Montag, 6. März 2023

Túrin und Frodo


Tolkiens Theorie des Muts

Weh nun, waltende Gottheit, Unheil geschieht
Hildebrandslied

Tolkien hat seine Theorie des Muts,1 neben der Earendil-Saga, noch in zwei weiteren seiner großen Erzählungen behandelt:

  • in der Befreiung eines der Silmarilli aus Morgoths eisener Krone durch Beren und Lúthien;
  • in der Vernichtung des Einen Ring durch Frodo Beutlin, Samweis Gamdschie und Gollum in den Klüften des Oroduin.

Wie Tolkiens Protagonisten ihre Suche bewältigen,2 ist Inhalt langer Geschichten von Licht und Finsternis, Menschlichkeit und Mut. Die Botschaft, die Tolkien in diesen Erzählungen verkündet, wurde bereits angedeutet: die Verleugnung der Niederlage und das Wissen, dass auch der unwahrscheinlichste Bote seinen Auftrag ausführt. Beren, Frodo und Earendil sind solche Boten, unbeirrbar und beharrlich, Protagonisten des Mutes, heroische Persönlichkeiten, die der Glaube an einen unbeugsamen Willen auch noch im Angesicht eines möglichen Scheiterns auszeichnet.3 Dieser Mut, sagt Tolkien in seinem Beowulf-Vortrag von 1936, sei der große Beitrag der frühen nordischen Literatur. Die Stärke der nordischen Mythenbildung liege gerade darin, dass sie die Ungeheuer ins Zentrum ihrer Überlieferung rückt. Sie

überläßt ihnen den Sieg ohne Ehre und findet eine starke, doch furchtbare Lösung im nackten Mut und Willen.4

Sonntag, 15. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Fazit


Die Natur braucht uns nicht
aber wir brauchen die Natur.

Günter Eich

Die Beziehung des Waldläufers zu seiner natürlichen Umwelt ist durch seine psychiche Verbindung zu seinen beiden Vögeln charakterisiert, die der von Babus Verbindung mit Juhut ähnelt. Wie Juhut sind die beiden Aviar-Vögel Medium, das den Menschen an die Weisheit der Natur bindet. Was Babu noch lernen muss, seine Sazsla selbstbestimmt zu lenken und zu kontrollieren, damit er ihre Fähigkeiten zur Heilung der Welt nutzen kann, beherrscht Dusk von Beginn an.
Dusk steht einer anderen Herausforderung gegenüber als Babu. Seine beiden Aviar repräsentieren externalisierte, psychische Anteile, deren Voraussicht Dusk sich freiwillig untergeordnet hat. Er lässt sich von Kokerlii und Sak leiten, ohne gleichzeitig die Kontrolle an sie abzugeben. Was Babu als einengend und unfrei empfindet, von einem Vogel beeinflusst zu werden, nutzt Dusk als eine Stärke. Er kontrolliert die Vögel, die sich seinem Willen als Extension seines Bewusstseins unterordnen. Muss Babu die Verbindung mit seiner Szasla erst mühsam erwerben, besitzt Dusk seine beiden Aviar als eng mit seinem Bewusstsein verbundene Begleiter.
Auch mit den Sazlas kommt das ökologische Bewusstsein zurück in die bedrohte Welt. Sie erscheinen zur Rettung einer fast zerstörten Welt, während Dusks Aviar ihm nur das Überleben in der Natur ermöglichen; zu deren Rettung tragen sie nicht bei. Sie machen dem Menschen den Zustand seiner Welt nur insoweit bewusst, als sie auf Kommendes hinweisen. Sie sind beide Helfer bei der Bewältigung einer Krise und eröffnen eine neue Perspektive:

Donnerstag, 12. Januar 2023

A Storm Of Swords


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Storm Of Swords [ASOS], Vol.3: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung: Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Sturm der Schwerter, 2001 [LEF 3.1]
Die Königin der Drachen, 2002 [LEF 3.1]

Vorbemerkung

A Storm of Swords [ASOS] ist das dritte der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bücher publiziert sind. Der Publikation des dritten Bandes ging die Veröffentlichung der Erzählung Path of the Dragon (SF-Magazin Asimov´s Science Fiction, Dezember 2000; eine zweite Auflage in The Sword and Sorcery Anthology, David G. Hartwell und Jacob Weisman, Eds., San Francisco, 2012) voraus, die die Daenerys-Targaryen-Kapitel aus ASOS in einem eigenen Buch zusammengefasst erzählt.

A Clash Of Kings


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Clash Of Kings [ACOK], Vol.2: A Song Of Ice And Fire, 1998 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Der Thron der Sieben Königreiche, 2000 [LEF 2.1]
Die Saat des goldenen Löwen, 2000 [LEF 2.2]

Vorbemerkung

A Clash of Kings [ACOK] ist das zweite der sieben Bücher von Das Lied von Eis und Feuer, von denen bisher erst fünf Bände publiziert sind. CloK erhielt, wie schon das erste Buch von Das Lied von Eis und Feuer, mehrere Auszeichnungen und Nominierungen:

  • den Locus Award als bester Fantasyroman, 1999,
  • eine Nebula Award-Nominierung als bester Roman, 2000 und
  • den Ignotus Award als bester fremdsprachiger Roman, 2004.

Mittwoch, 11. Januar 2023

Die Kinder Húrins -Tolkien News 1


Often many earls must suffer misery through the will of one
Beowulf, 3077-3078
The Spear of Destiny sticking right through me
Nick Cave
Weh nun, waltende Gottheit, Unheil geschieht
Hildebrandslied

Eine Saga der Älteren Tage von J.R.R. Tolkien

1977 legte Christopher Tolkien postum die Kompilation Das Silamarillion vor, in dem er die Geschichten der Älteren Tage des Ersten Zeitalters seines Vaters neu auflegte.1
Die Sage von Túrin Turambar nimmt ihren Beginn im Anschluss an die Schlacht der Ungezählten Tränen. Der Prolog der Lays of the Children of Húrin streift die Niederlage von Maedhros Heer, berichtet von der Gefangennahme Húrins, von seiner Verschleppung nach Angband, seiner Standhaftigkeit sowie der Verfluchung seiner Familie durch Morgoth. Der Prolog beginnt mit den folgenden Versen:

Sieh! der gold´ne Drache des dunklen Gottes,
der Schatten der Wälder in der Welt, die schwand
der Kummer der Menschen, und die Klage der Elben
entweichte wohl sachte Waldwege entlang
nun ist zu erzählen, vom tränenreichen Namen,
von Níniel, der trauervollen und vom traurigsten Namen,
von Thalions Sohn Túrin vom Schicksal besiegt
.2

Montag, 9. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Drei


Air, Fire, Earth and Water
Balance of Change
World on the Scales

[...]
Whilst all around our mother earth
Waits balanced on the scales

King Crimson58

Ökonomie contra Ökologie - Bewahrung contra Fortschritt

Auf den letzten Seiten des ersten Bandes von Zwölf Wasser ist das Thema der Trilogie bereits skizziert. E.L. Greiff liefert in ihrem Roman eine Zivilisationskritik, die der Menschheit bewusst macht, dass sie ihre Welt zerstört. In ihrer Version dieser Katastrophe stehen der hilflos auf ihren Untergang zusteuernden Menschheit Vögel zur Seite, die in ihr Bewusstsein eingreifen, ihnen helfen, sich den Irrweg, auf dem sie sich befinden, bewusst zu machen. In Zeiten der Krise wählen die Szaslas ihren Szasran aus, einen, durch den Ethik der die Alte Zeit spricht.

In der Darstellung des Vogeltopos in Zwölf Wasser klingt das eigentlich ökologische Anliegen dieses Roman erst allmählich an. Die Welt der Zwölf Wasser ist eine bedrohte Welt, die der Heilung bedarf.59 Erst am Ende des zweiten Bandes der Trilogie stürzt Babu, der Held der Erzählung, in eine spirituelle Krise, verstrickt im Kampf mit seinen innerpsychischen Konflikten, der Versuchung des Guten durch das Böse. Auf den letzten Seiten lassen die Leser*innen Babu resigniert zurück. Er droht zu scheitern, für seine Welt fatal. Die Problematik des in King Crimsons Ballade thematisierten balance of change, world on the scales ist auch das Thema von B. Sandersons Zwei-Personen-Novelle, Sixth of the Dusk, die im Vergleich zu E.L. Greiffs Trilogie fast wie ein Kammerspiel anmutet.

Sonntag, 8. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Zwei


Waren fast vergessen,
hätten auch vergessen bleiben sollen.
Die sind kein gutes Zeichen.

E.L. Greiff

Psychic Birds

Die Frage, ob Tiere ein Bewusstsein haben, ist vermutlich so alt wie die Domestizierung des Wolfs durch den Menschen im Paläolithikum. Postmoderne Fantasy-Erzähler thematisieren diese Frage auf ihre Weise, indem sie die Beziehung ihrer Hauptfiguren zu Vögeln in den größeren Zusammenhang ihrer Beziehung zu ihrer natürlichen Umwelt und ihrem kulturellen Überzeugungssystem stellen.
Nicht die dreiäugige Krähe des Grünsehers in G.R.R. Martins Romanzyklus Das Lied von Eis und Feuer markiert den Übergang in der Verwendung der Corviden (Corvidae). Sie entwickeln sich bereits im Verlauf von seines Epos von einem Omenvogel zu einem Vogel, der eine innige Beziehung zu einem Menschen eingeht. Dabei ändert er nicht seine bisherige Funktion für den Menschen, er öffnet ihm vielmehr die Augen für sein eigentliches Potential. Doch trotz anfänglicher Ähnlichkeit erweitert Martin den Vogeltopos im Lied von Eis und Feuer erst allmählich, was mit der Rolle zusammenhängt, die Magie in seiner Erzählung spielt.

Samstag, 7. Januar 2023

A Game Of Thrones


Achtung Spoiler!

Ein kommentierter Überblick

George R.R. Martin
A Game Of Throne [AGOT], Vol.1: A Song Of Ice And Fire, 1996 [ASOIAF]
In der deutschen Übersetzung: Das Lied von Eis und Feuer [LEF] die beiden Halbbände:
Die Herren von Winterfell, 1997 [LEF 1.1]
Das Erbe von Winterfell, 1998 [LEF 1.2]

Vorbemerkung

A Games of Thrones [AGOT] ist die erste von voraussichtlich sieben Teilen des Epos A Song Of Ice And Fire (ASOIAF), von denen bisher nur die ersten fünf Bände publiziert sind. ASOIAF ist eine mehrbändige epische Saga der realistic fantasy, in der eine dem europäischen Mittelalter nachempfundene Welt mit Figuren bevölkert ist, ein Spiegel der alltäglichen Lebenswelt der Leser*innen. Ursprünglich erzählte der Autor, George R.R. Martin (GRRM), seinen mehrbändigen Roman in zwei aufeinanderfolgenden Trilogien, deren narrative Grenze er irgendwo zwischen den Bänden A Storm Of Swords und A Feast For Crows plante. Inzwischen scheint es so, als ob die ursprüngliche Konzeption im Prozess des Schreibens von innen gesprengt wurde. GRRM entwickelte die Erzählung während des Schreibens kontinuierlich weiter und es gab lange Zeit keine Garantie, welche Entwicklungen die Figuren und welche Wendungen die Ereignisse zukünftig nehmen werden. Dies hat sich mittlerweile durch die serielle HBO-TV-Produktion verändert, die die Erzählung abgeschlossen hat, bevor die beiden letzten Bände des Epos, The Winds Of Winter und A Dream Of Spring, auf die die Fangemeinde weiter warten muss, in Druck gegangen sind.

Donnerstag, 5. Januar 2023

Die Konstruktion sekundärer Welten


. . . looks like science fiction,
has the tastes of science fiction
– it IS science fiction!

Margaret Atwood, Other Worlds, 2010


Wenn etwas nach Fantasy aussieht und auch noch die charakteristische Gestalt besitzt, dann IST es Fantasy. Margaret Atwoods bestechend einfache Bemerkung bringt ein ganzes literarisches Genre auf den Punkt und überlässt die Bewertung der Imaginationsfähigkeit dem Rezipienten. Schon Fritz Leiber hat in seinem phantastischen Werk vorgeführt, dass der von Kritikern und Publizisten geführte Genre-Krieg bedeutungslos ist, indem er die drei Genre des Phantastischen, Science Fiction, Horror und Fantasy, virtuos miteinander kombinierte, sie überlagerte und zu einem Genre des Phantastischen verwob. Ohne sich von den aktuellen Genre-Mix verwirren zu lassen, bringt Margaret Atwood die seit Jahrzehnten geführte Diskussion auf einen überraschend einfachen Punkt: But surely all draw from the same deep well; those imagined other worlds located somewhere apart from our everyday one: in another time, in another dimension, through a doorway into a spirit world, or on the other side of the threshold that divides the known from the unkown. Science fiction, Speculative Fiction, Sword and Socery Fantasy, and Slipstreem Fiction; all of them might be placed under the same large „wonder tale“ umbrella.1

Mittwoch, 4. Januar 2023

Zeitreise, Blutmagie, Gestaltwandel


Literartur gibt der Philosphie einen Körper, der sie lebendig werden lässt.
J. Leonore Wright

The Anubis Gates – ein Klassiker des Steampunk

Flüchtig betrachtet, scheint es sich bei Tim Powers The Anubis Gates um eine Zeitreise-Erzählung zu handeln. Dem aufmerksamen Leser fällt aber schnell auf, dass er es nicht mit echter Science Fiction zu tun hat, wie das Zeitreise-Thema vermuten lässt. Besonders das Motiv des Portals, das Übergänge in Parallelwelten ermöglicht, ist eines der bevorzugten Motive der Fantasy-Literatur. Nun ist das viktorianische London nicht gerade eine Parallelwelt, dennoch spielt es in Tim Powers Erzählung diese Rolle.
The Anubis Gates ist ein Roman, der die Grenze zwischen historischer Fantasy und Religion überbrückt. Und ganz besonders kündet dieses Buch von der Komplexität und Vielfalt, die dieser Steampunk-Klassiker zwischen historischer Fantasy und historischer Überlieferung herstellt.

Eine kommentierte Synopsis

Dienstag, 3. Januar 2023

Omenvögel und Psychic Birds - Teil Eins


Phantasie ist alles.
Sie ist die Vorschau auf die
kommenden Ereigisse des Lebens
.
Albert Einstein

Gegenstand dieser Studie1 sind einige Vögel und deren Bedeutung für die Interaktion des Menschen mit der Umgebung, in der er lebt, die in Texten moderner Fantasy-Literatur eine besondere Bedeutung für die Erzählung besitzen. Entweder erfüllen sie eine bestimmte Funktion für den jeweiligen Plot oder sie gehen eine besonders intime Beziehung zu einer der Hauptfiguren ein. Bei der Durchsicht einiger Texte fallen zwei verschiedene Topoi auf:

  • Vögel überbringen Botschaften, sind vorausschauend und formulieren Prophezeiungen, die für die Protagonisten der Erzählung, die sich an einem Scheideweg befinden, meist von zentraler Bedeutung sind;
  • Vögel agieren als externalisierte, psychische Fähigkeiten des Protagonisten, repräsentieren ausgelagerte Ich-Funktionen, und bedienen sich innerpsychischer Prozesse als Medium ihrer Warnungen, Botschaften oder Prophezeiungen.

Night of Knives - A Novel of the Malazian Empire


Wer Steven Eriksons Serie des Malazian Book of the Fallen gelesen hat, erkennt das Setting wieder, wundert sich aber über die ganz andere Atmosphäre von Ian Cameron Esslemonts Version des malazanischen Empire. Als der Roman Die Gärten des Mondes [1] 1999 veröffentlicht wurde, war die Idee für den Entwurf des Imperiums von Malaz bereits siebzehn Jahre alt. Aus der Taufe gehoben wurde die Geschichte dieser fiktiven Welt als A Tale of the Malazian Book of the Fallen bereits 1982 als Gemeinschaftsarbeit von zwei kanadischen Autoren: Steven Erikson [2] und Ian Cameron Esslemont. [3] Gemeinsam arbeiten sie seitdem an der Realisierung dieser huge imaginary world, [4] die ihnen zu umfangreich erschien, um von einem Autor in einem Leben bewältigt zu werden. Den ersten Roman seiner Malaz-Serie, Die Gärten des Mondes, widmete Steven Erikson seinem Freund und Mit-Autor mit den Worten: Welten zu erobern, Welten zu teilen. [5] Als dann 2005 Esslemonts erster Malaz-Roman, Night of Knives erschien, [6] sechs Jahre nach der Veröffentlichung von Eriksons Garden of the Moon, schreibt dieser seinem Freund in die Einführung zu dessen Roman:

Montag, 2. Januar 2023

Kruppes Träume


Und wenn dieser Mann dich in deinen Träumen sieht,
[...] dann wird der Windhauch seines Vorbeiziehens
deine steifen Glieder bewegen als würdest du laufen
[...]1

Die Nacht war finster während ich wanderte,
mein Geist nicht gebunden an Erde oder Stein
[...]2

In einem Interview sagte Steven Erikson im Mai 2000 über seinen Protagonisten Kruppe,3 dass er mit dessen Charakter sein dirty work, subversive-wise abgeliefert habe. Funny how the most easily written work I`ve ever done turned out to be the most challenging for readers4. Auf die Frage, ob er Kruppe von Beginn an als Hauptprotagonist konzipiert hat, oder er erst im Verlauf des Schreibens dazu wurde, antwortet Erikson in einem anderen Interview:

Kruppe couldn't be anything but central, at least in his own mind. He`s great fun to write, because his game is with language. The opening scene where he encounters his vices and virtues did indeed come out of nowhere, but it certainly set the stage in my mind for how he was going to be from then on. [. . .] Kruppe became a kind of narrator / orator in a Greek play, always ready to comment on the goings on with a sly wink.5

Übergänge, Portale, Gewirre


Er reiste jetzt auf einem dieser Pfade, einem Strang aus Nichts,
umschlossen von den eigenen Zuwächsen des Gewirrs,
sich windend und beladen mit Unvereinbarkeiten.
Auf einem Pfad wünscht er sich vorwärts und stellte fest,
dass er sich rückwärts bewegte
.1
Steven Erikson

Vorbemerkung

Absicht dieser sehr speziellen Studie ist es, Ordnung und Verständnis in das "Gewirr" eines narrativen Motivs zu bringen, dass in der Fantasy schon immer gerne benutzt wurde: das Motiv des Portals in einem unkonventionellen Gewand. Im Auftakt der mehrbändigen Serie Das Spiel der Götter2 verwendet Steven Erikson das Motiv des Gewirrs als ein zentrales magisches System. In den Sturmlicht-Chroniken entwirft Brandon Sanderson eine vergleichbare Magie, die auf der Ur-Substanz Adonalsium basiert: die verschiedenen Arten des Peitschens und die Inkorporation von Sturmlicht. In der Serie um das Geheimnis von Ji verwendet Pierre Grimbert ein Magiesystem, das Energie aus dem eigenen Körper des Magiers oder aus Gegenständen der Umgebung bezieht. Die Gewirre, die Steven Erikson erdacht hat, funktionieren auf die gleiche Weise: Immer nutzt und manipuliert der Magier eine Quelle, die ihm die Energie für seine magischen Rituale und Praktiken liefert.3
Steven Erikson macht es seinen Leser*innen nicht unbedingt leicht den Charakter und die Bedeutung dieses Systems zu erkennen, da er die dazu notwendigen Informationen über den ganzen Roman verteilt. Er stellt dem Leser keinen homodiegetischen Protagonisten oder auktorialen Erzähler zur Seite, der einleitend und zeitnah rationale oder strukturierende Hilfen für seine Fantasy anbietet, sondern mutet dem Leser mysteriöse und komplizierte Prozesse und Ereignisse zu, wie sie das einführende Zitat vorwegnimmt. Leser*innen müssen sich selbst das Bild zu machen, das die Protagonisten nur allmählich und immer nur bruchstückhaft erleben. Mein Kommentar zu den Gärten des Mondes beabsichtigt, was die Gewirre betrifft, ein umfänglicheres Verständnis aus dem Roman heraus zu destillieren.

Freitag, 30. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Vier


Tolkien ist Mythograph, und gleichzeitig Linguist, Historiker, Geograph, Ethnologe und Theologe. Sein Werk verfolgt die Komposition und Konzeptionalisierung einer ganzen Kosmologie und Weltanschauung. Seine Texte nähern sich anthropologischen Studien und Monographien: Sie laden zu genauer Lektüre in literaturkritischer Absicht ein. Seine Erzählungen und Essays knüpfen an die kognitive, diskursive Ethnologie an, nach der Kultur im eigentlichen Sinne Sprache ist, über Sprache entsteht und sich über diese in die Zeit hinein entfaltet. Die Besonderheit von Tolkiens Vorgehen besteht in seiner Arbeitsweise: im ersten Schritt entwirft er einen artifiziellen Kosmos, den er in einem zweiten Schritt entdeckt und im dritten zu erforschen beginnt. Während des Forschens und Schreibens dehnte sich diese Welt aus, geriet ihrem Schöpfer zu einem nicht endenden Prozess, der nicht abgeschlossen wurde. Diese Auffassung hängt sehr eng mit Tolkiens Bekenntnis zum Katholizismus, mit seiner Art zu glauben, zusammen. In einem Gespräch mit Tolkien vertrat C.W. Lewis die These, Mythen seien durch Silber geblasene Lügen. Ich wiederhole diese Auffassung gerne, denn sie trifft ins Zentrum von Tolkiens Schaffen, der in seiner Erwiderung den Mythos rehabilitiert:

[...] obwohl sie den Irrtum enthalten, zugleich einen Funken des wahren Lichts spiegeln, der ewigen Wahrheit, die bei Gott ist. Ja, nur indem er [der Mensch] Mythen schafft, indem er »nach-schöpferisch« wird und Geschichten erfindet, kann der Mensch sich dem Stand der Vollkommenheit nähern, den er vor dem Sündenfall gekannt hat. Unsere Mythen mögen irregeleitet sein, aber sie steuern, wenn auch noch so unsicher, auf den rechten Hafen zu, während der materialistische »Fortschritt« nur in den gähnenden Abgrund und zur Eisenkrone des Bösen führt.115

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Drei


Der Versuch, Tolkiens fiktionale Mythologie zu entschlüsseln, ermöglicht dem Leser einen tieferen Einblick in die fiktive Mythologie und Geschichte der vier Zeitalter von Mittelerde. Sehr lohnend ist der Nachweis jener Quellen, denen Tolkien seine hauptsächlichen Inspirationen verdankt. Bei dieser Fahndung stößt man auf die mythologischen Fundamente der nordeuropäisch-germanischen Kultur, die dem deutschen Leser heute kaum noch bekannt sind. Dabei stehen poetische Werke wie die Edda, die Völsunga saga, die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, die isländische Sagaliteratur, das angelsächische Heldenepos Beowulf sowie die finnische Kalevala und das keltisch-walische Mabinogion im Vordergrund der Betrachtung. Die in diesen Dichtungen versammelten Götter- und Heldensagen, Spruchweisheiten und weltanschaulichen Konzepte, überliefern, von christlichem Einfluss nicht völlig unbeeinflusst, das autochthone, kulturelle Fundament des vorchristlichen Nord- und Mitteleuropas. Tolkiens besonderes Augenmerk galt dem nordeuropäischen Heldentopos, und dessen tragischen Verstrickungen, thematisiert in den Biographien seiner vier großen Heldengestalten, Beren, Túrin, Tuor und Aragorn, die er auf einer fiktiven Basis gestaltete.

Das Konzept der Silmaril


Die Silmaril [1] gab es in Tolkiens Legends of the Elder Days von Beginn an. Die Bedeutung, die sie für ihn allmählich annahmen, unterlag einer Entwicklung, die schließlich in der Earendil-Saga kulminierte; aber dies auch erst nach einem Jahrzehnte dauernden Ringen um narrative Dichte und philosophischen Hintergrund. [2] Erst als Tolkien die Stellung und Bedeutung der Silmaril in seiner Mythologie (Legendarium) für sich selbst überzeugend klären konnte, war die Zeit reif, die Earendil-Saga abzuschließen. Mit Ausnahme der Kompilation Das Silmarillion konnte Tolkien selbst den philosophisch-theologischen Hintergrund dieser Saga erst in The Annals of Aman oder The Later Quenta Silmarillion ausführen, und auch erst dann, als es ihm gelungen war, die Arbeiten am Konzept der Silmaril befriedigend abzuschließen. [3]

Dienstag, 27. Dezember 2022

Initiation und Individuation in postmoderner Fantasy


Richard Mayhew, der Protagonist in Neil Gaimans Roman Niemalsland, wird durch eine Begegnung mit dem Mädchen Door in eine ihm unvertraute Wirklichkeit gezogen, in der er sich verschiedenen Prüfungen stellen muss, deren Zweck seine psychische und soziale Entwicklung sowie die Heilung einer gefährdeten Welt ist. Erst durch diese unerwartete Begegnung dringt das Phantastische von außen in Richards Lebenswelt ein, und drängt ihn zu einer Reaktion, der er sich nicht entziehen kann, die er kurz zuvor nicht für möglich gehalten hätte.
In seinem London lebt Richard ein angepasstes, abhängiges und entfremdetes Leben, das von eng definierten Regeln und Konventionen bestimmt wird. Für Außergewöhnliches, erst recht für Magisches oder Phantastisches, gibt es in seinem Leben keinen Platz. Phlegmatisch und resigniert treibt er durch sein langweiliges Leben. Abgestumpft in seiner Wahrnehmung und in seinem Empfinden, verkümmert im Dschungel der Metropole seine Wahrnehmung für Spirituelles oder Übersinnliches, für Transliminales, fast völlig. Als er sich einem verletzten Mädchen, das auf dem Bürgersteig liegt, zuwendet, ahnt er, dass es mehr geben muss, als sein ereignisloses, sinnlos verlaufendes Leben. Unversehens gerät er in einen Strudel mythischer Ereignisse wie sie phantastischer nicht sein können. Er trifft auf machtvolle Personen mit magischen Kräften und Fähigkeiten, die es bisher in seinem Leben nicht gab, und die er sich lange weigert als Realität anzuerkennen, da er sie bis zuletzt nicht wirklich verstehen und kontrollieren kann. In Niemalsland existiert das Phantastische potentiell als Möglichkeit für den, der sich ihm öffnet - the magic hovers in the corner of the eye - ist nur einen Schritt weit entfernt, schaut man nur richtig hin.

 


Donnerstag, 22. Dezember 2022

Imaginationen einer Anderen Welt, Teil Zwei


Die aufwendige Verfilmung von Der Herrn der Ringe, rückt das Werk von John Ronald Reuel Tolkiens erneut in das Bewusstsein und Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dass Tolkiens erzählerisches Werk aber weitaus mehr darstellt, als seine beiden erfolgreichen Romane, Der Hobbit und Der Herr der Ringe, bleibt, wie so oft, unberücksichtigt. Beide Bücher lassen zwar die Vielfalt tolkien`schens Erfindungsreichtums ahnen, doch sie befriedigen die Neugier und Wissensdurst des Lesers keineswegs. Geschickt bedient sich Tolkien der Kunst der vagen Andeutung, was Plot und Spannungsbogen seiner Erzählweise nutzt, dem Leser aber vieles vorenthält. Es lässt sich trefflich streiten, ob die Enthüllung des narrativen Hintergrunds den beiden Romanen schadet, oder ob es nicht lohnender für deren Verständnis ist, den ganzen Tolkien zu entdecken. Es gibt mindestens zwei Gründe, den Umfang und die Dichte der tolkien`schen Erzählungen auszuloten

  • Der Roman Der Herr der Ringe ist Bestandteil und Höhepunkt einer komplexen fiktiven Mythologie, die sich auf einem mythistorischen Hintergrund entfaltet, der 1918 mit den Erzählungen der Verschollenen Geschichten begann. Tolkien hat seinen Roman als einen integralen Bestandteil einer Mythologie verfasst, deren Umfang erst 1977 deutlich wurde, Jahrzehnte nach seiner ersten Veröffentlichung, und auch erst nachdem sein Sohn Christopher Das Silmarillion aus den Verschollenen Geschichten löste, kompilierte und postum publizierte.
  • Eine kommentierende Übersicht über das narrative Werk von J.R.R. Tolkien ist in Deutschland inzwischen überfällig, insbesondere da die umfangreiche wissenschaftliche Sekundärliteratur den deutschsprachigen Lesern Tolkien nicht leicht zugänglich ist.

Montag, 19. Dezember 2022

Im Inneren der Sprache


Die verschiedenen Bände der History of Middle-Earth, in denen sich die Mythologie der Quenta Silmarillion allmählich entwickelte, belegen, dass J.R.R. Tolkien die Gestalt des Earendil lebenslang beschäftigte. Die vielen verwirrenden Versionen und von einander abweichenden Details erläutern meine Studien über die Earendil-Saga. Das Verständnis einer mysteriösen, mit mannigfaltigen Spekulationen behafteten Persönlichkeit wie Earendil, seine Herkunft, in Mythos und wissenschaftlichem Diskurs, und insbesondere die Faszination und Wahrnehmung dieser mythischen Persönlichkeit durch Tolkien selbst; eine imaginative Begegnung fast mystischen Charakters, die in der Tiefen der Sprache wurzelt, in der Earendil in Erscheinung tritt.