Montag, 16. September 2024

Tolkiens Elbenfreunde


Ideale sind wie Sterne:
Wir erreichen sie nie,
Wir können aber
- Wie der Seemann auf dem Meer -
Unseren Kurs nach ihnen ausrichten.
Carl Schurz

Ich weiß nicht mehr, wer gesagt hat, Schöpfung sei Erinnern. Meine eigenen Erfahrungen,
und das, was ich gelesen habe, bleiben mir im Gedächtnis und bilden die Grundlage für
meine schöpferische Arbeit. Aus dem Nichts heraus kann ich nichts schaffen
.
Akira Kurosawa

Wenn nicht John Ronald Reuel Tolkien, wer sonst wäre ein Elbenfreund. Der Titel Elbenfreund (Elendil) erinnert an den Herrn der Ringe, und die Leser*innen denken vielleicht an den Hobbit Frodo und seine Begleiter, vielleicht aber auch an die großen Vorfahren Aragons oder die steinernen Monumente der Argonath (S, die zwei edlen Steinernen). Als Frodo endlich den Entschluss fasste, seine Reise anzutreten und sich auf die Abenteuer einzulassen, die ihn entlang seines Weges erwarteten, begegnete ihm Gildor Inglorion aus Finrods Geschlecht. Kaum der Gefahr der Begegnung mit einem der Schwarzen Reiter entronnen, hörten die vier Hobbits den Gesang der Eldar (Elben):1

Doch in diesem Augenblick hörte man ein Singen, das von Gelächter unterbrochen wurde. Helle Stimmen drangen durch die sternklare Nacht. Der schwarze Schatten richtete sich auf, und zog sich zurück.

Als Gildor von der Gefahr erfuhr, aus der er die Hobbits gerettet hatte, lud er sie ein, sie ein Stück des Wegs zu begleiten. Frodo bedankte sich für den gewährten Schutz in der Hochsprache der Elben (Quenya), worauf Gildor erwiderte: Sagt nichts Geheimes! Hier ist ein Kundiger der Alten Sprache. Bilbo war ein guter Lehrer. Heil, Elbenfreund!2
In der nordgermanischen Mythologie stehen Elben, sie heißen dort Elfen, in innigem Bunde mit der Natur, verkörpern sie doch die geheimnisvollen, in der Stille wirkenden Kräfte atmosphärischer Mächte. Sie stehen dort in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu den Riesen, die als Vertreter ungezügelter natürlicher Atmosphären und Mächte auftreten. Dem Animismus zufolge soll die Existenz von Elfen aus dem Glauben an eine Beseeltheit der Natur herrühren, wobei Leben und Wachstum in der Natur auf eine Vorstellung von geistigen Entitäten zurückgeführt wird, dessen Träger die Elfen sind. Ein etymologischer Versuch, der sich an sinnverwandte Lexeme wie an. álfr oder ae. ælf, dän. elv oder schw. elf anlehnt, schwankt in der Grundbedeutung zwischen Schaden stiftenden, trügerischen Wesen und Lichtgeistern, beide wiederum vage mit einer vom menschlichen Körper als ätherische Gestalt losgelösten »Seele« zusammenhängend. Aufgrund der menschlichen Wahrnehmung treten sie diesem negativ oder positiv gegenüber, wobei die Eldar Tolkiens generell moralisch und tugendhaft sind, und dem Bösen, personifiziert in dem gefallenen Ainur (Erzengel) Morgoth und seinem Diener Sauron, feindlich gegenüberstehen. Wenn auch auf den ersten Blick verwischt, so enthält auch Tolkiens Werk die Differenz der nordischen Sagas, wenn er von guten Elben und bösen Orks berichtet, ein gegensätzliches Paar. Im Prozess einer innerethnischen Differenzierung gliedern sich die Eldar in Licht- und Dunkelelben, in der altnordischen Mythologie Elfen und Zwerge genannt, die in der fiktiven Mythologie Tolkiens als Kalaqendi und Moriqendi auftreten.3 Dass die Vorstellung von Elfen mit dem Glauben an die Seelen Verstorbener zusammenhängen könnte, bezeugt deren unterirdische Wohnung in den prähistorischen Hügelgräbern, aus denen manch einer mit goldenem Schatz beladen zurückkehrte. Andere wiederum verfielen dieser chthonischen Welt, kosteten vom Vergessenheitstrank der Unterirdischen, den verführerische und dämonische Gestalten ihm kredenzten, vergaßen ihr irdisches Leben und blieben für immer in den unterirdischen Hallen. Die Lichtelben, die wohltätigen Atmosphären der Luft und des Wetters, des Sonnenscheins und des Windes, treten als Begleiter der nordischen Gottheit Freyr auf. Sie bewohnen ausgedehnte, oberirdische Reiche in den Bergen, in wilden und unzugänglichen Schluchten, die Unsterblichkeitswiese oder Glanzgefilde heißen, und die mit Gold und Silber angefüllt sind. Ihre soziale Organisation ahmt die der Menschen nach. Es gibt unter ihnen Elfen- und Bergkönige, wie den aus Edvard Griegs Oper Peer Gynt. Bei Sonnenuntergang versammeln sie sich auf Wiesen, in einsamen und abgelegenen Waldgegenden, in denen besondere Bäume wachsen. Vor allem aber lieben die Elfen Tanz und Musik.

Unbeschreiblich ist der Zauber, den der Gesang der Elfen auf die ganze Natur ausübt, alles horcht auf und scheint gleichsam zu erstarren.4

Es sind die Lichtelfen, die Tolkien faszinierten, und die er Eldar oder Sterngeborne nannte. In der Erzählung von Beren und Lúthien setzte er dem elbischen Volk von Thingol und Melian ein Denkmal: Magisch gebannt erliegt der einsam im Wald umherstreifende Beren der erotisch anmutenden Anziehung der auf einer Lichtung unter Bäumen zu den Klängen der Harfe ihres Bruders Darions tanzenden Lúthien, die er Tinúviel (Nachtigal) ruft:

       Da irrte Beren durch den Wald,                      Da stürzt, beseelt von neuer Kraft,
       Vom Berge kam er her allein,                          Der Wanderer aus dem fernen Land
       Den Strom der Elben fand er bald                 Tinúviel nach in Leidenschaft,
       Und ging ihm voller Trauer nach.                  Er greift nach ihr mit Ungestüm.
       Doch plötzlich sah er einen Schein               Ein Mondstrahl bleibt ihm in der Hand,
       Von Licht in dunklem Waldgemach              Durchs Dickicht tanzt sie leicht dahin,
       Von wehenden Schleiern einen Schein        Lässt ungestillt die Leidenschaft,
       Und goldene Funken tausendfach.                Und er muss einsam weiterziehn
.5

Dieses Ergriffenheiterlebnis motivierte Beren der hybriden Forderung von Lúthiens Vater Thingol, der ein solcher Elfenkönig war, nachzukommen und einen der Silmaril aus Melkors Krone herauszubrechen, obwohl ihm diese mutige Tat letztlich das Leben kostete.

Die Lichtelfen sind aber auch geschickte und kunstvolle Handwerker und Techniker der Æsir, Alchemisten gleich, die Óðinns Speer Gungnir und seinen Ring Draupnir anfertigten, Sifs goldenes Haar, Freyjas Halsschmuck Brísingsamen, Freyrs Schiff Skíðblaðnir, seinen Eber Gullinborsti sowie die Fessel Gleipnir, die den Fenriswolf bezwang. In Tolkiens Mythologie übt der Noldor Fëanor, einer der Eldar, der die Silmaril schuf, diese hohe Kunstfertigkeit aus:

[...] a thing more fair than any of the Eldar yet had made. [...] A living fire burned within them that was blended from the light of the Two Trees; of their own radiance they shone even in the dark; no mortal flesh impure could touch them, but was withered and was scorched.6

Die gesamte Mythologie Mittelerdes dreht sich um diese drei Juwelen und um ihren rechtmäßigen beziehungsweise unrechtmäßigen Besitz, insbesondere jedoch um das Licht der Schöpfung, das Fëanor in die Silmaril einschloss. Die Habgier, den diese Kleinodien auslösten, zerstörte die Reiche Beleriands. Die um diese Juwelen geführten Kriege verursachten den Untergang Beleriands, dem Nordwestteil Mittelerdes, der wie Atlantis in einem Ragnarökr im Meer versank.
Die altnordische Sagaliteratur, aus der Tolkien reichlich schöpfte, ist reich an Erzählungen von kunstfertigen Schmiedearbeiten, von berühmten Waffen, Rüstungen und Schwertern. Die isländische Saga-Literatur erzählt von glitzernden Bergkristallen (Tolkiens Silmaril), von edlen Metallen und Steinen, die im Inneren der Berge gefördert und bearbeitet werden, und Zwergenarbeit genannt werden. Dass die Elfen auch über große Weisheit und Heilkunst verfügen, dafür steht der Dichtermet Óðrærir, der Sinnerreger, der Trank, den zwei Zwerge, Fjalarr und Galarr, aus Kvasirs Blut, der weisesten Persönlichkeit der Welt, brauten. Dichtkunst und Weisheit sind Tau aus Óðinns Gefäß oder Kessel, so eine Kenning der altnordischen Skalden.
Die altnordische Mythologie vereint Gut und Böse, Aufrichtigkeit und Niedertracht, in Wesen, die nicht eindeutig Elfen oder Zwerge sind. Es gibt allerdings die Elfen, die sich den Æsir anschließen, während diejenigen, die in den Bergen und unter der Erde wohnen, Zwerge, Unterirdische, heißen. Tolkien unterscheidet in seiner fiktiven Mythologie, vor allem aber im Herrn der Ringe, zwischen Licht (guten Elben) und Schatten (bösen Orks); beide scheidet er von den ambivalent handelnden Zwergen, die auch in Mittelerde eine von den Eldar unabhängige Ethnie sind.

Tolkiens Elbenfreunde sind Persönlichkeiten, die den Schönheiten der Natur und den erlebbaren, naturräumlichen Atmosphären offen gegenübertreten, deren Sinne ihrer natürlichen Umgebung nicht entfremdet sind, die wahrnehmen, was Reinhard Falter als naturräumliche Numina oder die anthroposophische Geisteswissenschaft als Elementarwesen bezeichnet.7
Elbenfreunde, wie Beren oder Frodo, durchstreifen Tolkiens secondary world fantasy. Ihr altenglisches Äquivalent ist der Eigenname Ælfwine. Als Oswin und Alboin, Eriol, Elwin und Elendil,8 treten sie in der Zeitreise-Erzählung The Lost Road erneut auf.9 Die Bedeutung des Konzepts der Elbenfreunde darf in Tolkiens fiktionaler Mythologie nicht unterbewertet werden. Eine zentrale Persönlichkeit in Tolkiens Erzählungen, eine, auf die er immer wieder zurückkommt, steht neben den großen Helden seiner fiktionalen Mythologie bescheiden im Hintergrund des Werks: Sie betritt als der Reisende und Seefahrer Eriol erstmals im Buch der Verschollenen Geschichten die mythographische Bühne Mittelerdes.10 In seinem Essay Über Märchen hat Tolkien die Begegnung zwischen Menschen und Elben beschrieben, die sich in einem Reich der Fährnisse oder in den Grenzbereichen ereignet, in die sich mutige Menschen und Elben vorwagen:

Und anders kann es auch nicht sein: denn wenn die Elben wahr sind und wirklich existieren, unabhängig davon, was wir über sie erzählen, so ist gewiß auch dies wahr: Die Elben sind nicht in erster Linie mit uns beschäftigt, so wenig wie wir mit ihnen. Sogar an den Grenzen des Elbenlandes kreuzen sich unsere Wege nur gelegentlich durch einen Zufall.11

Im gleichen Essay spricht Tolkien davon, dass dem Märchen (Faërie) eine Magie von besonderer Kraft und Gestimmtheit zukommt, und dass derjenige, der diese Grenze überschreitet, eine Tür in eine andere Zeit aufstösst,

und wenn wir über die Schwelle treten, und sei es auch nur für einen Augenblick, stehen wir außerhalb unserer Zeit, vielleicht außerhalb der Zeit überhaupt.12

Ein solcher Wanderer zwischen den Zeiten ist Eriol, dessen Abstammung Tolkiens Texte auf den Halb-Elben (Pereldar) Earendil zurückführen. Allerdings bleibt offen, ob diese Herkunft genealogisch oder ideell aufzufassen ist. In Die Hütte des Vergessenen Spiels spricht der Eldar Lindo anlässlich des Erzählens von Geschichten zu den Anwesenden:

Heute Abend nämlich unterhalten wir einen Gast, einen weitgereisten trefflichen Mann, einen Sohn Earendels, wie mich dünkt. Sollten wir also vom Reisen erzählen, von stürmischer Fahrt im Boot, vom Wind und vom Meer?13

Tolkiens Elbenfreunde dienen dem Autor als Alter Ego, die es ihm gestatten, sich im eigenen Werk zu bewegen; sie sind Vermittler zwischen Erzähler und Rezipient. In seinem Werk verwendet Tolkien zwei narrative Techniken, die für die Leser*innen seiner Erzählungen sowie die darüberhinausgehende Rezeption relevant sind:

  • Einerseits treten in Tolkiens Erzählungen Vermittler-Figuren auf, die zwischen den fiktiven, historischen Ereignissen, von denen erzählt wird, vermitteln, um ihnen in der Gegenwart Glaubwürdigkeit zu garantieren.
  • Andererseits macht Tolkien, wiederum vermittelt durch diese Figuren, eine fiktive, historisch-chronologische Tiefe des Erzählten glaubwürdig, knüpft an eine Geschichte hinter der Geschichte an, die den Leser*innen seiner Erzählungen als ein unauslotbarer Ozean der Ereignisse erscheint.

Wie Tolkien es selbst für seine Mitmenschen und Zeitgenossen tat, so übernehmen diese Vermittler in seinem Werk die Aufgabe der Überlieferung, Bewahrung und wissenschaftlichen Bearbeitung der Traditionen Mittelerdes, dies seit Tolkiens ersten Erzählungen im Buch der Verscholldenen Geschichten (1916-1917). Sie sind Reisende, Suchende und Sammler von Überlieferungen wie Eriol und Ælfwine, Überlieferungsträger wie Ilfiniol (Winzigherz) und Gilfanon oder Wissenschaftler wie Pengolod und Rúmil. Auf seine Biographie und dichterische Motivation bezogen, übernehmen diese Persönlichkeiten für Tolkien die Funktion eines Alter Ego, deren fiktive Präsenz ihm selbst eine mittelbare Teilnahme im Kosmos von Mittelerde ermöglichen. Tolkiens Elbenfreunde fungieren als Vermittler und Autor-Repräsentanz in seinem Werk. Stellvertretend anwesend, vermittelt der reale Autor Tolkien durch seine Elbenfreund-Instanzen letztlich selbst zwischen den einzelnen narrativen Ebenen, der fiktiven, historischen Chronologie oder zwischen verschiedenen kosmischen Ebenen (Mittelerde und Aman / Valinor). In seinen beiden Romanen, Der Hobbit und Der Herr der Ringe, haben die Hobbits Bilbo und Frodo Beutlin diese Rolle übernommen. Im postum publizierten Silmarillion hat der Herausgeber auf diese Erzählinstanz bedauerlicherweise verzichtet, ist die Stilebene ungebrochen und weit entfernt von jeder Vermittlung, sodass die dort präsentierte Sammlung von Mythen und Legenden schwerer lesbar erscheint, was die Kritik der 1970er Jahre diesem Werk dann auch einstimmig bescheinigte.
Erst in den Fragmenten der History of Middle Earth kommt man diesen besonderen Protagonisten der tolkienschen Welt richtig auf die Spur. Im Buch der Verschollenen Geschichten motivieren die Elbenfreunde und Reisenden Eriol oder Ælfwine die Elben in Kôr (Kortirion) dazu, ihre Überlieferungen preiszugeben.14 Durch die bewahrende Text- und Sinnpflege der Mythologie durch Ilfiniol und Gilfanon kann Eriol (alias Tolkien) diese für die Nachwelt erhalten.
Neben Eriol und Ælfwine erscheint schon früh in Tolkiens fiktionaler Mythologie ein weiterer Reisender, nämlich Earendil, der erste und bedeutendste unter den Seefahrenden Mittelerdes, eine Art christlicher Schutzpatron der Seefahrt. Dessen Biographie führt in Tolkiens Jugend, und an den Beginn seiner fiktionalen Mythologie Mittelerdes. Der wissenschaftlichen Arbeit des Sprachwissenschaftlers Pengolod von Gondolin (alias Tolkien) begegnet der Leser in den Lhammas15 einer sprachgeschichtlichen Abhandlung über die Elbensprachen, während der Historiker Rúmil von Tûn (alias Tolkien) die Schöpfungsgeschichte Ainulindalë aufgeschrieben, und sie so vor dem Vergessen bewahrt hat.16 Als ein anderes Alter Ego Tolkiens müssen wir sicher Fëanor (Feuer-Geist) sehen, den großen Alchemisten und Hermetiker der Noldor, der Tolkiens kreatives Ideal verkörpert. Fëanors kreatives Potential prägte nachhaltig das Schicksal aller Völker Mittelerdes im Ersten Zeitalter. Anders als die vorher genannten Persönlichkeiten eröffnete dieser Tolkien aber keine unmittelbaren Handlungsspielräume im eigenen Werk; er repräsentiert lediglich Tolkien schöpferische Haltung und Maxime.

Die bekannteste Alter-Ego-Figur in Tolkiens Werk ist der mächtigste der Zauberer im Hobbit und im Herrn der Ringe: die óðinnische Persönlichkeit Gandalf.17 Tolkien hat den Namen Gandálfr (d.h. der zauberkundige Albe) der Lieder-Edda (Völuspá 12) entlehnt, wo einer der dort genannten Zwergen diesen Namen trägt. Tolkiens Fantasie imaginierte die Bedeutung des Namens, den er als altnordisches Kompositum ansah: an. gandr, (Zauber-)Stab; álfr, Elb; deshalb Gandalf, Elb des (Zauber-)Stabes.18 Der Gandálfr der Lieder-Edda gehört zu den Lichtalben, und auch Gandalf-Olórin trägt Züge des lichtdurchwirkten Valinors. Tolkien amalgamiert allerdings andere Eigenschaften in die Persönlichkeit seiner berühmtesten Figur:

Der zuletzt angekommene Sendbote aber wurde bei den Elben Mithrandir genannt, der graue Pilger, denn er wohnte nirgendwo, erwarb sich weder Reichtum noch Anhänger, sondern zog unablässig kreuz und quer durch die Westlande, von Gondor nach Angmar und von Lindon nach Lórien, und in Zeiten der Not half er jedermann. Freundlich und lebhaft war sein Geist (der durch den Ring Narya befeuert wurde), denn er war der Feind Saurons, und dem Feuer, das verschlingt und verwüstet (plutonisches Feuer; H.W.J.), setzte er Feuer entgegen, das erwärmt und in Verzweiflung und Trübsal Trost spendet (prometheisches Feuer; HWJ); doch seine Freude und sein Zorn waren mit aschgrauen Gewändern verhüllt, so daß nur jene, die ihn gut kannten, die Flamme erspähten (die unvergängliche Flamme; HWJ), die darunter brannte. [...] Meistens reiste er unermüdlich zu Fuß, gestützt auf seinen Stab; und darum wurde er unter den Menschen des Nordens Gandalf genannt, »der Elb des Stabes«. Denn sie glaubten, er sei aus dem Geschlecht der Elben (obgleich dies ein Irrtum war, wie schon gesagt worden ist), weil er manchmal bei ihnen Wunderdinge vollbrachte, besonders durch seine Vorliebe für die Schönheit des Feuer; [...].19

Majorie Burns hat diese óðinnischen Persönlichkeitszüge Gandalfs herausgearbeitet, was angesichts von Tolkiens Eigenheit, in seinen Erzählungen dichte, insbesondere keltische und altnordische mythologische Bezüge zu komponieren, kompliziert ist. Sie weist berechtigt darauf hin, dass den Gandalf des Hobbits und des Herrn der Ringe die positiven Eigenschaften Óðinns auszeichnen (Gestaltwandel, Runenkenntnis, magische Beschwörung), während Sauron und Saruman Óðinns negative Züge zeigen (Zerstörung, Tod, Schlacht, Dämonen), die óðinnischen Persönlichkeitszüge, verteilt entlang einer moralischen Demarkationslinie, die das prometheische Antlitz Gandalfs vom plutonischen Saurons trennt:

In The Lord of the Rings we have Gandalf, a positive figure of Odin, fighting for the good and sent to Middle-earth. We also have Sauron (who works for Morgoth) and Sauron´s imitator Saruman, both of whom are based on negative images of Odin.20

Im Silmarillion, in Nachrichten aus Mittelerde und der History of Middle-Earth finden sich zahlreiche Belege dafür, dass Tolkien die óðinnische Persönlichkeit auch in den Göttern Manwë und Melkor-Morgoth deponiert hat, erneut moralisch, in gut und böse, aufgeteilt. Im Buch der Verschollenen Geschichten diskutieren Eriol und die Eldar über ihre Götter, und die Eldar identifizieren Eriols Gott Wóden mit ihrem Gott Manweg (später verändert zu Manwë):

Es heißt dann weiter, daß Eriol den Feen von Wóden, Þunor, Tíw etc. erzählte (dies sind die altenglischen Namen der Götter Odin, Thor und Tyr), und sie identifizieren sie mit Manweg, Tulkas und einem dritten Gott, dessen Name nicht zu entziffern ist. Eriol nahm den Namen Angol an.21

Wie Óðinn ist Manwë weitsichtig, sitzt in seinem Turm auf der höchsten Spitze des Taniquetil, wie Óðinn auf Hliðskálf, beiden tragen Vögel Nachrichten zu; und beide lieben Dichtung und Gesang. Für Manwë, der wie Óðinn ein Himmelsgott ist, fand Tolkien den altenglischen Namen Wolcenfréa,22 Himmelsherrscher. An den nordischen Ragnarökr erinnert die Letzte Schlacht (die Dagor Dagorath), wenn Melkor durch die Tore der Nacht zurückkehrt, und Fionwë (Viðar), Manwës Sohn, ihm auf den Feldern Valinors entgegentritt, und ihn mit Túrins Unterstützung besiegt.
In Mittelerde kennt man Gandalf unter vielen Namen, die nach der Art der altnordischen, poetischen Synonyme für Hauptwörter (an. heiti) geformt sind:

»Der Graue Pilger?«, sagte Frodo. »Hatte er noch einen Namen?«
»Mithrandir nannten wir ihn nach Elbenart«, sagte Faramir, »und ihm war es recht. Viel Namen in vielen Ländern hab ich, hat er gesagt,. Mithrandir bei den Elben, Tharkûn bei den Zwergen; Olórin hieß ich in meiner Jugend im Westen, der nun vergessen ist, im Süden Incánus, im Norden Gandalf; in den Osten gehe ich nicht.«23

Wie der maskierte Óðinn der altnordischen Edda durchquert er, bärtig, mit tief ins Gesicht gezogenem Hut, blauem Mantel und Stab Mittelerde, Mithrandir, Grauer Pilger, wie in die Eldar nennen. Und auch von Óðinn weiß die altnordische Literatur zu berichten, dass dieser verkleidet Midgarðr (Mittelerde), die menschliche Welt, bereiste, auf der Suche nach Wissen und den Menschen zu Diensten. All dies bestärkt die Verbindung Gandalfs mit Óðinn, und darüber hinaus mit Manwë selbst. In einer dunklen Stelle der Nachrichten aus Mittelerde fragt sich, neugierg forschend, Tolkien selbst: Wer ist Gandalf?24 und kommt zu der überraschenden Antwort, dass es möglich sein könnte, dass Gandalf und Manwë höchst wahrscheinlich identisch sind:

Nonetheless, the very fact that Tolkien toyed with the idea of making Gandalf and Manwë one is highly indicative. Even if we disregard the possibility of Gandalf serving as Manwë´s earthly manifestation, Gandalf´s ties to Odin are made firmer by his association with Manwë who is more directly and more openly based on Odin than Gandalf is in either The Lord of the Ring or the History books. [...] Whatever else he is, Gandalf is a representative of Manwë; and when is travels through the world at Manwë´s behest, dressed as Odin, this reflects on Manwë as well.25

Die gleiche Stelle in Nachrichten aus Mittelerde enthüllt, wenn auch mit der gleichen Unsicherheit behaftet, den wirklichen Namen Gandalfs. Vor seiner Ankunft in Mittelerde26 war Gandalf der Maia Olórin, der in Lóriens Gärten wohnte (nicht das irische Reich der Galadriel im Herrn der Ringe).27 Olórin stand der Vala Niënna nahe, der Tränenreichen und Mitleidvollen, die alles Leid der Welt beweinte, um es so zu überwinden; gleichzeitig ist er aber auch Ratgeber Irmos. Niënna, Olórins engste Vertraute, ist die Schwester der Fëanturi Irmo (oder Lórien) und Námo (oder Mandos), des Herrn der Geister, insofern ist zumindest die südländische Bezeichnung Incánus nachvollziehbar. Námo ist Herrscher über die Gefilde der Häuser der Toten, der auch die Geister der Erschlagenen zu sich ruft. Irmo (der einst Olofantur hieß), sein Bruder, ist Herr über Träume und Visionen. Seine Gattin Este, die Vala der Heilkunst und der Ruhe, befreit von Unrast und Müdigkeit; sie erquickt die Unsterblichen, wenn diese der Ruhe und Entspannung bedürfen, denn Irmos Garten Lórien ist der schönste Ort in Valinor. Über die mythologische Funktion der Vala Niënna, ihrer Schwester, gibt Tolkien in der Valaquenta Auskunft, wo es von ihr heißt, sie sei

acquainted with grief, and mourns for every wound that Arda has suffered in the marring of Melkor. So great was her sorrow, as the music unfolded, that her song turned to lamentation long before its end, and the sound of mourning was woven into the themes of the World before it began. But she does not weep for herself; and those who hearken to her learn pity, and endurance in hope.28

Im Kontext der schon angesprochenen Stelle, Wer ist Gandalf?, kommt Tolkien zu der Auffassung, man werde über Olórin nie mehr erfahren, als das, was er in Gandalfs Gestalt ist.29 Er korrigiert diese Auffassung allerdings später. Wenn auch nicht befriedigend, lässt er dennoch durchblicken, warum Gandalf in Valinor Olórin heißt, und knüpft dabei unmittelbar an die óðinnischen Fähigkeiten der Vision und der imaginativen Einbildungskraft an:

Olor ist ein des öfteren als »Traum« übersetztes Wort, das sich aber nicht auf (zumeist) menschliche »Träume« bezieht, gewiß nicht auf das Träumen im Schlaf. Für die Eldar schloß es die lebendigen Inhalte ihrer Erinnerung wie die ihrer Einbildungskraft ein: tatsächlich bezog es sich auf eine deutliche Vision im geistigen Raum, auf Dinge, die körperlich, materiell nicht anwesend sind.30

Dies ist anscheinend eine späte Etymologie des Lexems olor, da in den Etymologies diese erweiterte Bedeutung noch nicht enthalten ist. In den Nachrichten aus Mittelerde liefert Tolkien aber die entsprechend korrigierte Etymologie nach:

olo-s, Gesicht, Vision, »Phantasieren«: gebräuchliche elbische Bezeichnung für »geistige Konstruktion«, die in Ea, unabhängig von der Konstruktion eigentlich nicht (vorher) vorhanden war, die jedoch von den Eldar mittels Kunst (karme) sichtbar und erfühlbar gemacht werden konnte. Olos wird gewöhnlich auf schöne Gebilde angewendet, die einzig einen künstlerischen Zweck haben (d.h., die nicht als Gegenstand der Täuschung oder des Machtgewinns zu begreifen sind).31

Doch diese Vorstellung ist nicht ganz neu und unerwartet, unterliegt sie doch der Fähigkeit zur lámatyáve (dem Sprachgeschmack), der persönlichen Vorliebe für den Klang bestimmter Wörter. Auch im Kontext der träumenden Vermittler der tolkienschen Texte, wie Eriol und Earendil, ist die Erweiterung der Bedeutung von olos interessant. Aus dem westlichen Lórien, das im Herrn der Ringe Teil des verlorenen Landes ist, bezieht Gandalf seine Aufgabe; von dorther stammen seine Fähigkeiten, Mitleid und unerschütterliche Hoffnung, und von dort her hat er Anteil an den Gaben Irmos, an Traum und Vision, wie sein Name bestätigt. Dieser Name ist ein weiteres Indiz für die Beziehung Gandalfs zu Óðinn, der seine Fähigkeit zu Vision und Ekstase dem Met Óðrærir verdankt. Neben der Macht über die unvergängliche Flamme, verfügt Gandalf mit Olufanturs Gaben über eine weitere Fähigkeit, die Göttern eignet:

obwohl er die Elben liebte, ging er unter ihnen ungesehen oder in Gestalt eines der ihren, und sie wußten nicht, woher die schönen Gesichte kamen oder die weisen Ratschläge, die er ihnen ins Herz tat.32

In den Herzen derjenigen, die ihm zuhören, erwachen Gedanken an schöne Dinge (Kunst, Q carme), die noch nicht dagewesen waren. Besonders die letzte Fähigkeit rückt ihn in die Nähe des keltischen Merlin, dem ähnliche Attribute zugesprochen werden, wie dem nordischen Óðinn. Gandalfs eigentlicher Name, Olórin, bedeutet Wesen der Träume, nicht der Träume im Schlaf, sondern der Visionen und Wachträume.33 Gandalfs Herkunft aus Lórien, dem Traumland im Westen, seine Zugehörigkeit zum Gefolge der Valar Irmo und Niënna, weist erneut auf die Quelle seiner, im Herrn der Ringe erstaunlichen, den meisten Leser*innen wenig verständlichen Macht. Noch erstaunlicher aber ist die Reise Earendils in den Westen, woher Gandalf kam, und die Existenz eines Pfades, den die Eldar Straße der Träume (Q olóre malle) nennen, auf denen Eriol zu ihnen kam.

In der Kurzgeschichte Blatt von Tüftler fasst Tolkien diese Einstellung in der Allegorie des Bildes eines Baumes erneut auf. Gleichzeitig beschreibt er in der Arbeitsweise des Malers Tüftler (Niggle) die Methode, der wir seine fiktive Mythologie verdanken:

Insbesondere ein Bild machte ihm Kummer. Es hatte angefangen mit einem Blatt, das im Winde wehte, und es wurde ein Baum; und der Baum wuchs, er streckte unzählige Äste aus und bekam ganz phantastische Wurzeln. Seltsame Vögel kamen angeflogen und setzten sich auf seine Zweige und mußten auch betreut werden. Dann begann überall um den Baum herum und hinter ihm und in den Lücken zwischen den Blättern und dem Geäst eine Landschaft sich auszubreiten; undeutlich sah man einen Wald, der sich über das Land hinzog, und Berge mit schneebedeckten Gipfeln. Tüftler verlor das Interesse an seinen anderen Bildern; oder er nahm sie und befestigte sie an den Rändern seines großen Bildes. Bald wurde die Leinwand so riesig, daß er eine Leiter brauchte; und er kletterte hinauf und hinunter, tupfte hier einen Pinselstrich hin und rieb dort ein Fleckchen wieder weg.34

Tüftlers Leben reichte nicht aus, dieses gewaltige Panorama eines Baumes zu vollenden, wie auch Tolkien die ihm so wichtige Quenta Silmarillion unvollendet zurücklassen musste. Tüftler, das wissen wir aus Tolkiens Erzählung, war es vergönnt, sein Lebenswerk nach seinem Tode Wirklichkeit werden zu lassen. In einer jenseitigen Lebenswelt (Tolkiens sekundärer Wirklichkeit) vollendet er zusammen mit seinem Nachbarn sein Bild als reale Landschaft:

Vor ihm stand ein Baum, sein BAUM, fertig. Wenn man das von einem lebenden Baum sagen kann, dessen Blätter sich entrollen, dessen Äste wachsen und sich im Wind biegen, was Tüftler oft gespürt oder geahnt und so oft nicht hatte einfangen können. [...]
„Können Sie mir sagen, wie dieses Land heißt?“
„Das wissen Sie nicht? Wunderte sich der Mann. „Es ist Tüftlers Land. Es ist Tüftlers Bild, oder das meiste davon [...].35

In der primären Welt bleibt nach seinem Tode nur ein Blatt, dass zuallerletzt einem Museumsbrand zum Opfer fällt.

Einige gemeinsame Merkmal charakterisieren Tolkiens Vermittler-Figuren und weist sie gleichzeitig als das andere Ich ihres Schöpfers aus, ihre Sehnsucht

  • nach der heilen mythischen Zeit, am Beginn der Welt und allen Seins,
  • nach dem sakralen, der alltäglichen Zeit entrückten Raum, zumeist symbolisiert durch das Große (trennende) Meer, die Valinor umhüllenden Berge (Pelori) und
  • nach den jenseits dieses Ozeans im Westen gelegenen Insel Tol Eressëa und den Ländern Aman / Valinor.

Tolkiens und Eriols Sehnsucht richten sich auf das gleiche Ziel: auf die verlorene mythische Zeit, das verlorene Paradies auf Erden, auf das Elysium der griechischen Mythologie, deren Schönheit Pindar preist:

Dort umwehen die Insel der Seligen Lüfte des Okeanos und goldene Blüten flammen da, einige auf dem Land an herrlichen Bäumen, andere nährt das Wasser. Aus diesen winden sie Girlanden um ihre Hände und flechten sich Kränze. [...] Dort liegen vor ihrer Stadt Wiesen mit purpurnen Rosen, beschattet vom Weihrauchbaum und schwer beladen mit goldenen Früchten. Einige freuen sich an Rosen und am Ringkampf, andere am Brettspiel, wieder andere an der Leier, und jede Art von Glück blüht bei ihnen in segensreicher Fülle. Wohlgeruch breitet sich über die liebliche Flur, während sie alle Arten von Räucherwerk auf den Altären der Götter im weitleuchteten Feuer zu mischen pflegen.36

Eriol und Ælfwine, aber auch Earendil, brechen von Sehnsucht getrieben auf, diese Länder zu suchen; die Elben im Herrn der Ringe, aber auch der Hobbit Frodo, verlassen Mittelerde von den Grauen Anfurten aus gen Westen. Das Thema der Großen Flucht durchdringt Tolkiens gesamtes Werk, und hat ihm den Vorwurf des Eskapismus eingetragen. Schon 1916 oder 1917 erscheint dieses Thema mit den Zeitreisenden Eriol (»Einer, der für sich träumt«), kehrt dann in der fragmentarischen Zeitreisegeschichte The Lost Road genauso wieder, wie in The Notion Club Papers37 und in vielen seiner Gedichte.
Der Tod gehört zu den Unvermeidlichkeiten der menschlichen Existenz. Die griechische Lyrik nennt die Menschen die dem Tage Ausgesetzten (ephemeroi) und Heidegger spricht von der Endlichkeit menschlicher Existenz. Die Vorstellungen von Zeit, Wandel und Vergänglichkeit sowie die Gestaltung des Sterbens sind kulturspezifisch unterschiedlich, dies ist auch in Tolkiens Schriften so. In der Auseinandersetzung mit dem Tod entwickelt jede Kultur eigene Überzeugungen, Strategien und Tröstungen. In Tolkiens Werk ist die Bewältigung der Vergänglichkeit in seinen verschiedenen Ausprägungen als Tod, Langlebigkeit und Unsterblichkeit das zentrale Motiv und wichtigste Motivation des Autors, die er seinen Vermittler-Figuren immer wieder in den Mund legt. Und es ist diese Auseinandersetzung, die ihm den Vorwurf seiner Kritiker einbrachte, er rede mit seinen Erzählungen und Romanen Eskapismus und Realitätsflucht das Wort. Doch nicht die Flucht aus der Realität ist Tolkiens Anliegen. Er schreibt über die Flucht in die Realität, die gleichermaßen Basis und Motivation seines Schaffens bildet, skizziert die Möglichkeiten und Fähigkeiten, in einer widerständigen Realität menschenwürdig zu leben. Was Tolkien umtreibt ist die Sehnsucht nach einer besseren Realität, dem Weg nach Hause, die seine Konzeption der Großen Flucht begründet. Tolkien empfindet wie die Edain (Menschen) seiner fiktionalen Mythologie, von denen die Eldar (Elben) sagen, sie seien Gäste oder Fremde in Mittelerde, die durch Mühe und Leid ihrer ewigen Heimat entgegenziehen. Tolkiens Gedicht Das letzte Schiff handelt von dieser Reise, die das Mädchen Fíriel noch nicht bereit ist anzutreten; sie ist noch zu jung um zu sterben, will die Reise nach Westen nur in Fantasie oder Traum antreten.
Besonders anschaulich hat Tolkien diese Flucht in der Biographie und in der Mission Earendils geschildert. Der Fall der Menschen unter Morgoths Einfluss ereignete sich in der Vergangenheit, ihre Erlösung wird in ferner Zukunft stattfinden. Die Menschen Beleriands, die sich vom Bösen abwandten, und die Dunkelheit flohen, blickten hoffnungsvoll nach Westen, ins Elysium Aman-Valinor, das später Earendil verzweifelt sucht, und erst nach langer Irrfahrt findet.38 Earendil, einer der Pereldar, halb Edain und halb Eldar, vermittelt zwischen diesen beiden Polen, Licht und Dunkel, gut und böse; seine Himmelfahrt enthält die Hoffnung auf eine Erlösung in der Zukunft. In der Gegenwart leitet seine Botschaft an die Valar den Sieg über das Böse (Morgoth) ein.39

Die Phantastische Literatur hat die Mythologie inzwischen endgültig abgelöst. Dies ist besonders dann richtig, wenn man die unterschiedliche Popularität und Bekanntheit beider Genres bedenkt. Die Funktion aber, die beide Gattungen für den Menschen erfüllen, korrespondieren erheblich miteinander. Die Suche nach einer die Grenzen seiner Realität transzendierenden Methode gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, oft als „Reise des Helden“ metaphorisch erzählt.40 Die sein Alltagsleben dominierenden dürren Fakten strukturierter und routinierter Prozesse machen die Annahme eines über ihn selbst und seine Lebenswelt hinausgehenden Anderen attraktiv. Was Carl Gustav Jung in seiner Theorie der Archetypen als ein inneres Bilderschöpfen beschrieben hat, in die soziale Situation projiziert und diese rahmt, veranlasste Tolkien zu einer literarischen Produktion von Parallelwelten, in die er und seine Leser sich wie in die eigene psychische Innenwelt zurückziehen können:

Fantasy draws much of its strength from certain desires for enrichment of life: the desire to survey vast depths of space and time, the desire to behold marvellous creatures, the desire to share the speech of animals, the desire to escape from the ancient limitations of primary world condition.41

Mit der Konstruktion von Sekundärwelten, im traumverwandten Nebenschöpfertum des Dichters und Schriftstellers, sah J.R.R. Tolkien seine eigentliche Aufgabe.42 Die ungebrochene Anziehungskraft postmoderner Fantasy-Literatur, die durch Tolkiens Werk ihren entscheidenden Auftrieb erhielt, wurzelt in dem überwältigenden menschlichen Bedürfnis nach Transzendenz alltäglicher Beschränkungen und der Suche nach einer Ordnung und Bedeutung im Leben.

Anmerkungen und Quellen

1 [ Q - Quenya; S - Sindarin ] Q eldar, Sternenvolk; elen, Stern. Proto-Quenya EL- (Tolkien, HME, V.355); Ela! Sieh da! Tolkien erzählt, dass die Eldar am See Cuivíenen (Q Wasser des Erwachens; Q cuivea, das Erwachen) erwachten, und als sie über sich den sternenbedeckten Himmel sahen, entfuhr ihnen aus Überraschung der Ausruf Ela!, der zu ihrem Namen führte (Tolkien, SIL.61-62 deutsch; vgl. a. den sprachwissenschaftlichen Essay: Tolkien, Quendi und Eldar, in: J.R.R. Tolkien, The History of Middle-Earth, Volume XI: The War of the Jewels, edited by Christopher Tolkien, London, 1995:357ff. [HME, XI]).
2 Tolkien, HdR 1. 105 und 107 Carroux.
3 Q kala, Licht, hell, glänzend; Q more, schwarz, dunkel. Qendi (Q), die Sprechenden, weil die Eldar, nachdem sie erwacht waren, noch keine anderen sprechenden Wesen kannten. In den Etymologies KWEN(ED), Elb, Q qende, Elb (HME, V.366). Vgl. a. Tolkien, Quendi and Eldar, wo Proto-Quenya kwene, Person (Pl. kwenī) bedeutet (HME, XI.360). In den Lhammas, einem früheren linguistischen Text über Elbensprachen, schreibt Tolkien: From the beginning the Valar had speech, and after they came into the world they wrought their tongue for the naming and gloryfying of all things. In after ages at their appointed time the Qendi (who are the elves) awoke beside Kuivíenen, the Waters of Awakening, under the stars (elen; H.W.J.; s.o. Anm. 133) in the midst of Middle-Earth (HME, V.168). 4 Paul Hermann, Nordische Mythologie, Berlin, 1992:75-76. 5 Tolkien, HdR 1.237-238 Carroux.
6 Tolkien, HME, IV.88. 7 Vgl. Reinhard Falter, Erfahrungsreligion; Naturgeister. Vom Wirken der Elementarwesen, Flensburger Hefte 55, IV/96, Flensburg, 1996.
8 Q elen, Stern, S êl, Stern; Q ndil, treu, ergeben, uneigennützig lieben; in Eigennamen wie Earendil, Aiwendil, Amandil, Valandil (HME, V.355). Da nun dachte Eriol (denn so nannte ihn das Inselvolk später, und es bedeutet »Einer, der einsam träumt« (Tolkien, Verschollene Geschichten, Bd.1:22).
9 J.R.R. Tolkien, The Lost Road (HME, V.36-104).
10 J.R.R. Tolkien, Die Hütte des vergessenen Spiels (VG 1.21-97).
11 Tolkien, Märchen, 141-208. Vgl. a. Carpenter, Biographie, 146-147.
12 Tolkien, Märchen, 147 und 165.
13 Tolkien, VG I.28; vgl. auch VG 1.36.
14 Tolkien, VG 1.21-22 bzw. VG 2.395ff.
15 Tolkien, HME, V.167.
16 Tolkien, HME, V.155.
17 Verlyn Flieger hat bereits 1977 in ihrer Dissertation darauf hingewiesen, dass in Gandalfs Charakter Merlin und Óðinn ihre Spuren hinterlassen haben (Verlyn Brown Flieger, Medieval Epic and Romance Motifs in J.R.R. Tolkien´s The Lord of the Rings, Ph.D.diss., Catholic University of America, 1977). Ebenfalls: Mitzi M. Brunsdale, Norse Mythological Elements in The Hobbit, Mythlore 9, 1983.
18 Vgl. a. Tolkien, Nachrichten, 509. Vgl. Jan de Vries für an. gandr, Zauberstab, Zauberei (Altnordisches Etymologisches Wörterbuch, Leiden, 1962:155 [AEW]); abweichend davon Walter Baetke (Wörterbuch zur nordischen Prosaliteratur, Berlin, 1993:181 [WNP]): an. gandr, Zaubertier, -ding; gand-reið, Hexenritt, Zauberritt, sowie Baetkes Übersetzung, Zaubertier, lassen an einen Zusammenhang des Stabes mit dem für Óðinn und die altnordische Kultur gut belegten schamanistischen Konzepten Hilfsgeist, Gestaltwandel und Unterweltsfahrt mit Hilfe dieses Stabes denken (s.a. Burns, Gandalf, 221), dessen Spitze treffend mit einer Vogeldarstellung verziert sein könnte.
Brunsdale, Norse Mythological Elements in The Hobbit, Mythlore 9, 1983.
19 Tolkien, Nachrichten, 508-509. Im gleichen Zusammenhang heißt es auch, dass Gandalf, nach seinem Tod im Kampf gegen den Balrog (HdR 1.399 Carroux) in Weiß gekleidet wiedergeboren wird, und eine strahlende Flamme wurde (doch noch verhüllt, außer in großer Not). Vgl. a. Tolkien, Nachrichten, 519, wo es ebenfalls heißt, dass von Gandalf angenommen wurde, er gehöre zu den Eldar, und er deshalb diesen Namen bekam.
20 Burns, Gandalf, 227.
21 Tolkien, VG 2.371.
22 Tolkien, HME, IV.208: Manwë is Wolcenfréa [O.E. wolcen, ´sky´; cf. Modern English welkin].
23 Tolkien, HdR 4.708, Krege. Mithrandir, der Graue Pilger (S mithren, grau; S r(h)andir, Wanderer); Tharkûn, Stab-Mann (Khuzdûl-Lexem; Zwergensprache); Olórin (vgl. Tolkien, Ungeheuer, 34); Incánus, semantisch ambivalent: Nordspion bzw. Geisterherrscher. Die Bedeutung des Namens Incánus, Geisterherrscher, ist unsicher. Tolkien vermutet, dass er aus einer frühen Form des Quenya stammt, das von Gebildeten in Gondor gesprochen wurde: Unter dieser Voraussetzung ist eine Etymologie aus den Quenya-Elementen in(id)-, »Geist«, und kann-, »Herrscher«, vorstellbar, besonders in den Formen cáno, cánu, »Herrscher, Statthalter, Anführer«. Ch. Tolkien weist auf die allzu auffällige Beziehung zu lat. incanus, grauhaarig hin, womit man wieder bei Óðinn ankommt. Für Gandalfs Ankunft in Mittelerde vgl. Tolkien, Die Istari, in: Nachrichten, 505-520: [...] und zuletzt kam einer, der der geringste von allen zu sein schien: kleiner als die übrigen und älter aussehend, grauhaarig und grau gekleidet und auf einen Stab gestützt. Doch seit ihrem ersten Treffen bei den Grauen Anfurten erkannte Círdan in ihm den bedeutendsten und klügsten Geist; und er hieß ihn ehrerbietig willkommen, und er gab den Dritten Ring, Narya den Roten, in seine Obhut. Q ista, wissen, von PQ, IS- (Etymologies, HME, V.361).
24 Tolkien, Nachrichten, 514.
25 Burns, Gandalf, 229. Auf einem Notizblatt seines Vaters findet Ch. Tolkien die Bemerkung, dass Olórin zu Manwë und Varda gehört (Tolkien, Nachrichten, 511). Die dort weiter vorgenommenen Zuordnungen einzelner Istari zu einem der Vala, lassen die Vermutung zu, dass die Istari Inkarnationen der Valar sein könnten, ähnlich den Inkarnationen (Avatāra) des indischen Wishnu wie Krishna und Ramā. Wie Gandalf so gehört auch Ramā dem Typus des Wanderhelden an, der durch die Welt zieht und mit Dämonen und anderen überirdischen Wesen kämpft, um die Menschen von ihnen zu befreien. In Gestalt des Avatāra steigt Wishnu auf die Erde herab, um die verlorengegangene Ordnung der Welt wieder herzustellen. Auch hier zeigt sich, wie Tolkiens Kreativität nicht an einzelnen Mythologemen hängt, und sie für seine Zwecke abwandelt und übernimmt, sondern dass er imaginativ an das Potential innerpsychischer Archetypen anknüpft, die zu jeder Zeit, und in jeder Kultur, menschliches Mythenschaffen inaugurieren. Tolkien selbst hielt die Istari für Maiar bzw. Geister, Gestalten eines »engelgleichen« Ordens, wenn auch nicht notwendigerweise von gleichem Rang. Die Maiar waren »Geister«, doch zur Selbst-Verkörperung fähig, und sie konnten »menschliche« (insbesondere elbische) Gestalt annehmen (Tolkien, Nachrichten, 513).
26 Denn es heißt in der Tat, daß die Istari, wenn sie körperliche Gestalt angenommen hatten, durch allmähliche Erfahrung viel Neues lernen mußten, und obgleich sie wußten, woher sie kamen, war die Erinnerung an das Segensreich für sie eine Vision aus weiter Ferne, nach dem sie sich (solange sie ihrem Auftrag treu blieben) aufs äußerste sehnten. So sollten sie aus freien Stücken die Qualen des Exils und die Ränke Saurons erdulden und das Böse jener Zeit wieder gut machen (Tolkien, Nachrichten, 508). Tolkien mag hinsichtlich der Istari (der Wissenden) an die Bodhisattva, im Mahāyāna-Buddhismus Bezeichnung einer Gestalt, die dazu bestimmt ist, Buddha zu werden, aber auf die eigene Erlösung verzichtet, um zum Heile anderer zu wirken. Der Bodhisattva-Gedanke klingt auch in einer weiteren Stelle an, als nämlich in Valinor entschieden wird, wer nach Mittelerde geht, um Sauron zu widerstehen, heißt es: Denn sie mußten mächtig sein, Sauron ebenbürtig, doch sie mußten der Macht entsagen, sich selbst mit einem Leib bekleiden, so daß sie mit Elben und Menschen auf einer Stufe standen und ihr Vertrauen gewinnen konnten (Tolkien, Nachrichten, 511).
27 Lóriens Gärten heißt das Traumland im Inneren Valinors, das der Wohnsitz des Vala Irmo ist. Irmo lebt hier mit seiner Gattin Este, die tagsüber am See Lórellin schläft; hier erquickt Irmo die Unsterblichen, wenn diese der Ruhe und Erholung bedürfen. In VG 1.28-29 erzählt Tolkien, dass die Menschen früher in ihren Träumen über den Olóre malle Lóriens Gärten besuchten. Vgl. a. die Funktion der Rückseite des Mondes in J.R.R. Tolkien, Roverandom, Stuttgart, 1999:52.
28 J.R.R. Tolkien, Valaquenta, SIL.19.
29 Tolkien, Nachrichten, 514.
30 Tolkien, Nachrichten, 515.
31 Tolkien, Nachrichten, 515-516. Weitere Derivate folgen : olóre, schlafen, schlummern, olosta, träumerisch ; Olofantur, Meister der Gesichte und Träume, der frühere Name des Herrn von Lórien, bevor er im Silmarillion in Irmo ungewandelt wurde. Vgl. a. Proto-Quenya OLOS-; Q olo(s), Gesicht, Vision, Traum, Vorstellung; S ôl, Traum, oltha, träumen (PQ OLOS- vgl. Etymologies, HME, V.379).
32 Diese Seite von Gandalfs Persönlichkeit erinnert an den auktorialen Erzähler, der Tolkiens ist: allwissend, olympisch, seine Erzählung von außerhalb der erzählten Welt steuernd, kommentierend und bewertend.
33 Olórin, Wesen der Träume (Proto-Quenya OLOS-; Q olo(s), Gesicht, Vision, Traum, Vorstellung; S ôl, Traum, oltha, träumen (PQ OLOS- vgl. Etymologies, HME, V.379).
34 Tolkien, Tüftler, 135.
35 Tolkien, Tüftler, 151 und 156.
36 Herbert J. Rose, Griechische Mythologie. Ein Handbuch, München, 1969:73-74. Doch es muss nicht Pindar sein, denn auch in der Vǫluspá ist die Rede von einem paradiesichen Zustand nach der Götterdämmerung: 48: Wieder werden / die wundersamen / goldnen Tafeln / im Gras sich finden, / die vor Urtagen / ihr eigen waren. 49: Unbesät werden / Äcker tragen; / Böses wird besser / Balder kehrt heim [der eine Lichtgestalt wie Gandalf ist]. 51: Einen Saal seh ich, / sonnenglänzend, / mit Gold gedeckt, / zu Gimle stehn: / wohnen werden / dort wack`re Scharen, / der Freuden walten / in ferner Zeit.
37 J.R.R. Tolkien, The Notion Club Papers, in: HME, IX.145-327.
38 The Fall of Man is in the past and off stage; the Redemption of man in the far future (Kevin Aldrich, The Sense of Time in Tolkien´s The Lord of the Rings, in: Pearce, A Celebration, 1999:90).
39 Vgl. Aldrich, A Celebration, 91 und 92.
40 Einen Standard gesetzt hat hier Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M., 1999.
41 Ann Swinfen, In Defense of Fantasy. A Study of the Genre in English and American Literature since 1945, London, 1984:7.
42 Herbert W. Jardner, Imaginationen von der anderen Seite. J.R.R. Tolkiens mythographische Methode, Blogbeitrag, 4 Teile, Grüne Sonnen, 2022. Für die Terminologie vgl. auch Tolkien, Märchen, 170 sowie 219.

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