäunen, aber euer Zaun wird
sie nicht fernhalten.«
3

Christopher Tolkien und Humphrey Carpenter bezeichnen Tolkiens Texte wiederholt als Mythologie. Aber auch Tolkien selbst verwandte diese Bezeichnung für sein Werk, als er davon sprach, eine Mythologie für England schaffen zu wollen.4
Meines Erachtens trifft dieser Terminus das, was die moderne Literaturwissenschaft als phantastische Literatur bezeichnet nicht ganz, obwohl Tolkien sicherlich als Diskursivitätsbegründer gelten kann: als die „Mutter“ aller rezenten epischen High-Fantasy.5 Wenn Tolkiens Bemühen in der Schaffung einer Mythologie lag, dann schwebte ihm sicherlich eine Heldenmythologie, eine Heldenepik, wie der altenglische Beowulf vor.
In seinen alliterierenden Versdichtungen näherte er sich dem altenglisch-eddischen Heldenlied. Treffender ist es aber, den größten Teil der Texte Tolkiens als literarische Erzählungen zu bezeichnen, vergleichbar denjenigen der nordischen Sagaliteratur.6 Für seine narrativen Texte konzipierte Tolkien in seinen künstlichen Sprachen Quenya [Q] und Sindarin [S] einen eigenständigen Terminus, der diesen Sachverhalt beleuchtet: Q nyár-, erzählen, berichten.7 Auch die Earendil-Erzählung, deren Thema sich in die altnordische Mythologie verzweigt, steht, so wie Tolkien sie erzählt, der Saga näher als der Mythologie, der Tolkien den Impuls zu diesem Thema verdankt.8 Die philosophische Ebene, die der narrativen Ebene unterliegt, behandelt die großen mythologischen Themen: Tod, Wiedergeburt und das Schicksal der Kulturen Mittelerdes. Eng damit verknüpft sind Betrachtungen über Sterblichkeit und Ewiges Leben, ein Thema, das Tolkien als Große Flucht formuliert, die einst über den Geraden Weg (The Straight Road) führte, den die Angst der Menschen vor dem Tod schließlich krümmte. Dass Kritiker für Tolkiens Werk schon früh den Vorwurf des Eskapismus bemühten, darauf werde ich noch näher eingehen. Eine genauere Differenzierung macht allerdings deutlich, dass das Gegenteil wahr ist. Im seinem Essay Über Märchen bekennt sich Tolkien offensiv zum Märchen als eskapistischer Literatur und als Fluchtweg. In der Flucht, die für ihn weder verwerflich noch anstößig ist, sieht er die eigentliche Funktion des Märchens:

Donnerstag, 15. Dezember 2022

Tim Powers und der Steampunk


Der Autor

Tim Powers, ein amerikanischer SiFi-Autor, wurde am 29. Februar 1952 in Buffalo, New York, geboren und lebt heute im südkalifornischen San Bernardino.1 Robert A. Heinleins Roman2 Red Planet (1949) soll ihn so fasziniert haben, dass er im Alter von dreizehn Jahren erste Geschichten verfasste, die aber keinen Verleger fanden. Während seines Studiums befreundete er sich mit zwei anderen Autoren moderner amerikanischer Phantastik: James P. Blaylock3 und Kevin Wayne Jeter.4 Mit Philip K. Dick,5 der ein wichtiger literarischer Einfluss wurde, verband Tim Powers bis zu Dicks Tod (1982) eine langjährige Freundschaft. Die Person des David in Dicks Roman Valis (1981) basiert auf Powers Persönlichkeit. Tim Powers lehrt an der Orange County High School of the Arts und der Chapman University und ist gelegentlich einer der Lehrer in den Clarion Science Fiction & Fantasy Schreib-Kursen.
Bisher sind nur einige seiner Bücher in Deutschland publiziert. Mit The Anubis Gates (Die Tore zu Anubis Reich) erschien 1983 Tim Powers vierter Roman, ein Klassiker der Fantasy-Literatur, der mit dem Philip K. Dick Award ausgezeichnet wurde und weltweit Aufmerksamkeit fand.6

Montag, 12. Dezember 2022

J.R.R. Tolkien - Ein Autor des Jahrhunderts


»Remember what is gone -
The magic sun that lit Kortirion!«
1
J.R.R. Tolkien

John Ronald Reuel Tolkien ist Der Autor des Jahrhunderts, so jedenfalls sieht ihn Tom Shippey in seiner Darstellung des tolkienschen Werks. Jahre vorher hat Humphrey Carpenter eine Biographie des Autors vorgelegt, die sich ausführlich mit dem Mann und seinem Werk im Lebenslauf auseinandergesetzt hat.2